Urteil des LG Kleve vom 29.09.2010

LG Kleve (stgb, sicherungsverwahrung, egmr, recht auf freiheit und sicherheit, auslegung, unterbringung, klinik, recht auf freiheit, anordnung, entlassung)

Landgericht Kleve, 181 StVK 218/09 181 StVK 197/10
Datum:
29.09.2010
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
1. große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
181 StVK 218/09 181 StVK 197/10
Schlagworte:
Sicherungsverwahrung, Altfälle, Rückwirkungsgebot
Normen:
§ 66 StGB, § 67 d StGB
Leitsätze:
Die durch den Gesetzgeber erfolgte Aufhebung der früher für die
erstmalige Sicherungsverwahrung geltende 10 jährigen Höchstdauer ist
für die Gerichte nach dem Urteilt des EGMR vom 17.12.2009 bindend.
Tenor:
1.
Die Unterbringung dauert fort.
2.
Die Überweisung aus der Sicherungsverwahrung in den Vollzug der
Maßregel des § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatri-schen
Krankenhaus) bleibt aufrechterhalten.
3.
Die nächste Überprüfung gemäß § 67 e StGB erfolgt bereits in ei-nem
Jahr.
Gründe
1
I.
2
Der 51 Jahre alte Verurteilte befindet sich aufgrund des Urteils des Landgerichts
Wuppertal vom 09.01.1991 im Maßregelvollzug.
3
Der Verurteilte wuchs in ungünstigen familiären Verhältnissen auf. Ab 1966 besuchte er
acht Jahre die Volksschule in X3.
4
Im Jahre 1976 trat er – im Alter von 16 Jahren – erstmals wegen eines Sexualdelikts in
Erscheinung. Wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexueller Handlung an einer
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Person unter 14 Jahren und wegen Nötigung in Tateinheit mit Beleidigung verwarnte
ihn das Amtsgericht X3. Der Verurteilte hatte in den Grünanlagen zwei 11 bzw. 12 Jahre
alte Mädchen sexuell belästigt. Eines hatte er mit einem Knüppel bedroht und geküsst,
das andere unter Drohungen geküsst und unter der Kleidung an das Geschlechtsteil
gefasst.
Im Jahre 1977 beging der Untergebrachte wiederum zwei Sexualdelikte. Das
Landgericht N3 verurteilte ihn am 25.08.1977 wegen versuchter Vergewaltigung in zwei
Fällen zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren 9 Monaten. Beide Opfer hatte er mit einem
Messer bedroht.
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Im Jahre 1984 wurde er erneut einschlägig straffällig. Am 22.10.1984 verurteilte ihn das
Landgericht I wegen versuchter Vergewaltigung (unter Einsatz einer
Schreckschusspistole) zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und ordnete zudem die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an. Nach
Untersuchungshaft (ab 29.06.1984) befand er sich bis zum 21.08.1989 im
Maßregelvollzug in N.
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Keine zehn Monate nach seiner Entlassung aus der Therapieeinrichtung beging er am
12.06.1990 das Anlassdelikt. Er überfiel als Anhalter eine Studentin, bedrohte sie mit
einem Gastrommelrevolver und wollte sie vergewaltigen. Das Landgericht
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l verurteilte ihn deshalb am 09.01.1991 wegen versuchter Vergewaltigung zu 3 Jahren 6
Monaten Freiheitsstrafe. Durch diese am 10.10.1991 rechtskräftig gewordene
Entscheidung wurde zugleich gemäß § 66 Abs. 1 StGB seine Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung angeordnet, weil entsprechende Vorstrafen vorlagen und ein
Hang zu erheblichen Straftaten (Sexualverbrechen) festgestellt worden war.
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Ab dem 13.06.1990 befand er sich in Untersuchungshaft; ab Eintritt der Rechtskraft am
10.10.1991 in Strafhaft.
10
Die Freiheitsstrafe wurde vollständig (bis zum 10.12.1993) vollstreckt; anschließend
begann die Sicherungsverwahrung.
11
Durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts B vom 31.10.1994
wurde der Verurteilte zur besseren Förderung der Resozialisierung gemäß § 67a StGB
in den Vollzug der Maßregel gemäß § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus) überwiesen.
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Die für die Delinquenz und die Wiederholungsgefahr mitursächliche psycho-
pathologische Störung des Verurteilten wurde und wird wie folgt eingeordnet:
13
Persönlichkeitsstörung mit deutlichen narzisstischen und dissozialen Zügen.
Grenzwertige intellektuelle Minderbegabung
14
15
Sexuelle Verhaltensabweichung als Symptom einer tiefgreifenden Beziehungs-
und Kontaktstörung
16
17
Seit dem 14.02.1995 wird die Maßregel in den Rheinischen Kliniken (nunmehr "LVR-
Klinik") C im psychiatrischen Krankenhaus vollzogen.
18
Der Aufenthalt im Maßregelvollzug brachte zunächst keine erkennbaren Veränderungen
mit sich. Vielmehr stimmten die von der Klinik mit externen Gutachten beauftragten
Sachverständigen Prof. Dr. U (Gutachten vom 12.11.1998); Dr. O2 (11.09.2002) und
Prof. Dr. M (26.10.2004) in ihrer Einschätzung überein, dass der Verurteilte aufgrund
seiner Defizite in seinen emotionalen und sozialen Kompetenzen weiterhin gefährlich
sei, auch weil ihm der Zugang zu seiner Sexualproblematik fehle und – so der
Sachverständige M noch 2004 – trotz 15jähriger Behandlung keine Veränderung der
Persönlichkeitsfehlentwicklung eingetreten sei. Diese Einschätzung wurde auch noch
von der Gutachterin Vogel in ihrem Gutachten vom 01.06.2007 bestätigt, die die von der
Klinik gegebene Einschätzung einer positiven Entwicklung kritisch bewertete und den
Verurteilten so einschätzte, dass dessen sexuelle Deviation einer
psychotherapeutischen Behandlung eher nicht zugänglich sei. Auch die von der Klinik
als stabilisierender Faktor angesehene Beziehung zu seiner damaligen Freundin und
heutigen Ehefrau sah die Sachverständige nicht als Garantie für eine stabile
Lebensführung oder für eine Verhinderung weiterer schwerer Straftaten und stellte dem
Verurteilten weiterhin eine Gefährlichkeitsprognose:
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Auch nach der langen Behandlungszeit im Maßregelvollzug kann man nicht davon
ausgehen, dass Herr X2 nach einer Aussetzung des § 63 StGB zur Bewährung
keine schweren Straftaten mehr begehen würde. Wie von den Vorgutachtern
erwähnt, ist seine Entwicklung durch prognostisch sehr ungünstige Merkmale
gekennzeichnet:
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Wie im letzten Gutachten von Prof. M bereits erwähnt, kann Herr X2 als ein
"typischer Vertreter" der sogenannten chronischen Lebenslauf-Sexualstraftäter
bezeichnet werden. Er erfüllt die entsprechenden Kriterien beinahe exemplarisch.
