Urteil des LG Mönchengladbach vom 14.12.2005

LG Mönchengladbach: einstellung des verfahrens, stationäre behandlung, ärztliche behandlung, zwangsversteigerung, zwangsvollstreckung, gefahr, gesundheitszustand, behandlungsbedürftigkeit, klinik

Landgericht Mönchengladbach, 5 T 112/05
Datum:
14.12.2005
Gericht:
Landgericht Mönchengladbach
Spruchkörper:
5. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 T 112/05
Schlagworte:
Zwangsversteigerung, Suizidgefahr, Auflagen
Normen:
ZPO § 765a, Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 14 Abs. 1 GG
Leitsätze:
1. Bei der im Rahmen von § 765a ZPO vorzunehmenden Würdigung
aller Um-stände kann in ganz besonders gelagerten Einzelfällen die
Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und in absoluten
Ausnahmefällen auf unbestimm-te Zeit eingestellt werden. Im
vorliegenden Fall ist die Zwangsversteigerung wegen Suizidgefahr auf
die Dauer von 2 Jahren eingestellt worden.
2. Von einem Schuldner, der im Fall der Zwangsversteigerung
suizidgefährdet ist, kann bei einer Einstellung in Form einer Auflage
verlangt werden, dass er fach-liche Hilfe –gegebenenfalls auch durch
einen stationären Aufenthalt in einer Klinik in Anspruch nimmt, um die
Suizidgefahr auszuschließen oder zu ver-ringern.
3. Zur Wahrung der Interessen der Gläubiger kann von dem Schuldner
außerdem verlangt werden, dass er in regelmäßigen Abständen von 6
Monaten Nachweise durch fachärztliche Bescheinigungen über seine
Behandlungsbedürftigkeit beibringt
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird abgeändert.
Das Zwangsversteigerungsverfahren wird bis zum 13. Dezember 2007
einstweilen eingestellt.
Die einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens hängt
davon ab, dass der Schuldner sich weiterhin regelmäßig in fachärztliche
Behandlung begibt.
Der Schuldner hat den Fortbestand des Einstellungsgrundes zum 31.
Mai 2006, 30. November 2006 und 31. Mai 2007 durch Vorlage einer
fachärztlichen Bescheinigung, die die weitere Behandlungsbedürftigkeit
wegen Suizidgefahr attestiert, gegenüber dem Amtsgericht Grevenbroich
nachzuweisen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Schuldner.
Beschwerdewert: 25.625,00 €
I.
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Das Amtsgericht ordnete auf Antrag der Beteiligten zu 2. am 22. Mai 2002 die
Zwangsversteigerung des vorbezeichneten Grundbesitzes des Schuldners an. Nach
Einholung zweier Sachverständigengutachten setzte das Amtsgericht den Verkehrswert
mit 217.500,00 € fest und bestimmte Versteigerungstermin auf den 14. Juli 2004. Am 6.
Juli 2004 stellte der Schuldner unter Vorlage eines Attests einen
Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO mit der Begründung, die Fortsetzung des
Zwangsversteigerungsverfahrens führe zu einer lebensbedrohlichen
Gesundheitsgefährdung. Das Amtsgericht wies den Antrag durch Beschluss vom 9. Juli
2004 zurück und führte aus, dass sich dem Attest nicht entnehmen lasse, woraus sich
ein lebensbedrohlicher Gesundheitszustand ergebe. Im Versteigerungstermin vom 14.
