Urteil des LG Kleve vom 31.05.2010

LG Kleve (ärztliche behandlung, ernährung, patientenverfügung, genehmigung, verschlechterung des gesundheitszustandes, einstellung, arzt, einwilligung, körperliche unversehrtheit, antrag)

Landgericht Kleve, 4 T 77/10
Datum:
31.05.2010
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
4. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 T 77/10
Leitsätze:
1. Besteht zwischen Arzt und Betreuer in dem nach § 1901 b BGB zu
führenden Gespräch Einvernehmen darüber, dass die ERteilung, die
Verweigerung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine
lebenserhaltende ärztliche Behandlung (künstliche Ernährung mittels
Ernährungssonde) dem in einer Patientenverfügung niedergelegten
Willen des Betroffenen entspricht, und schaltet der Betreuer gleichwohl
das Betreuungsgericht ein, so hat dieses lediglich auszusprechen, dass
die Genehmigungsbedürftigkeit gemäß § 1904 Abs. 4 BGB nicht besteht
(sog. Negativattest).
2. Vor Erteilung des Negativattestes hat aber das Betreuungsgericht zu
Vermeidung eines Missbrauchs zu prüfen, ob zureichende tatsächliche
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bei dem Betroffenen ein
irreversibles Grundleiden mit tödlichen Verlauf - sei es auch noch ohne
Todesnähe - besteht, und die Auslegung der Patientenverfügung in dem
vom Betreuer und dem behandelnden Arzt versandenen Sinne jdenfalls
vertretbar erscheint.
Tenor:
Der Beschluss des Amtsgerichts Rheinberg vom 09.02.2010 wird
aufgehoben.
Die Entscheidung des Betreuers, die künstliche Ernährung mittels einer
Ernährungssonde bei der Betroffenen einzustellen, bedarf keiner
vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung
G r ü n d e :
1
I.
2
Die Betroffene erlitt am 26.06.2007 einen Hinterwandinfarkt und befindet sich in einem
sog. Wachkoma verbunden mit einer schwersten muskulären Tetraspastik. Seit dem
14.09.2007 wird die Betroffene auf der Wachkomastation des Marienstiftes in B gepflegt.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Zz vom 26.11.2007 wurde der Ehemann der
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Betroffenen, der Beteiligte zu 1), zum Betreuer der Betroffenen für alle Angelegenheiten
bestellt.
Mit Schreiben vom 21.07.2008 (Bl. 39 f. GA) beantragte der Beteiligte zu 1) die
"Einstellung der Einnahme von Nahrung und Flüssigkeit". Zur Begründung verwies er
u.a. auf das sozialmedizinische Gutachten vom 12.06.2008 (Bl. 44 ff. GA) . Weiter führte
er aus, dass lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr angebracht seien, da sie
Betroffene an einer schweren schmerzhaften spastischen Lähmung leide. Mit Schreiben
vom 15.09.2008 reichte der Beteiligte zu 1) eine sog. Patientenverfügung der
Betroffenen vom 21.02.2005 zur Akte. Hinsichtlich des genauen Inhaltes wird auf diese
verwiesen (Bl. 61 GA). Mit Beschluss des Amtsgerichts Zz vom 08.01.2009 (AZ: 2 XVII
418/07, Bl. 69 ff. GA) wurde der Antrag des Beteiligten zu 1) abgelehnt. Zur Begründung
führte das Amtsgericht u.a. aus, dass nicht ersichtlich sei, dass das Grundleiden der
Betroffene einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe. Zudem sei der
Abbruch der Ernährung durch die PEG-Sonde nicht durch die Patientenverfügung
gedeckt.
4
Mit Anwaltsschriftsatz vom 4. Dezember 2009 (Bl. 78 f. GA) hat der Beteiligte zu 1)
beantragt, seine Entscheidung, die künstliche Ernährung mittels Ernährungssonde bei
der Betreuten einzustellen, vormundschaftlich zu genehmigen. Zur Begründung führte er
u.a. an: Der Gesundheitszustand der Betroffenen habe sich drastisch verschlechtert.