21
… Wie bereits die Vorgutachter konstatierten, wird Herr X2 auch in Zukunft nicht
eigenständig ohne engmaschige Kontrolle leben können, wenn man die Gefahr
weiterer schwerer Delikte minimieren will.
22
Die am 05.11.2007 erfolgte Dauerbeurlaubung in den Bereich der sozialen
Rehabilitation, Haus 51 der LVR-Klinik, verläuft bei dem Verurteilten zwar inzwischen
beanstandungslos; nachdem der Verurteilte seinen Widerstand dagegen, dass er im
Reha-Bereich weniger Übernachtungslockerungen hatte als vorher in der forensischen
geschlossenen Station (er kann nicht bei seiner Ehefrau übernachten, diese aber bei
ihm), aufgeben und sich darauf einlassen konnte, scheint es zu einer positiven
Entwicklung gekommen zu sein. Er geht weiterhin zuverlässig seiner Arbeit in der
Werkstatt für Behinderte in Haus G2 nach und verbringt seine Freizeit mit seiner
Ehefrau, die er am 05.05.2008 geheiratet hat. Die Beziehung scheint stabil und gut. In
23
der Stellungnahme vom 03.08.2009 bescheinigten die Therapeuten eine verbesserte
Transparenz und mehr Realitätsbezug. Der Verurteilte habe seine Forderungshaltung
etwas verringert, könne Grenzen akzeptieren und halte die Regeln ein. Der Kontakt zur
Forensischen Überleitungs- und Nachsorgeambulanz sei hergestellt. Vor einer
Aussetzung der Unterbringung solle dennoch zunächst eine weitere Außenorientierung
des Verurteilten erfolgen, wobei die Klinik dabei zunächst den Übergang in ein
betreutes Wohnheim plant.
Mit Antrag vom 10.07.2009 hat die Verteidigerin des Verurteilten den Antrag auf
Einholung eines Sachverständigengutachtens und Aussetzung der
Sicherungsverwahrung zur Bewährung beantragt.
24
Vor dem Hintergrund der vorsichtig positiven Prognose der
Maßregelvollzugseinrichtung hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom
08.09.2009 ein Sachverständigengutachten gemäß §§ 463, 454 Abs. 2 StPO in Auftrag
gegeben, um die Frage zu klären, ob bei dem Verurteilten weiterhin die Gefahr besteht,
dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird,
durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
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Vor Fertigstellung des externen Sachverständigengutachtens durch den beauftragten
Dipl. F stellte die Verteidigerin am 28.06.2010 vor dem Hintergrund der Entscheidung
des Europäischen Menschengerichtshof vom 17.12.2009 den Antrag den Verurteilten
sofort aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen.
26
Die Staatsanwaltschaft hat sich gegen die Entlassung des Verurteilten ausgesprochen.
27
Der Verurteilte und seine Verteidigerin haben in der mündlichen Anhörung vom
29.09.2010 beantragt, die Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen, wobei
die Entlassung erst in einem Jahr erfolgen sollte.
28
II.
29
Die von der Kammer vorgenommene Überprüfung gemäß § 67 e StGB hat ergeben,
dass der Maßregelvollzug auch derzeit noch andauern muss. Auch unter Beachtung der
vom Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 21.10.2003
aufgestellten strengen materiellen Maßstäbe besteht bei dem Untergebrachten derzeit
nach wie vor auf Grund gegenwärtiger und konkreter Anhaltspunkte die Gefahr, dass die
durch die in der Vergangenheit begangenen Taten zutage getretene Gefährlichkeit des
Untergebrachten fortbesteht.
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Gemäß § 67d Abs. 3 StGB erklärt das Gericht die Maßregel nur für erledigt, wenn nicht
die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche
Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer
geschädigt werden. Nach dem Willen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der
Neuregelung der Unterbringung durch das Sexualdeliktsbekämpfungsgesetz vom
26.01.1998 wurde zwar die bis dahin geltende Höchstfrist von zehn Jahren für den
erstmaligen Vollzug der Sicherungsverwahrung aufgehoben, jedoch entschieden, dass
nach Ablauf von zehn Jahren die Erledigung der Sicherungsverwahrung die Regel und
eine Fortdauer nur ausnahmsweise gestattet ist. An die Vorbereitung der Entscheidung
werden erhöhte Anforderungen gestellt. Es müssen konkrete und gegenwärtige
Anhaltspunkte dafür festgestellt werden, dass die Gefährlichkeit entgegen der
31
gesetzlichen Vermutung auch nach über zehn Jahren noch fortbesteht. Zweifelt das
Gericht an der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten, so ist zu Gunsten des
Untergebrachten die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären. Eine Fortsetzung
der Maßregel jenseits der 10-Jahres-Grenze kommt nur bei demjenigen in Betracht,
dessen nunmehr vermutete Ungefährlichkeit widerlegt ist (BVerfG, Urteil vom
21.10.2003 – 2 BvR 2029/01; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.03.2004 – III-4 Ws
147/04; Bl. 462, 493 des Vollstreckungsheftes).
Auch unter Beachtung dieser strengen materiellen Maßstäbe besteht derzeit jedoch
nach wie vor auf Grund gegenwärtiger und konkreter Anhaltspunkte eine Gefahr im
vorgenannten Sinne. Es wird insoweit Bezug genommen auf die eingehende
gutachtliche Stellungnahme des therapeutischen Leiters der LVR-Klinik C vom
03.08.2009 und 02.09.2010 und seines Vertreters im Termin der mündlichen Anhörung
vom 29.09.2010. Die für die negative Kriminalprognose mitursächliche Beeinträchtigung
im Sinne der Eingangsmerkmale des § 20 StGB besteht auch aktuell fort. Der Verurteilte
ist auch weiterhin noch auf fest vorgegebene Strukturen der Unterbringung im
Maßregelvollzug angewiesen. Dies hat sich in der mündlichen Anhörung vom
29.09.2010 deutlich ergeben.
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Auch wenn die bisherige Erprobung des Verurteilten im Rahmen des Reha-Bereiches
recht unproblematisch verlaufen ist, zeigt sich doch vielfach, dass der Verurteilte an ein
enges Betreuungs-und Unterstützungssystem angebunden bleiben sollte und auch will.
Wie er selbst in der Anhörung deutlich gemacht hat und sich auch in den schriftlichen
und mündlichen Stellungnahmen und den Angaben seines Psychiaters und der
Mitarbeiterin der FÜNA, seiner Ansprechpartnerin, wiederspiegelt, ist dies für den
Verurteilten ganz besonders wichtig.