Juli 2004 stellte der Schuldner erneut einen Vollstreckungsschutzantrag gemäß § 765a
ZPO unter Vorlage eines fachärztlichen Attestes mit der Begründung, die drohende
Zwangsversteigerung des Hauses führe zu einer lebensbedrohlichen Dekompensation
des Gesundheitszustandes des Schuldners. Das Amtsgericht stellte das Verfahren
daraufhin zunächst durch Beschluss vom 14. Juli 2004 für die Dauer von 3 Monaten
einstweilen ein. Den sofortigen Beschwerden der Beteiligten zu 2. und 3. half das
Amtsgericht durch Beschluss vom 11. August 2004 teilweise ab und stellte das
Verfahren für die Dauer von 6 Wochen mit der Maßgabe, dass die Fortsetzung erfolgt,
falls innerhalb der Frist kein aktuelles Attest vorgelegt wird, einstweilen ein. Mit
Beschluss vom 20. September 2004 ordnete das Amtsgericht die Fortsetzung der
Zwangsversteigerung an, da der Schuldner nicht erneut ein Attest vorgelegt hatte. Unter
dem 12. Oktober 2004 stellte der Schuldner erneut einen Vollstreckungsschutzantrag
gemäß § 765a ZPO mit der Begründung, sein Gesundheitszustand habe sich
verschlechtert. Hierzu legte er eine ärztliche Bescheinigung vor, die ihm eine schwere
depressive Episode mit akuter Suizidgefahr attestierte und eine Arbeitsunfähigkeit bis
zum 22. Dezember 2004 bescheinigte.
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Mit dem angefochtenen Beschluss vom 4. Februar 2005 hat das Amtsgericht den
Vollstreckungsschutzantrag zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, dass lediglich eine
Erkrankung bis zum 22. Dezember 2004 bescheinigt und ein neues Attest trotz
mehrfacher Aufforderung nicht vorgelegt worden sei. Hiergegen richtet sich die sofortige
Beschwerde des Schuldners. Zur Begründung der Beschwerde hat er ein Attest
vorgelegt mit der Diagnose: Schwere depressive Episode mit latenter Suizidalität bei
außerordentlicher psycho-sozialer Belastungs- und Konfliktsituation.
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Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache der
Kammer zur Entscheidung vorgelegt.
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Die Kammer hat gemäß Beweisbeschluss vom 30. März 2005 (Bl. 398/399 der Akte)
über den Gesundheitszustand des Schuldners Beweis erhoben durch Einholung eines
schriftlichen Sachverständigengutachtens sowie durch ergänzende Anhörung des
Sachverständigen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug
genommen auf das neurologisch-psychiatrische Fachgutachten des Sachverständigen
Dr. B. (Bl. 410 bis 474 d.A.) sowie auf das Sitzungsprotokoll vom
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8. November 2005 (Bl. 491 d.A.).
6
II.
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Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg und führt zur vorläufigen
Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens für die Dauer von 2 Jahren unter
gleichzeitiger Anordnung von Auflagen (§ 765a ZPO).
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Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen
Vollstreckungsmaßnahmen, die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den
Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Anzuwenden ist §
765a ZPO nur dann, wenn im Einzelfall die Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach
Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis führen würde
(BGH, Beschluss vom 4. Mai 2005 – I ZP 10/05, DGVZ 2005, 105; BGH, Beschluss vom
25. Juni 2004 – IXa ZB 267/03, Juris Nr. KORE313902004). Eine sittenwidrige Härte im
Sinne des § 765a ZPO kann im Einzelfall bereits in der Anordnung der
Zwangsversteigerung zu sehen sein und nicht erst in der Erteilung des Zuschlags oder
gar der Räumung (OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2001 – 15 W 66/01, Rpfleger
2001, 508).
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 27. Juni
2005 – 1 BvR 224/05; Beschluss vom 16. August 2001 – 1 BvR 1002/01, Juris Nr.
KVRE302800101) und des Bundesgerichtshofs (a.a.O.) verpflichtet das Grundrecht aus
Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der
Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes
und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu
berücksichtigen. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung
entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden
Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die
Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der
trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht
des Schuldners aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Die demgemäß
vorzunehmende Würdigung aller Umstände kann in ganz besonders gelagerten
Einzelfällen auch dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und –
in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.