Nunmehr stehe fest, dass sie für immer ohne Bewusstsein sein werde und kognitive
Denkvorgänge der Großhirnrinde unmöglich seien. Die schweren Krampfanfälle hätten
derart zugenommen, dass es insbesondere an den Fingern schon zu Brüchen
gekommen sei. Eine Behandlung der Verkrampfungen sei nicht möglich, so dass
alternativ bereits die Amputation der Extremitäten angedeutet worden sei. Die
Einstellung der künstlichen Ernährung entspreche dem Willen der Betroffene, der in der
Patientenverfügung vom 21.02.2005 zum Ausdruck gekommen sei. Daher hätten zwei
der derzeit behandelnden Ärzte festgestellt, dass die Betroffene kein
menschenwürdiges Leben mehr führe.
5
In einem Schreiben des behandelnden Arztes Dr. xx vom 22.11.2009 (vgl. Anlage 2, Bl.
85 GA) heißt es u.a., dass bei der Betroffenen ein qualvoller Sterbeprozess eingesetzt
habe und er nach reiflicher Überlegung und Abwägung dringend zur Einstellung der
künstlichen Ernährung raten möchte. In dem Schreiben des weiteren behandelnden
Arztes Dr. aa vom 24.11.2009 (vgl. Anlage 3, Bl. 86 GA) führte dieser u.a. aus, dass er
über die Patientenverfügung informiert sei und er sich mit dem Beteiligten zu 1) darüber
unterhalten habe. Eine Behandlung sei nicht möglich, so dass die Betroffene aufgrund
der schweren Hirnschädigungen "kein menschenwürdiges Leben" mehr führe.
6
Mit Beschluss des Amtsgerichts Zz von 09.02.2010 ist der Antrag des Beteiligten zu 1),
die Einstellung der künstlichen Ernährung zu genehmigen, zurückgewiesen worden. Zur
Begründung führte das Amtsgericht u.a. aus: Auch nach der Verschlechterung des
Gesundheitszustandes der Betroffenen sei nicht ersichtlich, dass das Grundleiden der
Betroffenen einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe. Im Übrigen sei die
Einstellung der künstlichen Ernährung nicht von ihrer Patientenverfügung erfasst, die
eng auszulegen sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Betroffene Hungers
sterben wolle.
7
Hiergegen hat der Beteiligte zu 1) mit anwaltlichem Schriftsatz vom 03.03.2010
Beschwerde eingelegt, mit der er u.a. ausgeführt hat, dass die Einstellung der
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künstlichen Ernährung dem Willen der Betroffenen, wie er in der Patientenverfügung
zum Ausdruck gekommen sei, entspreche. Mit Beschluss vom 05.03.2010 hat des
Amtsgerichts Zz der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache der Kammer zur
Entscheidung vorgelegt.
Die Kammer hat mit Verfügung vom 22.04.2010 (vgl. Bl. 120 GA) schriftliche
Stellungnahmen der behandelnden Ärzte Dr. xx und Dr. aa zu der Frage eingeholt, ob
im Rahmen eines Gespräches zur Feststellung des Patientenwillens der Betroffenen
zwischen den behandelnden Ärzten und dem Betreuer Einvernehmen darüber erzielt
worden ist, dass die Beendigung der künstlichen Ernährung der Betroffenen über die
Ernährungssonde dem in ihrer Patientenverfügung vom 21.02.2005 erkennbar
gewordenen Willen entspricht. Dies ist von dem behandelnden Arzt Dr. xx mit Schreiben
vom 03.05.2010 (Bl. 125 GA) und von dem behandelnden Arzt Dr. aa mit Schreiben vom
05.05.2010 (Bl. 126 GA) bestätigt worden.
9
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Akteninhalt
verwiesen.
10
II.