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Er hat auch selbst geschildert, dass und wie er angesichts des Urteils des EGMR und
der Aussicht nunmehr sofort entlassen zu werden, in eine gewisse Krise geraten ist, die
er mit Hilfe seiner Ansprechpartner in der Klinik bewältigt. Dies hat auch der zuständige
Psychiater geschildert. Der Verurteilte sieht selbst die dringende Notwendigkeit dieser
Anbindung und führt sein Versagen nach der letzten Entlassung aus dem
Maßregelvollzug aus N auch darauf zurück, dass er dort ohne jegliche Anbindung an
Hilfesysteme entlassen worden ist. Er kann sich sogar vorstellen, dass er über die
bisherigen unterstützenden Personen noch weitere Ansprechpartner braucht:
34
Wenn ich nach meinen Zielen gefragt werde, dann möchte ich in eine eigene
Wohnung und erst später mit meiner Frau zusammenziehen. Ich bin ja jetzt seit 20
Jahren eingesperrt und möchte zunächst mal ausprobieren, wie das läuft, wenn ich
alleine wohne. Eventuelle Probleme beim Zusammenleben mit anderen, d.h. auch
mit meiner Frau, können so aus meiner Sicht vermieden werden.
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Nach wie vor möchte ich eine enge Anbindung an die therapeutischen
Unterstützungssysteme der Rheinischen Kliniken behalten. Ich stelle mir auch vor,
wenn ich künftig eine Krise habe, dass ich dann zu Gesprächen bei Herrn Dr. y
oder Frau C2 kommen kann. Ich tue das derzeit auch. Wenn es irgendwelche
Probleme gibt, dann suche ich – vor meinem Arbeitsantritt – morgens Frau C2 auf,
um über diese Probleme zu sprechen. Das möchte ich auch, wenn ich zukünftig in
L2 wohne. Ich komme auch immer von alleine. Würde das am Wochenende
passieren, dann würde ich versuchen, dort in der Klinik erst mal unterzukommen,
um dann am Montag mit Frau C2 oder Herrn Dr. y sprechen.
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37
Wenn mir vorgehalten wird, dass ich 1989 auch in einer recht guten sozialen
Situation aus der Maßregel in N entlassen worden bin:
38
Das war nicht so. In N bin ich ganz ohne Anbindung entlassen worden, und zwar in
ein 100 km weiter entlegenes Wohnheim. Ich hatte überhaupt keine Gespräche
mehr mit früheren Therapeuten. Deshalb möchte ich jetzt dafür sorgen, dass die
Anbindung bestehen bleibt. Ich stelle mir sogar vor, noch weitere
Unterstützungssysteme nachzufragen, z.B. bei der Lebenshilfe oder bei Papillon.
Diese könnten mich in lebenspraktischen Fragen unterstützen. Therapeutische
Gespräche habe ich zurzeit alle 14 Tage bei Frau C2 und ab und zu auch ein
Dreiergespräch mit meiner Ehefrau. Helferrunden haben auch schon stattgefunden.
Das soll alles so weiter laufen.
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Ich selber halte mich für relativ stabil. Ich bin älter und reifer geworden und auch
gesetzter. Ich habe meine Aggressionen unter Kontrolle.
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Dagegen empfiehlt die Klinik in ihrer aktuellen Stellungnahme vom 02.09.2010 noch
eine weitere Zeit und eine andere Form der Außenorientierung. Anders als der
Verurteilte, der eine Dauerbeurlaubung in eine eigene Wohnung wünscht, hält die Klinik
– bei aller positiver Stabilisierung des Verurteilten - dies für noch nicht angebracht, weil
der Verurteilte, der immer noch in der Klinik lebt, sich noch in eigenständigen
Lockerungen erproben müsse:
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Wir meinen, es bedarf noch einiger Zeit, bis er entlassen werden kann. Als ersten
Schritt hatten wir die Außenwohngruppe in L2 angedacht und dann sollte als
zweiter Schritt die eigene Wohnung von Herrn X2 und erst als dritter Schritt die
gemeinsame Wohnung mit seiner Frau folgen. Wir hatten schon gedacht, dass wir
diese Schritte noch während des Maßregelvollzuges absolvieren.
42
Wir sind auch der Auffassung, dass Herr X2 – insbesondere durch die enge
therapeutische Bindung an Frau C2 – ein hohes Maß an innerer Sicherheit
bekommen hat. Auf jeden Fall kann er sich auch in belastenden Situationen an die
Hilfssysteme wenden. Das tut er alleine und regelmäßig. Ihm ist auch klar, dass er
ganz ohne Unterstützen draußen nicht klarkommen würde. Das hat er auch
deutlich und wörtlich so gesagt.
43
Die Kammer sieht durchaus – trotz der beschriebenen therapeutischen Defizite und der
damit verbundenen Bedenken - eine gewisse positive Veränderung des Verurteilten. In
Übereinstimmung mit dem Sachverständigen F ist anzuerkennen, dass durch die
bisherige Behandlung das hohe strukturelle Rückfallrisiko, wie es noch in den
Vorgutachten betont wurde, deutlich gesenkt werden konnte. Der Sachverständige F
hatte – allerdings noch vor Kenntnis der Krise des Verurteilten, in die dieser angesichts
der von ihm als unmittelbar bevorstehenden Entlassung geraten war –
zusammenfassend festgestellt:
44
Die den Hang begründende Persönlichkeitsproblematik, die sich vor allem in der
Selbstwertproblematik, der Beziehungsunfähigkeit und der Impulsproblematik zeigt
und in der Lebensgeschichte des Herrn X2 eine Entwicklung in Dissozialität mit
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Alkohol- und Drogenkonsum sowie Sexualdelinquenz begünstigte, hat sich durch
die Unterbringung in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität deutlich abgeschwächt.
Durch eine professionelle Nachsorge kann die verbleibende geringe Rückfallfahr
wirksam kontrolliert werden. Diese Beurteilung ist aber dann neu zu justieren,
wenn sich wesentliche Faktoren verändern, beispielsweise ein Scheitern der Ehe
oder ein Kontaktabbruch zu den ihn betreuenden Personen.
Wie dargestellt, sieht auch die Kammer eine bessere Stabilität des Verurteilten.
Insbesondere ist seine realistische Einschätzung hinsichtlich der Notwendigkeit der
weiteren Unterstützung positiv hervorzuheben. Der Verurteilte sieht insbesondere selbst
die Notwendigkeit der eigenständigen Erprobung und unterschätzt nicht, dass die
Beziehung und das gemeinsame Wohnen mit seiner Ehefrau, das er deshalb auch noch
nicht plant, durchaus auch Gefahrenmomente birgt. Er will sich zunächst selbst
beweisen, wobei er die Unterstützungssysteme der Kammer weiterhin zur Verfügung
haben will und zwar in gleichem Umfang oder sogar größerem Umfang wie bisher.
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Im Laufe der mündlichen Anhörung ist aber – wie wohl vorher im Verlauf der
angesprochen Krise - deutlich geworden, dass es dem Verurteilten derzeit in erster Linie
nicht um die Entlassung aus dem Maßregelvollzug als solchem geht, sondern nur aus
der Räumlichkeit der Klinik. Er möchte eine Dauerbeurlaubung in eine eigene Wohnung
und – unter Inanspruchnahme aller Unterstützungssysteme des Maßregelvollzuges -
noch ein Jahr in enger Begleitung durch die ihm vertrauten Systeme erproben, ob und
dass er zu eigenständiger Lebensführung außerhalb der Klinik in der Lage ist.
