Urteil des LG Kiel vom 29.03.2017

LG Kiel: grundsatz der unmittelbarkeit, öffentliche urkunde, beweismittel, beweiskraft, ausschluss, beweiswürdigung, vollstreckung, mietzins, mietvertrag, beweiswert

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Gericht:
LG Kiel 1.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 S 91/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 418 ZPO, § 592 ZPO
(Urkundenprozess: Zulässigkeit von richterlichen
Augenscheinsprotokollen aus anderen Verfahren als
Beweismittel)
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Neumünster vom
20.07.2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu
vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
- abgekürzt gemäß § 540 Abs. 1 ZPO -
I.
Die Kläger machen gegen die Beklagte Ansprüche auf rückständigen Mietzins aus
einem Wohnraummietverhältnis im Urkundenprozess geltend.
Die Parteien sind seit 1984 durch einen Mietvertrag über eine Wohnung im Haus
Exxx. Sxxx. 18 in Nxxx. miteinander verbunden. Der Mietvertrag wurde im Jahr
1991 aktualisiert. Die monatliche Bruttomiete beträgt 221,49 EUR. In den Monaten
November 2008 bis März 2009 zahlte die Beklagte keine Miete. Diesen Mietzins
i.H.v. insgesamt 1.107,45 EUR beanspruchen die Kläger mit der Klage. Die
Beklagte beruft sich dagegen auf eine Minderung i.H.v. 40 % sowie darüber hinaus
auf ein Zurückbehaltungsrecht, da die Wohnung eine Vielzahl von Mängeln
aufweise. Bezüglich der Einzelheiten der gerügten Mängel sowie wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf den Tatbestand des amtsgerichtlichen Urteils Bezug
genommen.
Das Amtsgericht Neumünster hat ein Vorbehaltsurteil erlassen und der Klage
stattgegeben. Für die von ihr behaupteten Mängel habe die Beklagte keine im
Urkundenprozess statthaften Beweismittel angeboten. Dies gelte auch für das
vorgelegte richterliche Augenscheinsprotokoll. Anderenfalls würde das Verbot der
Inaugenscheinnahme im Urkundenprozess umgangen. Ferner würde der
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verletzt. Das Protokoll habe
zudem nur einen geringen Beweiswert, da es Feststellungen zu einem bestimmten
Zeitpunkt enthalte, die Bindungswirkung nur in dem Parallelrechtsstreit entfalten
würden.
Mit der Berufung führt die Beklagte aus, dass die Argumentation der seitens des
Amtsgerichts zitierten BGH-Entscheidung vom 18.09.2007 (XI ZR 211/06) nicht auf
den hiesigen Fall übertragbar sei. Beim Verhandlungsprotokoll einer richterlichen
Augenscheinnahme handele es sich um eine öffentliche Urkunde i.S.v. § 418 ZPO,
die den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, nämlich der eigenen
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die den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, nämlich der eigenen
Wahrnehmung des zuständigen Richters, begründe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angegriffene Urteil.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Amtsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass ein richterliches
Augenscheinsprotokoll kein statthaftes Beweismittel im Urkundenprozess ist.
Ganz überwiegend anerkannt ist, dass erstellte Urkunden, die das
Ergebnis des Augenscheins, der Zeugenaussage oder der
Sachverständigenäußerung wiedergeben, keine zulässigen Beweismittel im
Urkundenprozess sind (BGH NJW 2008, 523 ff.; a.A. Schlosser, in Stein/Jonas, ZPO,
21. A., § 592 Rn. 17: unbeschränkte Zulässigkeit des privaten Urkundenbeweises,
allerdings mit eingeschränkter Beweiskraft).
Zum Teil wird vertreten, dass Protokolle über Zeugenvernehmungen
oder Sachverständigengutachten aus anderen Prozessen im Urkundenprozess
verwertbar seien (Schlosser, a.a.O.; für die Verwertbarkeit von richterlich
protokollierten Zeugenaussagen: OLGR München 2007, 361 ff.; Urteil des OLG
Düsseldorf vom 17.03.2004 - 15 U 16/03, zitiert nach juris (Rz. 38); OLGR Rostock
2003, 171 ff.; OLGR Braunschweig 2001, 130 ff. (juris: Rz. 26); Greger, in: Zöller,
ZPO, 28. A., § 592 Rn. 15). Es wird argumentiert, dass die gerichtlichen Protokolle
und Gutachten - anders als private Urkunden - eben nicht zur Umgehung der
Beweismitteleinschränkungen im Urkundenprozess erstellt worden seien. Die
letztliche Bewertung der Urkunden sei eine Frage der Beweiswürdigung. Es wird
auch argumentiert, dass es prozessökonomisch widersinnig sei, ein gerichtliches
Terminsprotokoll nicht als Beweismittel zuzulassen, wenn sich aus der Urkunde
ergebe, dass die Aufhebung des Vorbehaltsurteils im Nachverfahren offensichtlich
sei (OLGR Rostock 2003, 171 ff.).