11
Die Beschwerde ist gemäß den §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1 und 303 Abs. 1 FamFG
zulässig. In der Sache führt sie zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Der
Antrag des Betreuers vom 4. Dezember 2009 ist unzulässig, weil – wie noch
auszuführen sein wird – die Genehmigungsbedürftigkeit gemäß § 1904 Abs. 4 BGB
nicht gegeben und eine Entscheidung in der Sache (Genehmigung der Entscheidung
des Betreuers) daher nicht erforderlich ist (§ 1904 Abs. 4 BGB). Da das Amtsgericht im
Widerspruch hierzu mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag des Beteiligten zu 1),
die Einstellung der künstlichen Ernährung zu genehmigen, zurückgewiesen hat, bedarf
es der förmlichen Aufhebung des Beschlusses.
12
1.
13
Die mit Anwaltsschriftsatz vom 4. Dezember 2009 (Bl. 78 f. GA) beantragte
vormundschaftliche Genehmigung der Entscheidung des Betreuers, die künstliche
Ernährung mittels Ernährungssonde bei der Betreuten einzustellen, beurteilt sich nach
"neuem" Recht (§ 298 FamFG, §§ 1901a und b, 1904 BGB n. F.).
14
Das FamFG ist Teil des Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in
Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz - FGG-RG), das
am 1. September 2009 in Kraft getreten ist und das FGG ersetzt hat, Art. 112 Abs. 1
FGG-RG. Auf Verfahren, die bis zum Inkrafttreten des FGG-RG eingeleitet worden sind
oder deren Einleitung bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes beantragt wurden, sind die
vor dem Inkrafttreten des FGG-RG geltenden Vorschriften anzuwenden; dabei stellt ein
selbständiges Verfahren im Sinne der vorbezeichneten Vorschrift jedes gerichtliche
Verfahren dar, das mit einer Endentscheidung abgeschlossen wird, Art. 111 Abs. 1 S. 1
sowie Abs. 2 FGG-RG.
15
Die Übergangsregelung des Art. 111 FGG-RG erstreckt sich einheitlich auf die
Durchführung des Verfahrens in allen Instanzen: Ist das Verfahren in I. Instanz noch
nach "altem Recht" eingeleitet worden, erfolgt auch die Durchführung des
Rechtsmittelverfahrens nach früher geltendem Recht. Mit anderen Worten findet die
16
Rechtsmittelvorschrift des "neuen" Rechts nur Anwendung, wenn bereits das
erstinstanzliche Verfahren nach dem FamFG geführt wurde (vgl. Beschluss des OLG
Düsseldorf vom 11. Januar 2010, Az.: I-3 Wx 265/09).
Im vorliegenden Fall stellte der Beschluss des Amtsgerichts Zz vom 8. Januar 2009 (Bl.
69 f. GA), mit dem der Antrag des Betreuers vom 21. Juli 2008 auf Genehmigung der
"Einstellung der Einnahme von Nahrung und Flüssigkeit" durch die Betroffene
zurückgewiesen wurde, eine Endentscheidung im Sinne des § 111 Abs. 2 FGG-RG dar.
Denn eine Endentscheidung im genannten Sinne ist nach der Legal- definition in § 38
Abs. 1 S. 1 FamFG jede Entscheidung, durch die der Verfahrensgegenstand ganz oder
teilweise erledigt wird. Das hat zur Folge, dass der mit Anwaltsschriftsatz vom 4.
Dezember 2009 (Bl. 78 ff. GA) gestellte Antrag des Betreuers auf vormundschaftliche
Genehmigung der Entscheidung, die künstliche Ernährung mittels Ernährungssonde bei
der Betreuten einzustellen, als "neuer" Antrag zu bewerten ist, für den das "neue" Recht
gilt.
17
2.
18
Durch das Gesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2286; 3.