Diesbezüglich ist er sich nämlich auch nicht ganz sicher, auch wenn er sich nicht mehr
für gefährlich hält, so lange er nicht wieder Alkohol und Drogen konsumiert. Aber gerade
diese Erprobung steht noch aus, was der Verurteilte selber sieht, der die Gefahren des
Rückfalls in den Konsum nicht unterschätzt:
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Ich halte mich nicht für gefährlich, so lange ich nicht wieder Alkohol und Drogen
konsumiere. Ich habe seit Anbeginn meiner Unterbringung in den Rheinischen
Kliniken weder Alkohol noch Drogen konsumiert. Früher war es aber schon so,
dass ich bei Frustration oder schwierigen Situationen dann Alkohol getrunken habe
oder Drogen konsumiert habe (Haschisch und Kokain). Ich hatte auch damals
keine Gesprächspartner und dann ist es aus der Frustration heraus zu diesen
Taten gekommen.
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Nach all dem ist ohne vorangegangene Erprobung in einer eigenen und
eigenverantwortlichen Lebenssituation noch nicht von einer Ungefährlichkeit des
Untergebrachten auszugehen. Solange nicht feststeht, dass der Untergebrachte auch
unter den sehr gelockerten Bedingungen der Dauerbeurlaubung in eigener Wohnung
stabil und im guten vertrauensvollen Kontakt zu den Mitarbeitern der Klinik, die ihn
betreuen bleibt, kann eine bedingte Entlassung noch nicht gewagt werden. Allerdings
teilt die Kammer die Auffassung des Verurteilten, dass eine Dauerbeurlaubung nunmehr
nicht zunächst über ein betreutes Wohnheim erfolgen muss, sondern sofort in eine
eigene Wohnung erfolgen kann. Es ist dem Verurteilten letztlich auch zuzugeben, dass
eine solche Übersiedlung für ihn einen deutlichen Rückschritt darstellen würde.
Angesichts seiner sonstigen strukturierten Alltags- und Freizeitabläufe muss auch nicht
damit gerechnet werden, dass er durch das Alleinwohnen wieder in eine Situation der
Isolierung kommt, die den Rückfall in früheres Verhalten begünstigt. Er hat in der Zeit
der Maßregel gelernt, seine Gefühle besser wahrzunehmen und Probleme zu
besprechen. Es ist davon auszugehen, dass er dies auch aus der Situation der
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Dauerbeurlaubung in der eigenen Wohnung tut, indem er sich vertrauensvoll an die ihn
betreuenden Personen wendet und nicht erst den Schritt über eine Wohngemeinschaft
benötigt. Gerade dies soll ja auch unter Beweis gestellt werden, um in einem Jahr die
prognostische Grundlage für die dann erneut zu treffende Entscheidung nach § 67 e
StGB zu treffen.
Die Überweisung in den Vollzug der Maßregel gemäß § 63 StGB hat gemäß § 67a
StGB fortzudauern, weil hierdurch die Resozialisierung besser gefördert werden kann.
Die nach wie vor bestehenden Störungen machen eine weitere psychiatrische
Behandlung erforderlich, die in der Maßregel des § 63 StGB zur Verfügung steht.
50
Der Vollzug der Maßregel ist angesichts der Schwere der begangenen und drohenden
Gewalt- und Sexualstraftaten weiterhin verhältnismäßig (§ 62 StGB). Dabei hat die
Kammer auch berücksichtigt, dass es offensichtlich auch im Interesse des Verurteilten
ist, den Übergang in die Bewährung langsam und geordnet zu vollziehen, zumal bei
einer sofortigen Entlassung weder die künftige finanzielle, noch die Wohn- und
Entlassungssituation geordnet ist. Ein Verbleib in der Wohnung, die er derzeit auf dem
Klinikgelände hat, wäre – mangels Klärung der Kostenfrage – derzeit wohl nicht
möglich.
51
Die Kammer hat allerdings die Frist für die erneute Überprüfung nach § 67 e StGB
verkürzt, da davon auszugehen ist, dass innerhalb des Zeitraums von einem Jahr
ausreichend erprobt werden kann, ob und wie der Verurteilte Erlerntes unter
freiheitlichen Bedingungen umsetzen kann.
52
III.
53
Der Fortdauerentscheidung steht nicht entgegen, dass die vorliegende
Sicherungsverwahrung 1991 verhängt wurde und damit vor der 1998 erfolgten
Aufhebung der früher für die erstmalige Anordnung geltenden zehnjährigen
Höchstdauer.
54
A)
55
Die Neuregelung verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.
Danach darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt
war, bevor die Tat begangen wurde. Der Anwendungsbereich dieser Bestimmung ist auf
Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein
rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein
Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Andere staatliche
Eingriffsmaßnahmen werden davon nicht erfasst. Daher fällt die rein präventive
Maßnahme der Sicherungsverwahrung nicht unter Art.103 Abs. 2 GG. Die
Entstehungsgeschichte belegt, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht
vom Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG umfasst werden. Freiheitsstrafe und
Sicherungsverwahrung verfolgen im Wesentlichen unterschiedliche Ziele. Die
Maßregeln der Besserung und Sicherung sollen nach der Konzeption des Gesetzgebers
diejenigen Funktionen übernehmen, welche die Strafe wegen ihrer Bindung an die
Schuld des Täters nicht ausreichend erfüllen kann. Maßregeln dienen insbesondere der
Individualprävention, also der Verhinderung zukünftiger Straftaten durch Einwirkung auf
den Täter. Anknüpfend an die Gefährlichkeit des Täters ist allgemeiner Maßregelzweck
die Verhütung künftiger Rechtsbrüche des Täters unabhängig davon, ob seine Schuld
56
für sich genommen einen solchen Eingriff rechtfertigen würde. Die
Sicherungsverwahrung dient im Gegensatz zur Strafe nicht dem Zweck, begangenes
Unrecht zu sühnen, sondern dazu, die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen. Nicht
die Schuld, sondern die in der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit ist bestimmend für
die Anordnung, Ausgestaltung und zeitliche Dauer der Maßregel. Die Maßregel ist eine
Maßnahme, die Gefahren vorbeugt und in die Zukunft wirken soll (BVerfG, Urteil vom
05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133; LG Kleve, Beschluss vom 21.07.2010
– 181 StVK 279/09).
B)
57
Daran hat sich auch durch die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 (NStZ 2010,
263) nichts geändert.
58
Zum einen ist der vorliegende Fall nicht mit dem des EGMR vergleichbar. Der EGMR
stellt im Wesentlichen darauf ab, dass im dort zu entscheidenden Fall die
Sicherungsverwahrung ebenso wie eine Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt
vollzogen wurde (EGMG aaO Rn. 127). Hier aber findet der Vollzug der
Sicherungsverwahrung gemäß § 67 a StGB in einem Psychiatrischen Krankenhaus
statt. Auch weist der EGMR (Rn. 103) darauf hin, dass die Lage dann anders ist, wenn
ein "psychisch Kranker" betroffen ist und Art. 5 Abs. 1 Buchst. e MRK eingreift. Dies ist
hier so. Bei dem Untergebrachten liegt eine Persönlichkeitsstörung vor, die zu
behandeln ist und auch behandelt wird.