Nach anderer Ansicht sind gerichtliche Zeugenvernehmungsprotokolle und
Sachverständigengutachten aus anderen Verfahren kein zulässiges Beweismittel
im Urkundenprozess (Voit, in: Musielak, ZPO, 7. A., § 592 Rn. 12; Hall, in:
Prütting/Gehrlein, ZPO, § 592 Rn. 15; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 30. A., §
593 Rn. 7 - der Ausschluss gelte auch für richterliche Augenscheinsprotokolle).
Der BGH (NJW 2008, 523 ff.) hat bezüglich eines in einem selbständigen
Beweisverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens entschieden, dass
keine im Urkundenprozess taugliche Urkunde vorliege. Die Verwertung des
Gutachtens zu Beweiszwecken sei mit Sinn und Zweck des Urkundenprozesses
unvereinbar. Das Gutachten solle an die Stelle des im Urkundenprozess
ausgeschlossenen Sachverständigenbeweises treten und stelle daher eine
Umgehung des vom Gesetzgeber gewollten Ausschlusses des
Sachverständigenbeweises dar. Zudem komme der Urkunde eine geringere
Beweiskraft als dem unmittelbaren Beweis durch Einholung eines
Sachverständigengutachtens zu. Letztlich könne der Prozessgegner auch keine
unmittelbare Vernehmung des Sachverständigen herbeiführen, so dass das
rechtliche Gehör des Prozessgegners verfassungsrechtlich bedenklich verkürzt
werde.
Diese vom BGH aufgestellten Grundsätze lassen sich zumindest teilweise auf die
Frage der Statthaftigkeit richterlicher Augenscheinsprotokolle als Beweismittel im
Urkundenprozess übertragen. Zwar kommt einem richterlichen
Augenscheinsprotokoll nicht unbedingt eine geringere Beweiskraft zu, da ein
solches Protokoll im Gegenteil gem. § 418 ZPO den vollen Beweis für die
wahrgenommenen Tatsachen erbringt. Das richterliche Protokoll ist eine
öffentliche Urkunde i.S.d. §§ 415, 418 ZPO (Greger/Stöber, in: Zöller, ZPO, 27. A.,
vor § 159 Rn. 299 und § 418 Rn. 1; Huber, in: Musielak, ZPO, 7. A., § 418 Rn. 2).
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vor § 159 Rn. 299 und § 418 Rn. 1; Huber, in: Musielak, ZPO, 7. A., § 418 Rn. 2).
Entsprechend fallen auch richterliche Augenscheinsprotokolle i.S.v. § 160 Abs. 3
Nr. 5 ZPO unter § 418 ZPO (Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. A., § 418 Rn. 1;
Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 30. A., § 418 Rn. 2; Preuß, in: Prütting/Gehrlein,
ZPO, § 418 Rn. 6). Wenn die bezeugten Tatsachen von der Urkundsperson selbst
wahrgenommen worden sind, erbringt die öffentliche Urkunde den vollen Beweis
der in ihr bezeugten Tatsachen (Leipold, a.a.O., § 418 Rn. 5) – aufgrund der
formellen Beweiskraft ist die freie richterliche Beweiswürdigung ausgeschlossen
(Huber, a.a.O., § 418 Rn. 3; Preuß, a.a.O., § 418 Rn. 7).
Auch wenn die ZPO einem richterlichen Augenscheinsprotokoll gem. § 418 ZPO
den höchsten Beweiswert beimisst, ist allerdings Folgendes zu beachten: Die
Zulässigkeit der Urkunde als Beweismittel im Urkundenprozess beruht auf ihrer
besonderen Beweiskraft, die sie vor anderen Beweismitteln auszeichnet. Vor
diesem Grundgedanken, der zur bevorzugten Zulassung des Urkundenbeweises
im Urkundenprozess geführt hat, wäre es sinnwidrig, den Augenschein zwar als
unmittelbares Beweismittel auszuschließen, ihn aber in der - hier grundsätzlich
schwächeren - Form des Urkundenbeweises zuzulassen. Denn eine Urkunde, die
lediglich das Ergebnis des Augenscheins wiedergibt, hat keine höhere, sondern im
Allgemeinen eine geringere Beweiskraft als der unmittelbare Augenschein selbst
(vgl. BGHZ 1, 218 ff.).
