Urteil des LG Kiel vom 02.04.2017

LG Kiel: vollstreckung der strafe, vorzeitige entlassung, strafvollzug, bewährung, aussetzung, anwendungsbereich, begriff, amnestie, straferlass, bekanntgabe

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Gericht:
LG Kiel 41.
Strafvollstreckungskammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
41 StVK 104/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 57 StGB, § 57a StGB,
§ 68f Abs 1 StGB
Eintritt der Führungsaufsicht nach der vollständigen
Vollstreckung der Strafe
Tenor
1) Die gemäß § 68 f Abs. 1 StGB eingetretene Führungsaufsicht bleibt
aufrechterhalten (§ 68 f Abs. 2 StGB).
(…)
Gründe
Der Verurteilte hat vom 20. Mai bis zum 4. November 2009 den Rest einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und einem Monat aus dem Urteil des
Amtsgerichts Flensburg vom (Az. ) verbüßt, nachdem zunächst ein Teil der Strafe
vollstreckt, die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährung dann
widerrufen worden war. Die Entlassung des Verurteilten aus der Haft am 4.
November 2009, rund zwei Wochen vor dem auf den 17. November 2009 notierten
Strafende, sowie der Erlass des dann noch verbliebenen Strafrestes erfolgte aus
Anlass des Weihnachtsfestes 2009 aufgrund des Erlasses des Ministeriums für
Justiz, Arbeit und Europa des Landes Schleswig-Holstein vom 21. August 2009 (Az.
II 304/4250 E –144 SH–).
Aufgrund der vollständigen Vollstreckung der Strafe ist gemäß § 68 f Abs. 1 StGB
Führungsaufsicht eingetreten. Dem steht der gnadenweise Erlass eines Teils der
Strafe nicht entgegen ( , StraFo 2008, 262; , StV 2007, 608;
, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 5. Aufl., § 16 Rn. 7; a.A.
bei Ernesti/Lorenzen, SchlHA 1982, 100; , JR 1979, 293; NStZ
2004, 228; StraFo 2008, 261; , StGB, 57. Aufl., § 68 f Rn. 6; , in:
Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 68 f Rn. 5). Denn im Sinne dieser Vorschrift
ist eine Freiheitsstrafe dann als „vollständig vollstreckt“ anzusehen, wenn, wie hier,
kein Strafrest verbleibt, welcher verbüßt oder ausgesetzt werden könnte.
Diese Auslegung ist nicht nur mit dem Wortlaut der Vorschrift ohne Weiteres
vereinbar, da der Begriff „vollständig“ im allgemeinen Sprachgebrauch in Sinne
von „restlos“ verstanden werden kann ( , a.a.O., a.A. , StraFo 2008,
261; RuP 2009, 216). Sie erschließt sich darüber hinaus auch zwanglos im
Zusammenhang mit der amtlichen Überschrift der Vorschrift. Dort wird ihr
Anwendungsbereich mit „Nichtaussetzung des Strafrestes“ umschrieben. Diese
Formulierung wird im Normtext nicht wiederholt. Es drängt sich daher auf, dass sie
sich nach der Vorstellung des Gesetzgebers mit dem Tatbestandsmerkmal
„vollständig vollstreckt“ deckt. Auch die korrespondierende Formulierung
„Aussetzung des Strafrestes“ in der amtlichen Überschrift von §§ 57, 57a StGB
lässt eine gesetzgeberische Konzeption erkennen, wonach § 68 f StGB all jene
Fälle erfassen soll, in denen keine Strafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB erfolgt.
Schließlich entspricht diese Sichtweise dem Zweck der Vorschrift, auch bei solchen
Verurteilten, bei denen mangels ausgesetzten Strafrests die §§ 57, 57a, 56 c und
56 d StGB unanwendbar sind, nach langer Verbüßungsdauer die Beiordnung eines
Bewährungshelfers sowie die Auferlegung von Weisungen zu ermöglichen.
Dass die vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug eine vollständige
Vollstreckung nicht grundsätzlich ausschließt, ist etwa bei einer Vorverlegung des
Entlassungszeitpunktes nach § 16 Abs. 3 StVollzG allgemein anerkannt (vgl. etwa
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Entlassungszeitpunktes nach § 16 Abs. 3 StVollzG allgemein anerkannt (vgl. etwa
, NStZ 2004, 228; a.a.O.). Deren Zweck ist mit dem einer
Weihnachtsamnestie vergleichbar, so dass eine Gleichbehandlung dieser
Fallgruppen geboten erscheint ( , a.a.O.). Eine Differenzierung kann
insbesondere nicht damit begründet werden, dass eine Amnestie, anders als eine
Entscheidung nach § 16 Abs. 3 StVollzG, nicht auf dem Gesetz beruhe, sondern
auf einem politischen Gnadenakt (so aber , NStZ 2004, 228). Denn das
Begnadigungsrecht stellt keineswegs ein extralegales Instrument der Politik dar,
sondern ist gesetzlich verankert – bundesrechtlich in § 452 StPO, auf Landesebene
in Art. 32 der Schleswig-Holsteinischen Verfassung – und kann durchaus
materiellen landesverfassungsrechtlichen Bindungen unterworfen sein,
insbesondere dem rechtsstaatlichen Mindeststandard des Willkürverbots (so
, NJW 1974, 791; , NJW 1966, 443; offen ,
Beschluss vom 9. Juni 1993, Az. VGH B 5/93 – Juris). Vor allem aber ist die
Annahme keineswegs zwingend, dass es für die Vollständigkeit der Vollstreckung
relevant sei, in welchem Maße die vollzugsbeendende Maßnahme rechtlich
determiniert ist. Schließlich hängt auch eine mangelnde gerichtliche
Überprüfbarkeit von Gnadenakten nicht mit der Frage der Vollständigkeit der
Vollstreckung zusammen.
Es kann offen bleiben, ob § 68 f Abs. 1 StGB im Falle eines gnadenweisen
Straferlasses voraussetzt, dass nicht nur die Freiheitsstrafe, sondern auch die
tatsächliche Vollzugsdauer zwei Jahre überschreitet (vgl. dazu ,
NStZRR 2009, 357). Denn der Verurteilte hat vor seiner Entlassung jedenfalls
insgesamt über zwei Jahre der Gesamtfreiheitsstrafe im Strafvollzug verbüßt.
Aus der irreführenden Angabe „Ausgesetzter Strafest 13 Tage“ in der
Entlassungsmitteilung vom 6. November 2009 ergibt sich kein verbleibender
Strafrest. Denn nach Ziff. 5 Abs. 1 des Erlasses war der Strafrest mit der
vorzeitigen Entlassung erlassen. Dementsprechend wurde in der
Entlassungsmitteilung auch gemäß Ziff. 7 des Erlasses das Wort „erlassen“ und
nicht die Alternative „ausgesetzt“ verwendet.
Der vollständigen Vollstreckung steht auch nicht entgegen, dass ein Gnadenerweis
für den Verurteilten gemäß Ziff. 2 lit. c) des oben bezeichneten Erlasses deshalb
ausgeschlossen war, weil nach § 68 f Abs. 1 Satz 1 StGB Führungsaufsicht
vorgesehen war. Der gleichwohl erfolgte Straferlass ist nach § 112 LVwG mit seiner
Bekanntgabe wirksam geworden. Er ist auch nicht nach § 113 LVwG nichtig, da
kein besonders schwerwiegender Fehler vorliegt.