Urteil des LG Konstanz vom 14.01.2002

LG Konstanz: in dubio pro reo, recht auf leben, innere medizin, körperliche unversehrtheit, zustand, anklageschrift, therapie, gesundheit, oberarzt, hiv

LG Konstanz Beschluß vom 14.1.2002, 3 KLs 25/01 - 33 Js 17730/00
Eröffnungsverfahren in Strafsachen: Prüfung der Verhandlungsfähigkeit eines HIV-Infizierten
Tenor
In der Strafsache gegen
1. ... F. ...
2. ... B. ...
wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 19.09.2001, soweit diese den Angeschuldigten B. betrifft, zugelassen.
Insoweit wird das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht - Strafrichter - Donaueschingen eröffnet.
Soweit die Anklage den Mitangeschuldigten F. betrifft, wird die Eröffnung des Hauptverfahrens aus Rechtsgründen abgelehnt.
Im Umfang der Ablehnung trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens. Es wird davon abgesehen, die insoweit entstandenen notwendigen
Auslagen des Mitangeschuldigten F. der Staatskasse aufzuerlegen.
Gründe
1
... F. werden in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 19.09.2001 zahlreiche Betrugstaten, die zum Teil im Stadium des
Versuches stecken geblieben sind, Urkundenfälschung, Anstiftung zur falschen uneidlichen Aussage, Körperverletzung mittels einer das Leben
gefährdenden Behandlung in sieben Fällen sowie falsche Versicherung an Eides statt vorgeworfen.
2
Er ist dieser Taten aufgrund der in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel hinreichend verdächtig.
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Es liegt jedoch das Verfahrenshindernis der Verhandlungsunfähigkeit vor.
4
Nach dem von der Kammer eingeholten Sachverständigengutachten des leitenden Arztes der Abteilung für Innere Medizin des
Justizvollzugskrankenhauses H. Dr. L. und seines Oberarztes Dr. L. vom 05.12.2001 befindet sich F. seit dem 01.10.2001 auf der Station Innere I
des Justizvollzugskrankenhauses H. Die bei ihm seit 1993 bekannte HIV-Infektion muss mit mehreren Medikamenten behandelt werden. Die
Verabreichung weiterer Medikamente erfolgt, damit auf dem Boden einer bestehenden Immunschwäche weitere Infektionen verhindert werden
sollen. Eine dritte Medikamentengruppe dient der symptomatischen Behandlung insbesondere von Schmerzen und Schlafstörungen. Die
Versorgung mit Medikamenten und notwendigen Hilfsmitteln ist derzeit gewährleistet. Dennoch liegt ein erheblich reduzierter Allgemeinzustand
vor. Das Körpergewicht des ... F., das bei Aufnahme in das Justizvollzugskrankenhaus H. noch 63 Kilogramm betragen hatte, betrug am
02.12.2001 noch 53,6 Kilogramm. Inzwischen ist nach einer telefonisch eingeholten Auskunft des Vorsitzenden beim Oberarzt Dr. L. das Gewicht
(Stand 10.01.2002) auf unter 50 Kilogramm abgesunken. Die nach dem Gutachten vom 05.12.2001 versuchte Therapie zur Steigerung des
Körpergewichtes hat mithin nicht angeschlagen.
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Nach dem Gutachten besteht Haftfähigkeit nur im Vollzugskrankenhaus H. Wegen des erheblich reduzierten Kräftezustandes des
Angeschuldigten ist aber auch die Verhandlungsfähigkeit zeitlich stark eingeschränkt. Nach dem Gutachten darf die tägliche Verhandlungsdauer
eine Stunde nicht überschreiten. Nach jedem Sitzungstag ist zumindest ein verhandlungsfreier Tag einzuhalten. ... F. kann innerhalb von
Gebäuden nur mittels Sitzwagen andere Räumlichkeiten erreichen. Er ist dabei auf personelle Hilfe angewiesen.
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Eine telefonische Anfrage des Vorsitzenden beim Oberarzt Dr. L. am 10.01.2002 hat ergeben, dass der Zustand des ... F. sich weiter
verschlechtert hat. Es ist nicht nur eine weitere Reduzierung des Gewichtes eingetreten, vielmehr ist ... F. so schwach, dass er die meiste Zeit
liegen muss. Auch seine Fähigkeit, an einer Verhandlung mit der notwendigen Konzentration und Aufnahmefähigkeit teilzunehmen, habe weiter
nachgelassen.
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Dauernde Verhandlungsfähigkeit stellt im Strafverfahren ein Prozesshindernis dar. Dies wird aus §§ 413 ff. StPO (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1998,
395, 396 mit Nachweisen) gefolgert. Der Verhandlungsunfähigkeit wird dabei ein Zustand gleichgestellt, bei welchem aufgrund ärztlicher Prüfung
feststeht, dass der Angeschuldigte jeweils nur für sehr kurze Zeitspannen verhandlungsfähig ist, die eine einigermaßen konzentrierte
Durchführung der Hauptverhandlung praktisch unmöglich machen (OLG Karlsruhe NJW 1978, 601, 602). Wegen der verfassungsrechtlichen
Verpflichtung des Staates, eine wirksame Rechtspflege zu gewährleisten (BVerfG NJW 2002, 51, 52), ist allerdings ein strenger Maßstab
hinsichtlich der Feststellung der Verhandlungsunfähigkeit oder eines ihr gleichzusetzenden Zustandes anzulegen. Letztlich ist nach Maßgabe
des Verhältnismäßigkeitsprinzips zwischen dem staatlichen Strafanspruch und den Grundrechten des Angeschuldigten, insbesondere seinem
Recht auf Leben und Gesundheit, abzuwägen (BVerfG a. a. O.). Ob der Angeschuldigte verhandlungsunfähig ist, ist dabei im Wege des
Freibeweises zu prüfen, wobei der Grundsatz "in dubio pro reo" bei Zweifeln an der Verhandlungsfähigkeit nicht für den Angeschuldigten streitet
(BGH NStZ 1984, 181 mit Nachweisen).