59
C)
60
Zum anderen sieht sich die Kammer - wie auch das OLG Köln, Beschluss vom
14.07.2010 – 2 Ws 431/10 - auch in gleichgelagerten Fallgestaltungen nicht durch das
inzwischen endgültige Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) vom 17.12.2009 - Individualbeschwerde Nr. 19359/04 - (NStZ
2010, 263) - daran gehindert, im hier zu entscheidenden Fall die Fortdauer der
Sicherungsverwahrung anzuordnen. Mit den Oberlandesgerichten Köln, Koblenz,
Stuttgart, Nürnberg und Celle ist die Kammer nämlich der Auffassung, dass dem
genannten Urteil des EGMR nicht durch Auslegung des einfachen Gesetzesrechts
Geltung verschafft werden kann, es vielmehr des Eingreifens des Gesetzgebers bedarf.
61
a)
62
In diesem Zusammenhang mag zunächst offen bleiben, ob - wie dies der
Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Koblenz (Beschluss vom 01.07.2010 - 1 Ws
249/10; Beschluss vom 22.06.2010 - 1 Ws 240/10 und Beschluss vom 07.06.2010 - 1
Ws 108/10) entspricht - deutsche Gerichte bereits deswegen gehindert sind, dem Urteil
des EGMR Geltung zu verschaffen, weil sie an das mit Gesetzeskraft ausgestattete
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.02.2004 (2 BvR 2029/01 = BVerfGE 109,
133 ff. = NJW 2004, 739 ff. betreffend die Verfassungsmäßigkeit des rückwirkenden
Fortfalls der Höchstgrenze der Sicherungsverwahrung) gebunden sind. Zutreffend weist
das OLG Nürnberg (Beschluss vom 24.06.2010 - 2 Ws 78/10 und Beschluss vom
07.07.2010 - 1 Ws 342/10) darauf hin, dass die Erwägung des
Bundesverfassungsgerichts, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich nicht um
eine Strafe, für die Entscheidung tragend ist und diese Erwägung der Annahme des
EGMR, der nachträgliche Fortfall der Höchstgrenze für den erstmaligen Vollzug der
63
Sicherungsverwahrung verstoße gegen das nur für Strafen geltende
Rückwirkungsverbot aus Art. 7 Abs. 1 EMRK, entgegensteht. Indessen hat der EGMR
die fragliche Regelung nicht nur am Rückwirkungsverbot, sondern auch an Art. 5 Abs. 1
EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) gemessen und hierzu ausgeführt, der
nachträgliche Fortfall der Höchstgrenze verstoße gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK,
weil die durch die über 10 Jahre hinausgehende Sicherungsverwahrung bewirkte
Freiheitsentziehung keinen hinreichenden Kausalzusammenhang mit der
Ursprungsverurteilung mehr aufweise (EGMR NStZ 2010, 263 [264]). Diese Erwägung
erscheint zwar nicht überzeugend. Die Kammer hat allerdings Bedenken, ob tragende
Rechtssätze aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.02.2004
dieser konventionsrechtlichen Wertung des EGMR entgegenstehen.
b)
64
Letztlich mögen diese Bedenken jedoch auf sich beruhen, da dem Urteil des EGMR
nicht durch Auslegung einfachen Gesetzesrechts - zu der die Strafrichter allein berufen
sind - Geltung verschafft werden kann.
65
aa) Im Ausgangspunkt übereinstimmend gehen die Gerichte davon aus, dass die
materielle Rechtskraft von Entscheidungen im Rahmen von Individualbeschwerden ihre
Grenze im Streitgegenstand und dessen personellen, sachlichen und zeitlichen
Grenzen findet; sie wirken zunächst nur zwischen den Parteien des jeweiligen
Individualbeschwerdeverfahrens. Indessen steht innerhalb der deutschen
Rechtsordnung die Europäische Menschenrechtskonvention im Range eines
Bundesgesetzes. Die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland - Gesetzgebung
und Rechtsprechung - haben sie und ihre Auslegung durch den hierzu berufenen
EGMR zu beachten. Deutsche Gerichte haben die Konvention wie anderes
Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten
und anzuwenden (vgl. BVerfG NJW 2004, 3407 ["Görgülü"], OLG Nürnberg B. v.
24.06.2010 - 2 Ws 78/10; OLG Stuttgart B. v. 01.06.2010 - 1 Ws 57/10 = BeckRS 2010
13500; OLG Hamm B. v. 06.07.2010 - III-4 Ws 157/10 = BeckRS 2010 16545; Kinzig,
NStZ 2010, 233 [238]).
66
bb) Uneinigkeit besteht hingegen bei der Beantwortung der Frage, ob der Entscheidung
des EGMR vom 17.12.2009 im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung
Geltung verschafft werden kann. Während dies von einigen Oberlandesgerichten bejaht
wird (OLG Hamm B. v. 12.05.2010 - 4 Ws 114/10 und B. v. 06.07.2010 - III-4 Ws 157/10;
OLG Frankfurt/Main B. v. 01.07.2010 - 3 Ws 539/10), verneinen andere diese Frage für
die hier in Rede stehende Konstellation des rückwirkenden Fortfalls der 10-Jahres-
Höchstgrenze bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung (so OLG Stuttgart
B. v. 01.06.2010 - 1 Ws 57/10 = BeckRS 2010 13500; OLG Nürnberg B. v. 24.06.2010 -
2 Ws 78/10 und B. v. 07.07.2010 - 2 Ws 342/10; OLG Celle B. v. 25.05.2010 - 2 Ws 169-
170/10 = BeckRS 2010 13729; OLG Koblenz B. v. 07.06.2010 - 1 Ws 108/10 = BeckRS
2010 13784 und B. v. 22.06.2010 - 1 Ws 240/10 und B. v. 01.07.2010 - 1 Ws 249/10)
67
Das Oberlandesgericht Koblenz hat hierzu mit Beschluss vom 07.06.2010 (1 Ws 108/10
= BeckRS 2010 13784) ausgeführt:
68
"Der Senat sieht sich nicht daran gehindert, die Fortdauer der Unterbringung nach
Maßgabe des § 67d Abs. 3 StGB über zehn Jahre hinaus fortdauern zu lassen, auch
wenn diese Vorschrift erst durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und
69
anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) mit Wirkung zum
31. Januar 1998, mithin nach den Anlasstaten und Erlass des dem Maßregelvollzug
zugrunde liegenden Urteils […], in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden ist und in
der zur Zeit der Taten und des Urteilserlasses geltenden Fassung des § 67d StGB die
Dauer der erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung selbst bei fortbestehender
Gefährlichkeit des Untergebrachten auf zehn Jahre begrenzt war (§ 67d Abs.1 StGB
a.F.). Art. 1a EGStGB sah nach Inkrafttreten des bezeichneten Gesetzes vom 26. Januar
1998 bis zum Jahr 2004 ausdrücklich vor, dass die Neufassung des § 67d Abs. 3 StGB
uneingeschränkt Anwendung findet. Demzufolge betraf der Wegfall der
Zehnjahresgrenze auch Straftäter, die ihre Tat vor Verkündung und Inkrafttreten der
Neufassung begangen hatten und vor diesem Zeitpunkt verurteilt worden waren.
