Urteil des LG Köln vom 15.01.2004

LG Köln: pflegebedürftigkeit, aufstehen, intimsphäre, toilette, vollstreckung, krankenversicherung, pflegepersonal, unfall, anzeichen, gefahr

Landgericht Köln, 8 O 48/03
Datum:
15.01.2004
Gericht:
Landgericht Köln
Spruchkörper:
8. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 O 48/03
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung
durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte
vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T A T B E S T A N D:
1
Die Klägerin verlangt aus übergegangenem Recht nach § 116 Abs. 1 SGB X von der
Beklagten Schadensersatz für einen Sturz der bei ihr krankenversicherten Frau X am
10.5.2002 in dem von der Beklagten betriebenen Altenzentrum Haus W2, in dem die
pflegebedürftige Versicherungsnehmerin lebt. Zum Umfang der Pflegebedürftigkeit wird
im Einzelnen auf das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nordrhein vom 23.3.2001 (Bl. 14
bis Bl. 20 GA) verwiesen. Nach der Tabelle zur Pflegebedürftigkeit unter Punkt 5.1 (Bl.
17 GA) bedarf die Versicherungsnehmerin der Unterstützung, Teilübernahme und
Beaufsichtigung beim Wasserlassen und Stuhlgang.
2
Der Schadenshergang ist unstreitig: Die Versicherungsnehmerin wurde am 10.5.2002
von einer Pflegekraft auf die Toilette gesetzt. Die Pflegekraft entfernte sich daraufhin,
verblieb jedoch in der Nähe der Nasszelle in etwa 5 Meter Entfernung bei offener Türe.
Beim Aufstehen ohne Hilfestellung stürzte die Versicherungsnehmerin.
3
Die Klägerin behauptet, dass sie bedingt durch den Sturz Sozialleistungen in Höhe von
5.509,12 EUR habe erbringen müssen. Sie ist der Ansicht, dass die Pflegekraft durch
das oben beschriebene Vorgehen ihren Pflichten nicht nachgekommen sei, indem sie
sich aus der Nasszelle entfernt und die Versicherungsnehmerin für kurze Zeit
unbeaufsichtigt gelassen habe.
4
Die Klägerin beantragt,
5
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.509,12 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit - dem
15.2.2003 - zu zahlen.
6
Die Beklagte beantragt,
7
die Klage abzuweisen.
8
Sie behauptet - was die Klägerin mit Nichtwissen bestreitet -, dass die
Versicherungsnehmerin am Unfalltag entgegen ihren üblichen Gewohnheiten alleine
von der Toilette aufgestanden sie, was sie zuvor noch nie gemacht habe. Vielmehr habe
sie sonst nach Beendigung des Toilettengangs stets geklingelt. Sie sei auch regelmäßig
darauf hingewiesen worden zu klingeln.
9
Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 16.10.2003 durch die
Vernehmung des Zeugen W. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird
auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9.12.2003 (Bl. 146 bis Bl. 147 GA)
verwiesen.
10
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf das schriftsätzliche Vorbringen der
Parteien und ihre zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen.
11
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E:
12
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
13
Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch unter keinem rechtlichen
Gesichtspunkt - insbesondere nicht gemäß §§ 611, 328 BGB i.V.m. § 116 Abs. 1 SGB X
- zu, da eine Pflichtverletzung der Pflegekraft, die der Beklagten zuzurechnen wäre,
nicht festzustellen ist.
14
Hinsichtlich der grundsätzlich bestehenden Pflichten des Pflegepersonals beim
Toilettengang von Pflegebedürftigen schließt sich das Gericht den überzeugenden
Ausführungen des OLG Hamm auf Seite 3 seines Urteils vom 30.2.2002, Az. 24 U 87/01
(Bl. 78 ff., insb. Bl. 80 GA) an. Danach ist davon auszugehen, dass grundsätzlich keine
sofortige Zugriffsmöglichkeit auf den Pflegebedürftigen bestehen, sondern vielmehr die
Intimsphäre so weit wie möglich respektiert werden muss. Das Maß der erforderlichen
Beaufsichtigung muss sich an der konkreten Hilfsbedürftigkeit orientieren, so dass für
eine ständige Zugriffsbereitschaft ein konkreter Grund erforderlich ist.
15
Ein solcher konkreter Grund ergibt sich nach Ansicht des Gerichts nicht schon aus dem
Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nordrhein vom
23.3.2001. Insoweit ist dem Vortrag der Beklagten zustimmen, dass mit Unterstützung,
Teilübernahme und Beaufsichtigung beim Wasserlassen und Stuhlgang (vgl. die
Tabelle unter Punkt 5.1 des Gutachtens, Bl. 17 GA) nur die Begleitung in die Nasszelle
sowie Hilfe beim Entkleiden, Hinsetzten, Reinigen und Ankleiden gemeint sind, nicht
aber ohne einen konkreten Anlass auch eine die Intimsphäre zwangsläufig
beeinträchtigende direkte Beaufsichtigung.
16
Einen hinreichend konkreten Anlass kann nach Auffassung des Gerichts - worauf auch
17
das OLG Hamm, a.a.O., abstellt - aber gegeben sein, wenn es in der Vergangenheit vor
dem Unfall Anzeichen für die Gefahr eines Sturzes bzw. ein unvermitteltes Aufstehen
ohne Hilfe einer Pflegekraft gegeben hätte. Dass ein entsprechender Grund nicht
gegeben war und keine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals vorlag, hat
die Beklagte darzulegen und zu beweisen. Dies ergibt sich analog § 282 BGB a.F. (vgl.
BGH, VersR 1991, 310; OLG Dresden, NJW-RR 2000, 761), denn die Ursache des
Sturzes lag vorliegend noch im Kernbereich der Pflichten der Beklagten aus dem
Pflegeheimvertrag.
Eine Pflichtverletzung durch das Pflegepersonal kann nach Auffassung des Gerichts
jedoch nicht angenommen werden. Nach der Beweisaufnahme steht für das Gericht
nämlich mit hinreichender Überzeugung fest, dass es keinen konkreten Grund für eine
direkte Beaufsichtigung des Toilettengangs gab. Der Zeuge W hat den üblichen Ablauf
eines Toilettengangs der Versicherungsnehmerin geschildert und dabei glaubhaft
bekundet, dass die Versicherungsnehmerin über diesen Ablauf Bescheid wusste und
bisher auch stets geklingelt hatte. Es sei bisher noch nie zu einem Vorfall oder einer
Verletzung während des Toilettengangs gekommen. Vor diesem Hintergrund durfte das
Pflegepersonal darauf vertrauen, dass die Versicherungsnehmerin nicht von selbst
aufstehen werde. Die direkte Beobachtung mit unmittelbarer Zugriffsmöglichkeit
während des Toilettengangs war somit nicht angezeigt.
18
Weitere Gründe, die eine direkte Beaufsichtigung erfordert hätten, sind nicht ersichtlich.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, die Entscheidung zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 11 Alt. 2, 711 ZPO.
20
Streitwert: bis 6.000,- EUR
21