Betreuungsrechtsänderungsgesetz), das zeitgleich mit dem FamFG in Kraft getreten ist,
wurde erstmals eine gesetzliche Regelung zur Verweigerung bzw. zum Widerruf der
Einwilligung des Betreuers in die lebenserhaltende ärztliche Behandlung getroffen. Die
Regelung lehnt sich eng an die im Wege der Rechtsfortbildung entwickelten Grundsätze
der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18. März 2003 an (vgl. BGH NJW 2003,
1588 f.). Nach der Neuregelung des § 1904 Abs. 2 BGB bedarf die Erklärung des
Betreuers, die künstliche Ernährung mittels Ernährungssonde bei der Betreuten
einzustellen, an sich der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Das
Genehmigungserfordernis des § 1904 Abs. 2 BGB dient hierbei dem Schutz des
Betroffenen. Die Kontrolle durch das Betreuungsgericht wird aber in den beiden
folgenden Absätzen von § 1904 BGB wieder eingeschränkt, indem in Abs. 3 die
gerichtliche Genehmigung erleichtert und in Abs. 4 sogar gänzlich darauf verzichtet
wird. Dem Gesetzgeber erschien es als ausreichende Sicherung, wenn der
genehmigungsbedürftige ärztliche Eingriff oder dessen Unterbleiben bzw. der Widerruf
der Einwilligung durch den Betreuer gegebenenfalls obendrein auch noch im
Einvernehmen mit dem behandelnden Arzt "dem Willen des Betroffenen entspricht."
Gemäß § 1904 Abs. 4 BGB ist deswegen die Einschaltung des Betreuungsgerichts nicht
erforderlich, wenn zwischen Arzt und Betreuer in dem nach § 1901 b BGB zu führenden
Gespräch Einvernehmen darüber erzielt wird, dass die Erteilung, die Verweigerung oder
der Widerruf der Einwilligung jedenfalls dem in einer Patientenverfügung
niedergelegten Willen des Betroffenen entspricht. Der nicht gänzlich
auszuschließenden Missbrauchsgefahr wird hierbei zum Einen dadurch wirksam
begegnet, dass jeder Dritte, insbesondere auch andere Vertrauenspersonen, aufgrund
des Amtsermittlungsprinzips jederzeit die Entscheidung des Betreuers überprüfen
lassen kann (vgl. Palandt/ Diederichsen, BGB, 69. Aufl., § 1904 Rdnr. 20 u. 22; Budde,
in Keidel, FamFG, 16. Aufl., § 298 Rdnr. 5). Zum Anderen geht auch vom Strafrecht eine
wirksame Prävention aus; denn bei zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für ein
sachfremdes oder gar kollusives Zusammenwirken müssen Arzt und Betreuer mit einem
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen eines Körperverletzungs- oder gar
Tötungsdelikts rechnen (vgl. BT-Drucks. 16/8442 S. 19). Liegt - wie vorliegend - kein
Verdacht auf einen Missbrauch vor, soll die Umsetzung des Patientenwillens aber nicht
durch ein – sich ggf. durch mehrere Instanzen hinziehendes –
19
vormundschaftsgerichtliches Verfahren belastet werden. Die Durchsetzung des
Patientenwillens würde erheblich verzögert oder gar unmöglich gemacht, da für die
Dauer des Verfahrens die in Rede stehenden Maßnahmen in der Regel zunächst nicht
eingeleitet werden können oder eingeleitet oder fortgeführt werden müssten und damit
massiv in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen eingegriffen würde. Das gilt
sowohl für die Einwilligung des Betreuers in eine Maßnahme nach § 1904 Abs. 1 als
auch die Nichteinwilligung oder den Widerruf der Einwilligung nach Absatz 2 (vgl. BT-
Drucks. 16/8442 S. 19).
Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass ein bestimmtes Geschäft nach dem Gesetz
keiner Genehmigung bedarf, hat es einen entsprechenden Antrag abzuweisen bzw. ein
Negativzeugnis auszustellen. Darin liegt schon deshalb keine konkludente
Genehmigung, weil eine Prüfung der Interessen des Betroffenen durch das Gericht in
der Regel gar nicht stattgefunden hat (vgl. Palandt/Diederichsen, a.a.O., § 1828 Rdnr.
18 m.w.N.).
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Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall war lediglich ein Negativattest zu
erteilen, also das Zeugnis, dass die von dem Beteiligten zu 1) beantragte Genehmigung
nicht erforderlich ist. Ausweislich der mit Anwaltsschriftsatz vom 4. Dezember 2009
vorgelegten Bestätigung des Dr. xx vom 22. November 2009 (Anl. 2 = Bl. 85 GA) und der
Bestätigung des Dr. aa vom 24. November 2009 (Anl. 3 = Bl. 86 GA) besteht zwischen
den beiden genannten Medizinern als "behandelnden Ärzten" (§ 1904 Abs. 4 BGB) und
dem Betreuer Einvernehmen darüber, dass die Beendigung der künstlichen Ernährung
der Betroffenen über Ernährungssonde dem in ihrer Patientenverfügung vom 21.