Diese Regelung nach Art. 1a EGStGB findet ihre Fortsetzung in § 2 Abs. 6 StGB.
Danach ist über Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen gem. § 61 Nr. 3
StGB die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zählt, nach dem Gesetz zu
entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt, wenn gesetzlich nichts anderes
bestimmt ist. Diese Vorschrift bezieht sich sowohl auf die Anordnung als auch auf die
Vollstreckung der Maßregeln (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004 - 2 BvR 2029/01 -
Absatz-Nr. 182 m.w.N., BVerfGE 109, 133 ff. = NJW 2004, 739 ff.), so dass sie, da
anders lautende Gesetzesbestimmungen fehlen, auch für die Entscheidung über die
Fortdauer der Sicherungsverwahrung die Anwendung des zu diesem Zeitpunkt
geltenden Rechts bestimmt. (…).
70
Das Urteil des EGMR gibt (…) keine Veranlassung, anders als auf Grundlage des
geltenden § 67d Abs. 3 StGB über die Fortdauer der Unterbringung zu entscheiden (vgl.
OLG Celle, Beschluss vom 25. Mai 2010 - 2 Ws 169 und 170/1 -; s. auch OLG Stuttgart,
Beschluss vom 1. Juni 2010 - 1 Ws 57/10 -, wonach das Urteil des EGMR jedenfalls
nicht die sofortige Freilassung in Parallelfällen zur Folge hat; a.A. - obiter dictum - OLG
Hamm, Beschluss vom 12. Mai 2010 - III-4 Ws 114/10 -) (…)
71
2. Eine Umsetzung der festgestellten Konventionsverstöße dahingehend, dass in den
Fällen einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung, in denen Anlasstat und
Urteil zeitlich vor dem 31. Januar 1998 liegen ("Altfälle"), eine Höchstdauer der
Unterbringung von zehn Jahren gilt und nach deren Ablauf die Maßnahme für erledigt
zu erklären ist, kann durch Auslegung der gegebenen Gesetzeslage jedoch nicht
erreicht werden.
72
a) Einer Auslegung der §§ 67d Abs. 3, 2 Abs. 6 StGB in diesem Sinn steht schon der
Wortlaut dieser Vorschriften entgegen. Er schließt alle Fälle der Sicherungsverwahrung
in die Gesetzesregelung mit ein und lässt eine Ausnahme für die Altfälle nicht zu. Eine
abweichende Interpretation dieser Vorschriften, die mit dem Gesetzeswortlaut nicht
vereinbar wäre, scheidet damit von vornherein aus. Der Wortlaut bildet die Grenze jeder
Auslegung (vgl. nur Fischer, StGB, 57. Aufl., § 1 Rn. 10; Dannecker in LK, StGB, 12.
Aufl., § 1 Rn. 307, jeweils m.w.N.).
73
Dem Wortlaut der Vorschriften kann nicht dadurch entsprochen werden, dass dem Urteil
des EGMR die Wirkung einer "anderen gesetzlichen Bestimmung" beigemessen wird,
die eine Ausnahme von dem in § 2 Abs. 6 StGB enthaltenen Grundsatz anordnet, bei
Entscheidungen über Maßregeln der Besserung und Sicherung das zur Zeit der
Entscheidung geltende Recht anzuwenden (so Grabenwarter, Rechtsgutachten vom 15.
Januar 2010 zu den Rechtsfolgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für
74
Menschenrechte im Fall M. ./. Deutschland vom 17. Dezember 2009, S. 39 - 45).
Abgesehen davon, dass die EMRK in Ausgestaltung durch den EGMR zwar im Rang
eines förmlichen Bundesgesetzes zu beachten ist, jedoch nicht rechtsgestaltend in die
innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirken kann, trifft das Urteil des EGMR keine
Aussage zum Regelungsinhalt des § 2 Abs. 6 StGB. Es sieht die
Sicherungsverwahrung vielmehr als Strafe, die Verlängerung der Unterbringung über
zehn Jahre hinaus als zusätzliche Bestrafung an und betrifft damit den
Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 StGB, so dass es schon inhaltlich nicht als
ausdrückliche Gesetzesbestimmung im Sinne des für die Maßregeln der Besserung und
Sicherung geltenden Absatzes 6 angesehen werden kann.
b) § 67d Abs. 4 StGB kann gleichfalls nicht im dargestellten Sinn ausgelegt werden (so
aber Grabenwarter a.a.O. S. 46 - 48). Der Wortlaut der Vorschrift, wonach der
Untergebrachte nach Ablauf der Höchstfrist zu entlassen und die Maßregel damit
erledigt ist, ließe sich zwar für sich betrachtet auch, da er keine Einschränkung auf
bestimmte Unterbringungsmaßregeln enthält, auf die Sicherungsverwahrung beziehen.
Einer solchen Auslegung stünde jedoch der Grundsatz der Gesetzeseinheit entgegen.
Eine Einzelnorm ist nicht isoliert, sondern im Gesetzeskontext auszulegen. Nach der
Gesetzessystematik regelt § 67d Abs. 4 StGB allein die Unterbringung in der
Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). Denn nur für diese sieht § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB eine
Höchstfrist vor.
75
Darüber hinaus widerspräche eine solche Auslegung der Regelungsabsicht des
Gesetzgebers, die der Neuregelung des § 67d StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung
von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 zugrunde
liegt. Es war sein erklärter Wille, dass der Wegfall der Zehnjahresdauer gem. § 67d Abs.
1 StGB a.F. nicht nur für künftige Anordnungen der Sicherungsverwahrung, sondern
auch für "Altfälle" gilt. Im Gegensatz zur Neuregelung in § 66 Abs. 3 StGB sollten die
Änderungen in § 67d StGB durch Art. 1a Abs. 3 EGStGB uneingeschränkt rückwirkend
in Kraft gesetzt werden. Da diese Änderungen im Gegensatz zur Regelung in § 66 Abs.
3 StGB nicht die Anordnung, sondern lediglich die Dauer der Sicherungsverwahrung
betreffen, sah der Gesetzgeber darin keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
(BT-Drucksache 13/9062 S. 12).
76
Zugleich stehen Sinn und Zweck des Gesetzes einer die "Altfälle" der
Sicherungsverwahrung in die Regelung des § 67d Abs. 4 StGB mit einbeziehenden
Auslegung entgegen. Es war das gesetzgeberische Ziel, mit der Neuregelung einen
möglichst umfassenden Schutz der Allgemeinheit vor drohenden schwersten
Rückfalltaten bereits als gefährlich bekannter, in der Sicherungsverwahrung
untergebrachter Gewalt- und Sexualstraftäter zu gewährleisten (BT-Drucksache 13/9062
S. 10; BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004 - 2 BvR 2029/01 - Absatz-Nr. 189 a.a.O.). Eine
Gesetzesauslegung, die dazu führte, die vom Gesetzgeber aufgegebene
Zehnjahreshöchstdauer für die erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung wieder
zur Geltung zu bringen und die vor der Gesetzesänderung untergebrachten Straftäter zu
entlassen, wäre mit diesem Schutzzweck des Gesetzes nicht vereinbar.
