Urteil des LG Kleve vom 13.07.2009

LG Kleve: gefahr im verzug, anhörung, unterbringung, richterliche kontrolle, freiheitsentziehung, unverzüglich, behinderung, festnahme, krankheit, straftat

Landgericht Kleve, 4 T 206/09
Datum:
13.07.2009
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
4. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 T 206/09
Schlagworte:
Anhörung bei geschlossener Unterbringung
Normen:
FGG §§ 70 h Abs. 1, 69 f. Abs. 1 S. 4 2. Hablsatz, GG Art 104 Abs. 3
Leitsätze:
§ 70 h Abs. 1 i.V.m. § 69 f. Abs. 1 S. 4 2. Halbsatz FGG ist im Hinblick
auf die Verfahrensgarantie des Artikel 104 Abs. 3 GG dahin auszulegen,
dass der Betroffene spätestens am Tag nach der geschlossenen
Unterbringung von dem Richter zu vernehmen ist (Bestätigung des
Kammerbeschlusses vom 12.03.2009, Az: 4 T 67/09). Die Missachtung
der Verfahrensgarantie führt zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung. Wird gegen das Gebot der rechtzeitigen Anhörung
verstoßen, so drückt dieses Unterlassen nämlich den Mangel
rechtswidriger Freiheitsentziehung aus, der durch Nachholung der
Maßnahme nicht mehr zu tilgen ist.
Tenor:
Der Beschluss des Amtsgerichts Kleve vom 20.06.2009 wird
aufgehoben.
Das Ordnungsamt der Gemeinde xy beantragte am 20.06.2009 (7.42 Uhr) nach
Einholung eines ärztlichen Zeugnisses die sofortige Unterbringung des Betroffenen
gemäß § 14 PsychKG. Seit diesem Tag (einem Samstag) befindet sich der Betroffene in
der geschlossenen Unterbringung. Am 22.06.2009 (einem Montag) wurde die Anhörung
des Betroffenen nachgeholt. Gegen den Beschluss vom 20.06.2009 wendet sich der
Betroffene mit der Beschwerde vom 30.06.2009, bei Gericht eingegangen am
07.07.2009.
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II.
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Das Rechtsmittel des Betroffenen ist als sofortige Beschwerde gemäß § 70 m Abs. 1
FGG auszulegen und zulässig. In der Sache führt es zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung.
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Gemäß §§ 70 h Abs. 1, 69 f. Abs. 1 S. 4 2. Halbsatz FGG ist bei einstweiliger Anordnung
der geschlossenen Unterbringung vor persönlicher Anhörung des Betroffenen die
Anhörung unverzüglich nachzuholen. Nach der Rechtsprechung der Kammer
(Beschluss vom 12.03.2009, Az: 4 T 67/09) ist diese Bestimmung im Hinblick auf die
Verfahrensgarantie des Artikel 104 Abs. 3 GG dahin auszulegen, dass der Betroffene
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spätestens am Tag nach der geschlossenen Unterbringung von dem Richter zu
vernehmen ist. Tag ist jeder Kalendertag nach der geschlossenen Unterbringung, so
dass die Anhörung auch an Werktagen, an denen nicht gearbeitet wird, und an Sonn-
und Feiertagen durchzuführen ist. Unverzüglich bedeutet: ohne jede durch die Lage der
Sache nicht gerechtfertigte Verzögerung. Die Frist gestattet im Grundsatz - von den
Fällen höherer Gewalt abgesehen - keine Verzögerung. Die Missachtung der
Verfahrensgarantie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Wird gegen
das Gebot der rechtzeitigen Anhörung verstoßen, so drückt dieses Unterlassen nämlich
den Mangel rechtwidriger Freiheitsentziehung aus, der durch Nachholung der
Maßnahme nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfG NJW 1982, 691 f.; BVerfG NJW 1990,
2309f.; KG Berlin, FGPrax 2008, 40 f., zitiert nach juris).
Die genannte Fallsituation liegt hier aber vor: Obwohl der Antrag auf sofortige
Unterbringung bereits am 20.06.2009 um 7.42 Uhr per Telefax beim
Vormundschaftsgericht eingegangen war, ist weder an diesem noch am Folgetag eine
Anhörung des Betroffenen erfolgt.
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Speziell die Besonderheiten des vorliegenden Falles verdeutlichen zudem, warum die
Einhaltung der grundgesetzlichen Wertung des Artikel 104 Abs. 3 GG, wonach eine
einer Straftat verdächtige Person und damit erst recht eine Person, die an einer
psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung leidet und
deswegen besonders schutzwürdig ist, spätestens am Tage nach der Festnahme dem
Richter vorzuführen ist, auch aus sachlichen Gründen Verfassungsrang genießt.