Februar 2005 (Anl. 1 = Bl. 84 GA) erkennbar gewordenen Willen entspricht (§ 1901 a
Abs. 1 BGB). Diesbezüglich hat es auch ausweislich des Inhaltes der vorzitierten
ärztlichen Bestätigungen zwischen den behandelnden Ärzten und dem Betreuer ein
Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens der Betroffenen gegeben (§ 1901 b
BGB). Dies wurde von den behandelnden Ärzten Dr. xx und Dr. aa ausdrücklich
nochmals in ihren Schreiben vom 03.05.2010 (Bl. 125 GA) und vom 05.05.2010 (Bl. 126
f. GA) bestätigt. Beide Ärzte führten an, dass zwischen ihnen und dem Betreuer Einigkeit
darüber besteht, dass die Einstellung der künstlichen Ernährung dem Willen der
Betroffenen entspricht, wie er in der Patientenverfügung vom 21.02.2005 zum Ausdruck
gekommen ist.
21
Weiter hat auch der Verfahrenspfleger der Betroffenen mit den Anwaltsschriftsätzen vom
13. April 2010 (Bl. 115 GA) und vom 28. Dezember 2009 (Bl. 116 GA) zum Ausdruck
gebracht, dass auch er die Einstellung der künstlichen Ernährung der Betroffenen als
durch ihren in der Patientenverfügung vom 21. Februar 2005 erklärten Willen der
Betroffenen abgedeckt sieht. Damit ist den Erfordernissen des § 1904 Abs. 4 BGB im
Ergebnis umfassend Genüge geleistet.
22
3.
23
Die Erklärung des Betreuers, die künstliche Ernährung der Betroffenen mittels
Ernährungssonde einzustellen, bedarf auch nicht deswegen der Genehmigung des
Betreuungsgerichtes, weil - so das Amtsgericht im angefochtenen Beschluss - der
Sterbeprozess der Betroffenen noch nicht eingesetzt hat und sich ihrer
Patientenverfügung auch nicht ausreichend entnehmen lässt, dass die Betroffene
"Hungers sterben will".
24
Ein Leiden mit irreversiblem tödlichen Verlauf liegt nicht nur dann vor, wenn der Tod in
kurzer Zeit bevorsteht. Insoweit ist vielmehr zwischen Hilfe beim Sterben, kurz:
Sterbehilfe, und Hilfe zum Sterben oder Sterbehilfe im weiteren Sinne zu differenzieren.
Sterbehilfe setzt danach voraus, dass das Grundleiden eines Kranken nach ärztlicher
Überzeugung unumkehrbar (irreversibel) ist, einen tödlichen Verlauf angenommen hat
und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird. Doch auch in dem Fall, in dem der
Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat, ist danach der Abbruch einer einzelnen
lebenserhaltenden Maßnahme bei entsprechendem Patientenwillen als Ausdruck der
allgemeinen Entscheidungsfreiheit und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit
grundsätzlich anzuerkennen. Für diesen Fall sind jedoch an die Annahme des
mutmaßlichen Willens erhöhte Anforderungen zu stellen gegenüber der Sterbehilfe im
eigentlichen Sinne. Aus der Differenzierung der Sterbehilfe folgt demnach nicht, dass
dann, wenn das Kriterium des "unmittelbar bevorstehenden Todes" fehlt, die
Genehmigung der Einwilligung in den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen nicht
erteilt werden darf, sondern es werden lediglich höhere Anforderungen an die Ermittlung
und Annahme des mutmaßlichen Willens gestellt. Dass der Bundesgerichtshof das
Kriterium des unmittelbar bevorstehenden Todes nicht für maßgeblich erachtet, erhellt
die Feststellung, dass das Vormundschaftsgericht der Entscheidung des Betreuers
zustimmen müsse, wenn feststehe, dass die Krankheit des Betroffenen einen
irreversiblen tödlichen Verlauf genommen habe und die ärztlicherseits angebotene
Behandlung dem früher erklärten und fortgeltenden Willen des Betroffenen, hilfsweise
dessen (individuell-) mutmaßlichen Willen widerspreche (vgl. OLG Karlsruhe, NJW
2004, 1882 f. m.w.N, dort noch zum "alten Recht"; Palandt/Diederichsen, a.a.O., BGB, §
1901 a Rdnr. 7).