77
Über den erklärten Willen des Gesetzgebers und die von ihm verfolgten Zwecke kann
sich eine Gesetzesauslegung nicht hinwegsetzen. Aus der gesetzgeberischen
Entscheidung, die Änderungen in § 67d StGB uneingeschränkt rückwirkend in Kraft zu
setzen, ergibt sich zugleich, dass hinsichtlich der "Altfälle" keine planwidrige
Regelungslücke im Gesetz besteht, die durch eine analoge Anwendung des § 67d Abs.
78
4 StGB zu füllen wäre."
Diesen Ausführungen stimmt die Kammer zu. In sachlich gleicher Weise argumentieren
die Oberlandesgerichte L3 (aaO), Celle (B. v. 25.05.2010 - 2 Ws 169 - 170/10 = BeckRS
2010 13729), Stuttgart (B. v. 01.06.2010 - 1 Ws 57/10 = BeckRS 2010 13500) und
Nürnberg (B. v. 24.06.2010 - 2 Ws 78/10 und B. v. 07.07.2010 - 1 Ws 342/10).
79
cc) Auch unter Berücksichtigung der Entscheidungen des OLG Frankfurt vom
01.07.2010 (3 Ws 539/10 = BeckRS 2010 16139) sowie des OLG Hamm vom
12.05.2010 (4 Ws 114/10 = BeckRS 2010 13931) und vom 06.07.2010 (III-4 Ws 157/10
= BeckRS 2010 16545) sieht die Kammer die methodischen Grenzen zulässiger
gerichtlicher Gesetzesinterpretation durch eine Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB
überschritten, die der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 die Qualität einer
"anderweitigen gesetzlichen Bestimmung" beimisst.
80
(1) Der Streichung des § 1a Abs. 4 EGStGB (der ausdrücklich die Rückwirkung der
unbefristeten Sicherungsverwahrung anordnete) durch das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.07.2004 (BGBl. I 1838) kommt keine
maßgebliche Bedeutung bei. Denn sie war ausschließlich von der Erwägung getragen,
dass eine ausdrückliche Regelung im Lichte der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 05.02.2004 - bei unveränderter gesetzgeberischer
Intention - zukünftig entbehrlich sei (vgl. OLG Frankfurt B. v. 01.07.2010 - 3 Ws 539/10 =
BeckRS 2010 16139).
81
(2) Soweit das OLG Hamm (B. v. 06.07.2010 - III-4 Ws 157/10) und das OLG Frankfurt
(B. v. 01.07.2010 - 3 Ws 539/10) meinen, der seinerzeitige Wille des Gesetzgebers
(nämlich derjenige bei Schaffung des § 1a Abs. 3 [später Abs. 4] EGStGB) könne bei der
heutigen Auslegung der Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB deshalb keine Rolle mehr
spielen, weil dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden könne, sich dauerhaft
konventionswidrig verhalten zu wollen, ist die Prämisse zwar richtig und die
gegenwärtigen gesetzgeberischen Aktivitäten, die (auch) der Umsetzung des Urteils des
EGMR vom 17.12.2009 dienen (s. dazu unten f)), bestätigen diesen Befund nur.
Indessen kann dem Gesetzgeber genau so wenig unterstellt werden, bei Kenntnis der
Konventionswidrigkeit hätte er sein rechtspolitisches Ziel des Schutzes der Bevölkerung
von gefährlichen Straftätern jenseits der Höchstfrist der Sicherungsverwahrung auch in
"Altfällen" aufgegeben und es für diesen Täterkreis bei der Regelung vor Streichung der
10-Jahresfrist bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung belassen.
Anzunehmen ist vielmehr, dass der Gesetzgeber eine Regelung zu schaffen gesucht
hätte, die ohne Konventionsverstoß das gesetzte rechtspolitische Ziel zu erreichen
geeignet gewesen wäre. Eine solche Regelung - etwa durch Reformen im Recht der
Führungsaufsicht - erscheint nach wie vor möglich. Die gesetzgeberische Intention des
Schutzes der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern auch jenseits der Höchstfrist von
10 Jahren kann daher nach Auffassung des Senats auch konventionskonform erreicht
werden und muss auch bei der Auslegung der §§ 67d Abs. 3, 2 Abs. 6 StGB
unverändert beachtet werden. Die Gerichte sind nicht berechtigt, im Wege der
"Auslegung" des Gesetzes diese gesetzgeberische Intention zu unterlaufen und durch
eine vorzeitige Entlassung im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung Fakten zu schaffen
(s. dazu auch OLG Koblenz B. v. 01.07.2010 - 1 Ws 249/10).
82
c) Die vorstehenden Überlegungen werden verstärkt durch die Erwägungen des
Oberlandesgerichts Stuttgart im Beschluss vom 01.06.2010 (1 Ws 57/10 = BeckRS 2010
83
13500 s. a. OLG Nürnberg B. v. 07.07.2010 - 1 Ws 342/10). Dort heißt es- aus Sicht der
Kammer - zutreffend:
"Zudem ist der Senat der Auffassung, dass eine schematische "Vollstreckung" des
Urteils des EGMR vom 17.12.2009 in der Weise, dass sog. Zehnjahresfälle nunmehr
ohne weiteres zu entlassen wären, die Frage aufwerfen würde, ob dies mit
Grundrechten in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar wäre. Zwar dürfte es
dem deutschen Gesetzgeber nicht von Verfassung wegen verwehrt sein, zu dem vor
1998 geltenden Rechtszustand zurückzukehren (vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 05.02.2004 -
2 BvR 2029/01 -, BVerfGE 109, 133 [187]; s. auch LG Marburg, Beschl. v. 17.05.2010 - 7
StVK 220/10 S. 13 f.). Nach dem nunmehr geltenden Recht, das weder von der MRK
noch von dem EGMR-Urteil außer Kraft gesetzt wird, ist aber durch § 67d Abs. 3 StGB
den Fachgerichten auch und gerade nach Ablauf der Zehnjahresfrist die der
Sicherungsverwahrung immanente sensible Abwägung zwischen dem
Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten einerseits und der staatlichen Schutzpflicht für
die Allgemeinheit andererseits verfassungsrechtlich aufgegeben:
84
Der Staat hat die Aufgabe, die Grundrechte potentieller Opfer vor Verletzungen durch
potentielle Straftäter zu schützen. Diese Schutzpflicht des Staates ist umso intensiver, je
mehr die Gefährdung sich konkretisiert und individualisiert und je stärker sie die
Gefährdung elementarer Lebensbereiche betrifft. (…) Hinter dieses öffentliche Interesse
tritt das Freiheitsgrundrecht (…) trotz seines hohen Wertes zurück. (…) Der Gesetzgeber
(hat) mit der Regelung des § 67d Abs. 3 StGB nicht gegen das freiheitsschützende
Übermaßverbot verstoßen. Die inhaltliche Konzeption als Regel-Ausnahme-Vorschrift
sowie die flankierenden verfahrensrechtlichen Garantien für die Betroffenen verschaffen
deren Anspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hinreichende Geltung (BVerfG a. a. O. S.