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist der angestrebte Hauptverhandlungstermin. Zu diesem muss davon ausgegangen werden können,
dass der Angeschuldigte sich noch in einem solchen Zustand geistiger Klarheit und Freiheit befindet, dass mit ihm verhandelt werden, er mithin
der Verhandlung folgen und selbst seine Interessen wahrnehmen kann (OLG Karlsruhe a. a. O. Seite 601 mit Nachweisen). Ist - wie im
vorliegenden Verfahren - von einer Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum auszugehen, so kann allerdings die Frage der
Verhandlungsfähigkeit nicht isoliert auf deren Beginn bezogen werden. Vielmehr darf bei einem Verfahren, das sich angesichts der
eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten über einen längeren Zeitraum hinziehen wird, der Zeitfaktor nicht außer Betracht
bleiben (OLG Karlsruhe a. a. O. Seite 602). Besteht danach eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich bei einer bereits bestehenden Erkrankung
zu einer späteren Phase das Befinden und der Zustand des Angeschuldigten weiter verschlechtern, die Zeiträume für Verhandlungen weiter
reduzieren und die Möglichkeit auch verhandlungsbedingter schwerwiegender gesundheitlicher Schädigungen des Angeschuldigten erhöhen,
muss die Verhandlungsfähigkeit verneint werden (OLG Karlsruhe a. a. O.).
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Nach dem vorliegenden Gutachten und der seither eingetretenen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des Angeschuldigten ist eine
Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation praktisch auszuschließen. Vielmehr ist von einem Krankheitsverlauf auszugehen, der von einer
fortlaufenden, einer Therapie nicht mehr zugänglichen Verschlechterung gekennzeichnet ist. Dafür spricht sowohl die von den behandelnden
Ärzten prognostizierte Lebenserwartung von knapp einem Jahr, sein ständiger Gewichtsverlust und der damit einhergehende reduzierte
Allgemeinzustand sowie die mit der Erkrankung einhergehende Immunschwäche, die für den Angeschuldigten jede Infektion, die für einen
Gesunden relativ ungefährlich ist, zu einem erheblichen Lebensrisiko macht. Insoweit stellt jede Verhandlung, in welcher notwendigerweise
zahlreiche andere Personen anwesend sind, eine zusätzliche Gefährdung für die Gesundheit des Angeschuldigten dar. Auch durch die ständige
Anwesenheit eines Arztes in der Hauptverhandlung und selbst dann, wenn die Kammer die Hauptverhandlung in einem beim
Justizvollzugskrankenhaus H. ortsnah gelegenen Gericht durchführen würde, kann nicht gewährleistet werden, dass dieses sehr umfangreiche
Verfahren gegen den Angeschuldigten noch abgeschlossen werden kann. In einer Fallkonstellation wie der vorliegenden muss deshalb der
staatliche Strafanspruch nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinter dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
des Angeschuldigten zurücktreten.
10 Für das danach verbleibende Verfahren gegen ... B., der der ihm in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 19.09.2001
vorgeworfenen Straftaten hinreichend verdächtig ist, ist das Amtsgericht Donaueschingen zuständig.
11 Sowohl der Tatbestand des § 153 StGB als auch derjenige des § 263 Abs. 1 StGB sehen jeweils Höchststrafen von 5 Jahren vor. Die
Mindestfreiheitsstrafe bei § 153 StGB liegt bei drei Monaten Freiheitsstrafe. Bei der für ... B. im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe ist
zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er bislang nicht vorbestraft ist und die ihm vorgeworfenen Taten inzwischen eingeräumt hat. Eine
Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren ist demnach nicht zu erwarten. In einem solchen Falle ist aber gemäß §§ 1 und 7 StPO in Verbindung
mit § 25 Nr. 2 GVG das Amtsgericht - Strafrichter - Donaueschingen zur Verhandlung und Entscheidung berufen. Eine mögliche Zuständigkeit der
dritten Großen Strafkammer des Landgerichts Konstanz im Hinblick auf den den Angeschuldigten ... B. betreffenden Sachverhalt gemäß § 2 Abs.
1 StPO ist mit der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ... F. entfallen.
12 Die Kosten- und Auslagenentscheidung bezüglich des Angeschuldigten ... F. beruht auf § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO. Danach kann das Gericht davon
absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er - wie vorliegend - wegen Straftaten nur
deshalb nicht verurteilt worden ist, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Angesichts des nach Aktenlage bestehenden hinreichenden
Tatverdachtes gegen ... F. konnte - verfassungsrechtlich unbedenklich - von einer Auslagenerstattung abgesehen werden (vgl.
Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45. Auflage 2001 § 467 Randnummer 16 mit Nachweisen).