25
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kommt allerdings die Einwilligung
des Betreuers in den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen nur in Betracht, falls
bei dem Betroffenen tatsächlich auch ein irreversibles Grundleiden mit tödlichem Verlauf
- gegebenenfalls noch ohne Todesnähe – besteht und hierüber in dem zwischen Arzt
und Betreuer nach § 1901 b BGB zu führenden Gespräch Einvernehmen herrscht. Erst
in der genannten Situation stellt sich dann auch die weitere Frage, ob sich beide
ebenfalls darin einig sind, dass die Erteilung, die Verweigerung oder der Widerruf der
Einwilligung jedenfalls dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen des
Betroffenen entspricht. Denn ist dies der Fall, aber auch nur dann, ist – wie ausgeführt -
die Einschaltung des Betreuungsgerichts gemäß § 1904 Abs. 4 BGB entbehrlich. Der
eingangs genannte Gesichtspunkt verpflichtet hierbei das Betreuungsgericht auch, vor
der Erteilung des Negativattestes jedenfalls zu prüfen, ob zureichende tatsächliche
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bei dem Betroffenen ein irreversibles Grundleiden
mit tödlichem Verlauf - sei es auch noch ohne Todesnähe – vorliegt, und die Auslegung
der Patientenverfügung in dem vom Betreuer und dem behandelnden Arzt verstandenen
Sinne jedenfalls vertretbar erscheint. Denn nur wenn kein Verdacht auf einen
Missbrauch vorliegt, soll ausweislich der amtlichen Begründung (vgl. BT-Drucks.
16/8442 S. 19) die Umsetzung des Patientenwillens nicht durch ein – sich ggf. durch
mehrere Instanzen hinziehendes – vormundschaftsgerichtliches Verfahren belastet
werden. Insoweit macht es aber keinen Unterschied, ob zur Vermeidung der nicht
auszuschließenden Missbrauchsgefahr ein Dritter, insbesondere eine andere
Vertrauensperson, die Entscheidung des Betreuers überprüfen lassen will oder sich
dieser selbst mit der entsprechenden Zielrichtung an das Betreuungsgericht wende.
26
Von solchen zureichenden tatsächlichen Anhaltpunkten für ein irreversibles
Grundleiden der Betroffenen mit tödlichem Verlauf - allerdings ohne Todesnähe - ist hier
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nach den übereinstimmenden Bewertungen der behandelnden Ärzte aber auszugehen.
Auch legt die Auslegung der Patientenverfügung vom 21.02.2005 nahe, dass die
Einstellung der künstlichen Ernährung in dieser Situation von der Betroffenen gewollt
und damit das von dem Betreuer und den behandelnden Ärzten zugrunde gelegte
Verständnis jedenfalls vertretbar ist. All das lässt die Gefahr des Missbrauchs als
ausreichend ausgeräumt erscheinen.
Nach den Ausführungen im Attest des Dr. med. xx vom 22. November 2009 (Anl. 2 = Bl.
85 GA) besteht bei der Betroffenen als Folge eines Myokardinfarktes ein hypoxischer
Hirnschaden und hat sich ihr Krankheitsbild seitdem trotz aufwendiger medizinischer
Maßnahmen zunehmend verschlechtert. Die bestehenden Schädigungen können nicht
mehr geheilt werden, auch von einer Besserung und Linderung sei in keinem Fall mehr
auszugehen. Die Erkrankung werde "in jedem Fall einen tödlichen Verlauf nehmen".