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Selbst dann, wenn mit einer Zwangsvollstreckung eine konkrete Gefahr für Leben und
Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist, kann aber
eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung nicht ohne Weiteres einstweilen eingestellt
werden. Erforderlich ist stets die Abwägung der – in solchen Fällen ganz besonders
gewichtigen – Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des
Gläubigers. Bei dieser Interessenabwägung kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass
sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Unterbleibt die
Zwangsversteigerung wegen der Annahme einer Suizidgefahr, die auch bei sorgfältiger
fachlicher Prüfung nur auf der Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten beruhen kann, wird
in das durch Artikel 14 Abs. 1 GG geschützte Befriedigungsrecht des Gläubigers
eingegriffen. Die Aufgabe des Staates, dieses Recht zu wahren, umfasst die Pflicht,
ordnungsgemäß titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem
Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen. Der Gläubiger hat gemäß Artikel 19 Abs. 4 GG
einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf tatsächlich wirksamen Rechtsschutz
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hinsichtlich der Befriedigung seiner Ansprüche in der Zwangsvollstreckung. Dem
Gläubiger dürfen nicht die Aufgaben überbürdet werden, die aufgrund des
Sozialstaatsprinzips dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen.
Es ist deshalb auch dann, wenn bei der Fortsetzung der Zwangsversteigerung eine
konkrete Suizidgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser
Gefahr nicht auch auf andere Weise als der Einstellung der Zwangsvollstreckung
wirksam begegnet werden kann. Mögliche Maßnahmen betreffen die Art und Weise, wie
die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird, aber auch die in Gewahrsamnahme des
Suizidgefährdeten nach polizeilichen Vorschriften oder dessen Unterbringung (vgl. §§
10 ff. PsychKG NW). Nicht zuletzt ist aber auch der Gefährdete selbst gehalten, das ihm
Zumutbare zu tun, um die Risiken, die für ihn im Fall der Vollstreckung bestehen, zu
verringern. Einem Schuldner, der im Fall der Zwangsvollstreckung suizidgefährdet ist,
kann dementsprechend, wenn er dazu in der Lage ist, zugemutet werden, fachliche Hilfe
– gegebenenfalls auch durch einen stationären Aufenthalt in einer Klinik – in Anspruch
zu nehmen, um die Selbsttötungsgefahr auszuschließen oder zu verringern.
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Die Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Schuldners aus. Die Kammer
ist aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens davon überzeugt, dass bei
Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens eine konkrete Gefahr für das Leben
und die Gesundheit des Schuldners besteht, der nur durch die – zeitlich begrenzte –
einstweilige Einstellung des Verfahrens entgegnet werden kann. Der Sachverständige
Dr.B. führt in seinem Gutachten aus, dass bei Fortsetzung des Verfahrens tatsächlich
Suizidgefahr bei dem Schuldner bestehe und die Suizidgefahr hoch einzuschätzen sei.
Durch eine ärztliche, gegebenenfalls stationäre Behandlung könne die Suizidgefahr bei
dem Schuldner nicht ausgeschlossen werden. Mit einer Besserung des
Krankheitsbildes sei in ca. 3 Jahren zu rechnen. Die Interessen der Beteiligten zu 2. und
3. stehen der Einstellung des Verfahrens nicht entgegen. Denn der Suizidgefahr des
Schuldners kann nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. durch eine
stationäre Behandlung nicht begegnet werden. Diese Einschätzung des
Sachverständigen wird dadurch belegt, dass beim Schuldner nach der stationären
Behandlung in der Schussental-Klinik, in die er sich in der Zeit vom 28. Oktober 2004
bis zum 18. Februar 2005 freiwillig begeben hatte, noch Suizidgefahr bestand. Die
Voraussetzungen einer zwangsweisen Unterbringung nach den §§ 10 ff. PsychKG
liegen nach den Ausführungen des Sachverständigen mangels akuter Suizidalität
jedenfalls bei vorhandener guter ärztlicher und psychotherapeutischer
Bindungsfähigkeit nicht vor. Der Schuldner ist auch in ausreichendem Maße seinen
Mitwirkungspflichten nachgekommen. Er befindet sich seit dem 5.Juli 2004 in
ambulanter und stationärer fachärztlicher Behandlung. Bei seiner persönlicher
Anhörung in der Sitzung vom 8. November 2005 hat er erklärt, dass er sich derzeit in
regelmäßiger fachärztlicher Behandlung befinde und gegebenenfalls in naher Zukunft
eine weitere stationäre Behandlung angedacht sei. Damit hat der Schuldner alles ihm
Zumutbare getan, um die Risiken, die für ihn im Fall der Versteigerung entstehen, zu
verringern.