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Im ärztlichen Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin x vom 20.06.2009, das zur
Grundlage für die Einweisung geworden ist, heißt es lediglich, aufgrund "der
psychischen Erkrankung" des Betroffenen sei es "im Rahmen von Alkoholmissbrauch
… zu Fremdaggressionen gegen Mitbewohner und Pflegepersonal gekommen". Damit
war aber nicht im Ansatz nachzuvollziehen, ob und gegebenenfalls welches
krankheitsbedingtes Verhalten tatsächlich bei dem Betroffenen vorlag und ob dieses zu
Fremdaggressionen geführt hatte, oder ob nicht bloße Alkoholisierung hierfür ursächlich
geworden war. Im letztgenannten Fall - also bei bloßer alkoholbedingter Enthemmung -
wäre der Betroffene jedoch zu Unrecht von Samstag bis Montag gegen seinen Willen
der Freiheit beraubt worden. Dass sich rückschauend - also bei einer Anhörung des
Betroffenen Tage später - die Richtigkeit der Diagnose einer psychischen Erkrankung
hätte bestätigen können, ändert nichts daran, dass die anfängliche richterliche
Entscheidung zur Freiheitsentziehung gegen den Willen des Betroffenen auf einer
unzureichenden Tatsachengrundlage beruhte und damit mit dem Makel einer
rechtswidrigen Freiheitsentziehung behaftet war, der rückwirkend nicht zu heilen ist.
Vorrangiger Zweck der Anhörung im Unterbringungsverfahren ist es nämlich, dem
Richter einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen, damit er in
den Stand gesetzt wird, ein klares und umfassendes Bild von der Persönlichkeit des
Unterzubringenden zu gewinnen und seiner Pflicht zu genügen, den ärztlichen
Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen ((vgl. BVerfG NJW 1982, 691 f.).
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Abschließend weist die Kammer auf Folgendes hin: Die Anordnung der einstweiligen
Unterbringung (bis zu 6 Wochen) durch den Vormundschaftsrichter hat ihre Grundlage
allein in § 11 PsychKG NRW in Verbindung mit § 70 h Abs. 1 und 2 FGG. Der im
angefochtenen Beschluss herangezogene § 14 PsychKG NRW ist demgegenüber nicht
anwendbar, weil diese Vorschrift lediglich regelt, unter welchen Voraussetzungen die
örtliche Ordnungsbehörde die sofortige Unterbringung des Betroffenen ohne vorherige
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gerichtliche Entscheidung vornehmen darf. Das Vormundschaftsgericht seinerseits darf
durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme nur dann
treffen, wenn die gemäß § 70 h Abs. 1 i.V.m. § 69 f. Abs. 1 FGG vorliegenden
Voraussetzungen vorliegen. Dazu gehört auch (§ 69 f. Abs. 1 S. 1 Nr. 4 FGG), dass der
Betroffene persönlich angehört worden ist. Nur bei Gefahr im Verzug kann das Gericht
die einstweilige Anordnung gemäß § 69 f. Abs. 1 S. 4 FGG bereits vor der persönlichen
Anhörung des Betroffenen erlassen, wobei die Gefahr bei "Gefahr im Verzug" einen
besonderen Ausprägungsgrad haben muss. Dabei ist nicht darauf abzustellen, dass die
Unterbringungsmaßnahme wegen drohender Nachteile für den Betroffenen oder (bei
der öffentlich-rechtlichen Unterbringung) für Dritte so dringend ist, dass keine Zeit für
eine vorherige Anhörung verbleibt (vgl. KG Berlin FGPrax 2008, 40 ff.; zit. nach juris).
Deshalb kann etwa aus dem Umstand, dass ein Betroffener von der Polizei oder der
Feuerwehr in Handschellen in die Klinik gebracht wird, eine solche Eilbedürftigkeit nicht
hergeleitet werden. Eine solche Gefahr im Verzug besteht in der Regel dann nicht mehr,
sofern die Ordnungsbehörde in Anwendung ihres Anordnungsrechts gemäß § 14
PsychKG NRW die sofortige Unterbringung des Betroffenen ohne vorherige gerichtliche
Anordnung veranlasst hat. Zudem ist auch bei Gefahr im Verzug die Verfahrensgarantie
des § 69 f. Abs. 1 Nr. 4 FGG eingeschränkt: Die einstweilige Anordnung kann in diesem
Fall bereits vor der persönlichen Anhörung des Betroffenen erlassen werden; jedoch
sind die Verfahrenshandlungen unverzüglich nachzuholen. Das Gesetz gestattet also
nur eine zeitweilige Verschiebung dieser Verfahrenshandlungen. Das Gebot, den
Betroffenen vor Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich mündlich
anzuhören, gehört nämlich zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung
Artikel 101 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Unverzüglich im
Sinne des § 69 f. Abs. 1 S. 4 2. Halbsatz FGG ist dabei bei einstweiliger Anordnung der
Freiheitsentziehung vor persönlicher Anhörung des Betroffenen die Anhörung nur dann,
wenn der Betroffene spätestens am Tage nach der Festnahme von dem Richter zu
vernehmen ist. Denn die an einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen
Behinderung leidende Person ist - wie schon angesprochen - mindestens ebenso
schutzwürdig wie die einer Straftat verdächtige Person.
Von der Anhörung der Ordnungsbehörde vor Aufhebung der Unterbringungsanordnung
konnte hier abgesehen werden, weil der zur Aufhebung führende Verfahrensverstoss
nicht heilbar ist (70 i Abs. 1 S. 2 FGG).
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