186 f.).
85
Eine schematische "Vollstreckung" des EGMR-Urteils in Gestalt sofortiger Entlassung
selbst hoch gefährlicher Untergebrachter brächte diese Abwägung in einer Art und
Weise aus dem Gleichgewicht, die verfassungsrechtlich jedenfalls bedenklich wäre und
- im Sinne des Monitums des "Görgülü-Beschlusses" - darauf hinauslaufen würde, dass
die schutzwürdige Allgemeinheit und damit nicht am Verfahren vor dem EGMR
beteiligte Grundrechtsträger nicht mehr als Verfahrenssubjekte wirksam in Erscheinung
treten könnten. Entgegen Kinzig NStZ 2010, 233 (238) beziehen sich dieses Monitum
sowie der Vorbehalt betreffend mehrpolige Grundrechtsverhältnisse nicht ausschließlich
aufs Privatrecht, sondern auf alle Fälle, in denen staatliche Gerichte "wie im Privatrecht"
mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben (s. BVerfGE 111, 307 [324];
ebenso OLG Celle, Beschl. v. 25.05.2010 - 2 Ws 169/10 und 170/10 - S. 11 f.)."
86
d) Ein abweichendes Ergebnis folgt letztlich auch nicht aus dem Urteil des 4.
Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 12.05.2010 - 4 StR 577/09. In dieser
Entscheidung, die keine Bindungswirkung entfaltet, vertritt der 4. Strafsenat die
Auffassung, § 2 Abs. 6 StGB sei mit Blick auf die Entscheidung des EGMR vom
17.12.2009 dahin auszulegen, dass § 66b Abs. 3 StGB nicht rückwirkend auf vor seinem
Inkrafttreten begangene Taten angewendet werden dürfe. Das nationale Recht sei
wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes unabhängig
vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit den
Bestimmungen der EMRK auszulegen. Nach Maßgabe dieser Grundsätze sei bei
konventionsgemäßer Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB die Regelung des Art. 7 Abs. 1 S.
2 EMRK als (einfach-) gesetzliche Ausnahmeregelung zu bewerten, die für die
87
Anordnung der Sicherungsverwahrung die Maßgeblichkeit des Tatzeitrechts vorsehe.
Die Anwendung des Tatzeitrechts würde im vorliegenden Fall die Dauer der
Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzen. Der Senat vermag diese
Rechtsansicht nicht zu teilen. Sie ist nach seiner Auffassung - wie vorstehend
ausführlich dargelegt - mit den Grundsätzen der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 14.10.2004 (BVerfGE 111, 307 ff. = NJW 2004, 3407
ff.) nicht zu vereinbaren, wonach deutsche Gerichte gehalten sind, den Regelungen der
Europäischen Menschenrechtskonvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im
Rahmen methodengerechter Gesetzesauslegung zu beachten und anzuwenden, und
sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit ihnen als auch ihre schematische
"Vollstreckung" gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
verstoßen kann.
Hinzu kommt, dass offenbar auch der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die
Rechtsauffassung des 4. Strafsenats nicht teilt. In einer ebenfalls am 12.05.2010
erlassenen Entscheidung (Az.: 2 StR 171/10) hat der 2. Strafsenat keine Bedenken
gegen die Anwendbarkeit des § 66b StGB geäußert, obwohl diese Norm auch in dem
von ihm entschiedenen Fall zum Zeitpunkt des Anlassurteils, das am 14. September
1995 erging, noch nicht in Kraft getreten war. Wäre nach Auffassung des 2. Strafsenats
das Tatzeitrecht für die Anordnung der Sicherungsverwahrung maßgeblich, so hätte die
von dem Senat getroffene Entscheidung, die auf die rechtsfehlerhafte Anwendung des §
66b Abs. 2 StGB gestützt wird und eine Zurückverweisung zur neuen
Sachverhaltsfeststellung beinhaltet, nicht ergehen dürfen, da die Möglichkeit der
nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung erst mit dem Gesetz zur
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I 2004,
S. 1838 ff.) geschaffen wurde (s. zum Ganzen auch OLG Koblenz B. v. 22.06.2010 - 1
Ws 240/10 und B. v. 01.07.2010 - 1 Ws 249/10).
88
e) Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in mittlerweile drei Verfahren auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung (Beschlüsse v. 22.12.2009 - 2 BvR 2365/09, vom
26.02.2010 - 2 BvR 769/10 [beide betreffend den rückwirkenden Fortfall der
Höchstgrenze bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung] und jüngst vom
30.06.2010 - 2 BvR 571/10 [betreffend die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB]) nicht veranlasst gesehen, die jeweiligen
Beschwerdeführer umstandslos auf freien Fuß zu setzen. Das wäre aber erforderlich
gewesen, wäre die Entscheidung des EGMR in diesen (Parallel)fällen zwingend
gleichsam 1:1 anzuwenden gewesen.
89
f) Die Maßregel ist auch nicht für erledigt zu erklären, weil eine gesetzgeberische
Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR noch nicht vorliege (In diesem Sinne
aber auch OLG Hamm B. v. 06.07.2010 - III-4 Ws 157/10 = BeckRS 2010 16545: es
solle "die Verantwortung auf die Gerichte abgeschoben werden"). Eine solche
Sichtweise erscheint verfrüht und wird den Realitäten des Gesetzgebungsprozesses
nicht gerecht: Das Urteil des EGMR (5. Sektion) vom 17.12.2009 ist durch Entscheidung
des Ausschusses der Großen Kammer vom 10.05.2010 endgültig geworden. Das
Bundeskabinett hat am 23.06.2010 Eckpunkte für gesetzgeberische Maßnahmen im
Bereich der Sicherungsverwahrung beschlossen. Wie das Bundesjustizministerium
mitteilt, sollen die Maßnahmen Vorgaben des Koalitionsvertrages vom 26.10.2009
umsetzen und dabei auch die Konsequenzen des Urteils des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 berücksichtigen (becklink 1002059 v.
23.06.2010). Es existiert bereits ein Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums, zu
90
dem schon Stellungnahmen der Länderjustizbehörden angefordert wurden. Vor dem
Hintergrund dieser zeitlichen Abfolge und dem Anliegen des Schutzes vor gefährlichen
Straftätern ist der Untergebrachte auch nicht wegen Ablaufs der 10-Jahres-Frist zu
entlassen. Insoweit kann eine Änderung nur durch den Gesetzgeber erfolgen.
g) In diesem Zusammenhang hat auch der 5. Strafsenat des BGH (Beschluss vom
21.07.2010 – 5 StR 60/10, Rn. 13, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen)
klargestellt: Die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der
Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des nationalen
Gesetzgebers hinreichend deutlich erkennbar wird.
91
h) § 67d Abs. 2 StGB ist zwingendes Recht (Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl.,
§ 67d Rn. 107), das bei gegebenen Voraussetzungen dem Gericht kein Ermessen
einräumt.
92