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Zur Wahrung der Interessen der Gläubiger hat die Kammer die Einstellung der
Zwangsversteigerung davon abhängig gemacht, dass der Schuldner die fachärztliche
Behandlung fortsetzt und über die Behandlungsbedürftigkeit wegen Suizidgefahr in
regelmäßigen Abständen von 6 Monaten Nachweise durch fachärztliche
Bescheinigungen beibringt. Die Auflage, die ärztliche Behandlung fortzusetzen, steht
nicht im Widerspruch zu den Ausführungen des Sachverständigen in seinem
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schriftlichen Gutachten, wonach eine ärztliche, gegebenenfalls stationäre Behandlung,
eine Suizidgefahr nicht ausschließen könne. Denn der Sachverständige hat im Rahmen
seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme in der Sitzung vom 8. November
2005 ausgeführt, dass eine ärztliche Behandlung das Selbsttötungsrisiko jedenfalls
erheblich verringern könne. Für den Fall, dass der Schuldner die ihm erteilten Auflagen
nicht erfüllt, haben die Gläubiger die Möglichkeit, die Fortsetzung der
Zwangsversteigerung wegen Wegfalls des Einstellungsgrunds zu beantragen (§ 765a
Abs. 4 ZPO). Die einstweilige Einstellung der Zwangsversteigerung für einen Zeitraum
von 2 Jahre beruht darauf, dass nach dem Ablauf dieser Zeit nach den Ausführungen
des Sachverständigen im Sitzungstermin vom 8. November 2005 mit einer erheblichen
Besserung des Krankheitsbildes beim Schuldner gerechnet werden kann.
Die Kammer hat davon abgesehen, die einstweilige Einstellung des Verfahrens von
weiteren Auflagen, insbesondere der Zahlung einer monatlichen
Nutzungsentschädigung abhängig zu machen. Der Schuldner hat aufgrund seiner
finanziellen Verhältnisse, die er im Prozesskostenhilfeverfahren offengelegt hat, nicht
die Möglichkeit, nennenswerte Geldbeträge an die Beteiligten zu 2. und 3. zu leisten.
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 788 Abs. 1 ZPO. Der Schuldner hat trotz des
Erfolgs seines Vollstreckungsschutzantrages im Beschwerdeverfahren die Kosten des
Verfahrens beider Instanzen nach dieser Vorschrift als Zwangsvollstreckungskosten zu
tragen (Zöller/Stöber, ZPO, 23. Aufl., § 788 Rn.27; OLG Düsseldorf NJW-RR 1996, 637).
Besondere, im Verhalten der Beteiligten zu 2. und 3. liegende Gründe, die aus
Billigkeitserwägungen eine Kostenabwälzung auf die Gläubiger gemäß
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§ 788 Abs. 4 ZPO erforderten, sind nicht gegeben. Die Gründe, die für eine einstweilige
Einstellung des Verfahrens sprechen, liegen außerhalb der Sphäre der Beteiligten zu 2.
und 3. und rechtfertigen daher keine Abweichung vom Grundsatz der Kostentragung
durch den Schuldner gemäß § 788 Abs. 1 ZPO.
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Die Festsetzung des Beschwerdewerts ergibt sich aus § 3 ZPO. Die Kammer hält es für
angemessen, 1/10 des Verkehrswerts der Grundstücke (217.500,00 €), mithin 21.750,00
€ in Ansatz zu bringen.
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Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 574 ZPO
nicht vorliegen.
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