Bei der Betroffenen habe auch - so Dr. xx abschließend - bereits ein qualvoller
Sterbeprozess eingesetzt, welcher auch durch verschiedene Medikamente nicht mehr
gelindert werden könne. Insoweit führe die Fortsetzung der künstlichen Ernährung nur
zu einer qualvollen Leidensverlängerung für sie.
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Dieselbe Einschätzung findet sich auch in den ärztlichen Attesten des Dr. med. aa vom
24. November 2009 (Anl. 3 = Bl. 86 GA) und vom 5. Mai 2010 (Bl. 126 GA).
Insbesondere im letztgenannten Schreiben führt Dr. aa aus: Wie bekannt, habe die
Betroffene einen ausgeprägten Herzinfarkt mit Herzstillstand erlitten. Die anschließende
Wiederbelebung habe zu einer Sauerstoffmangelsituation im Gehirn geführt, so dass es
zu einer Dezerebration und in deren Folge zu einem Wachkomazustand gekommen sei.
Er selbst betreue die Betroffene seit 2007. Während der zurückliegenden 2 ½ Jahre
habe sich ihr Zustand nicht verbessert oder stabilisiert. Im Gegenteil seien trotz hoher
Medikation immer wieder epileptische Anfälle aufgetreten, welche nicht zum Stillstand
hätten gebracht werden können. Aufgrund der schweren Hirnschädigung führe die
Betroffene kein "menschenwürdiges Leben" mehr und sei - so Dr. aa - eine Behebung
ihrer schweren Hirnschädigung "nicht möglich".
29
Exakt diese Situation hat aber die Betroffene in ihrer Patientenverfügung vom
21.02.2005 angesprochen. Dort erklärt sie ausdrücklich, "dass im Falle einer zum Tode
führenden Krankheit von allen lebensverlängernden Maßnahmen abzusehen ist" und
sie keine Therapie mehr will, "wenn mindestens zwei Ärzte festgestellt haben, dass ich
kein menschenwürdiges Leben mehr führen kann und meine Schädigung nicht mehr zu
beheben ist." Insoweit trifft die aktuelle Lebenssituation auf die Festlegungen der
Patientenverfügung zu (§ 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB), auch wenn nicht ausdrücklich von
der "Einstellung der künstlichen Ernährung" die Rede ist. Damit ist dem
Bestimmtheitsgebot ausreichend Rechnung getragen und die Auslegung der
Patientenverfügung in dem vom Betreuer und dem behandelnden Arzt verstandenen
Sinne jedenfalls vertretbar. Denn maßgeblich ist nicht, dass der Betroffene seine eigene
Biografie als Patient vorausahnt, sondern dass er umschreibend festgelegt hat, was er in
bestimmten Lebens- und Behandlungssituationen wollte. Der Patientenverfügung muss
sich also lediglich eine bestimmte Entscheidung für oder gegen den aktuellen und
konkret in Frage stehenden ärztlichen Eingriff entnehmen lassen (vgl.
Palandt/Diederichsen, a.a.O., § 1901 a Rdnr. 18 m.w.N.). Das ist hier aber aus den
genannten Gründen ausreichend zu bejahen.
30
An der Richtigkeit der vorstehend zitierten ärztlichen Ausführungen zum
Erkrankungszustand der Betroffenen zweifelt die Kammer nicht. Vor diesem Hintergrund
31
bedarf es aber im Streitfall keiner vormundschaftlichen Genehmigung der Entscheidung
des Betreuers, die künstliche Ernährung mittels Ernährungssonde bei der Betreuten
einzustellen. Denn - wie ausgeführt – sind sich die behandelnden Ärzte und der
Betreuer in dem nach § 1901 b BGB zu führenden Gespräch auch in zumindest
vertretbarer Weise darüber einig geworden, dass der Widerruf des Betreuers in die
lebenserhaltende ärztliche Behandlung dem in der Patientenverfügung niedergelegten
Willen des Betroffenen entspricht. Für diesen Fall soll jedoch die Umsetzung des
Patientenwillens gerade nicht durch ein - sich gegebenenfalls durch mehrere Instanzen
hinziehendes - vormundschaftsgerichtliches Verfahren belastet werden.