Zudem würde mit der Zulassung eines richterlichen Augenscheinsprotokolls als
Beweismittel im Urkundenprozess der vom Gesetzgeber gewollte Ausschluss des
Augenscheinsbeweises im Urkundenprozess umgangen. Folgt man der Auffassung
der Beklagten, würde das in einem anderen Verfahren erstellte
Augenscheinsprotokoll an die Stelle des im Urkundenprozess ausgeschlossenen
Augenscheinsbeweises treten. Die Beschränkung der Beweismittel auf Urkunden
und der damit verbundene Ausschluss des Augenscheinsbeweises wären
allerdings sinnlos, wenn die Beschränkung durch Vorlage von richterlichen
Protokollen, die den eigentlich ausgeschlossenen Augenscheinsbeweis ersetzen
sollen, problemlos umgangen werden könnte (so der BGH zum
Sachverständigenbeweis – NJW 2008, 523 ff.). Maßgeblich ist in diesem
Zusammenhang nicht, dass das richterliche Augenscheinsprotokoll nicht zum
der Umgehung der Beweismitteleinschränkung im Urkundenprozess erstellt
worden ist. Denn die Zulassung des richterlichen Augenscheinsprotokolls als
Beweismittel würde eine Umgehung des Beweismittelausschlusses des
Augenscheinsbeweises im Urkundenprozess darstellen.
Dem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass der Zweck des
Urkundenprozesses, dem Kläger schneller als im ordentlichen Verfahren zu einem
vollstreckbaren Titel zu verhelfen (Greger, in: Zöller, ZPO, 27. A., vor § 592 Rn. 1),
im Einzelfall auch durch Vorlage eines eines richterlichen Augenscheinsprotokolls
erreicht werden kann. In einer Fallkonstellation wie der vorliegenden kann eine
andere Verfahrensakte desselben Gerichts zeitnah beigezogen werden. Eine
zeitliche Verzögerung würde nicht eintreten. Allerdings kann eine grundsätzliche
Frage wie die der Statthaftigkeit eines richterlichen Augenscheinsprotokolls als
Beweismittel im Urkundenprozess nicht in Abhängigkeit der Umstände des
jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Die Beantwortung der Frage kann nicht
davon abhängen, wie zügig ein solches Protokoll zu den Akten gelangen kann.
Vielmehr ist darauf abzustellen, dass dem Gesetzgeber durchaus eine Möglichkeit
offen gestanden hätte, die Zulässigkeit von Beweismitteln im Urkundenprozess
von ihrer zeitnahen Verfügbarkeit abhängig zu machen. Der Gesetzgeber hätte
nämlich ohne weiteres - ähnlich wie im Rahmen der Glaubhaftmachung gem. § 294
Abs. 2 ZPO - regeln können, dass präsente Beweismittel (oder auch
einschränkend ein präsenter Augenscheinsbeweis) zulässig sind. Der Umstand,
dass der Gesetzgeber eine solche Regelung gerade nicht getroffen hat, steht der
Zulassung eines richterlichen Augenscheinsprotokolls als Beweismittel im
Urkundenprozess ebenfalls entgegen.
Darüber hinaus ist auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
nach § 355 ZPO zu berücksichtigen. Zwar kann die Augenscheinnahme auch
einem anderen Gericht übertragen werden, § 372 Abs. 2 ZPO. Die Entscheidung
über eine solche Übertragung steht allerdings im pflichtgemäßen Ermessen des
Prozessgerichts (BGH NJW 1990, 2936 f.). Der erkennende Richter kann aufgrund
seiner Kenntnis des Verfahrens abwägen, ob eine Augenscheinnahme durch einen
ersuchten Richter ausreichend ist, oder ob bestimmte Umstände es erforderlich
machen, dass er sich selbst ein unmittelbares Bild verschafft. Diese
Ermessensentscheidung würde dem erkennenden Richter beim Urkundenprozess
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Ermessensentscheidung würde dem erkennenden Richter beim Urkundenprozess
entzogen, wenn er verpflichtet wäre, das Augenscheinsprotokoll eines anderen
Richters - zudem unter Ausschluss der freien Beweiswürdigung - zu verwerten.
Letztlich tritt noch eine potentielle Einschränkung des rechtlichen Gehörs des
Beweisgegners hinzu. Die Parteien des Urkundenprozesses müssen nicht
zwingend mit den Parteien des Verfahrens identisch sein, in dem das
Augenscheinsprotokoll erstellt worden ist. Das Recht der Parteien, einer
Beweisaufnahme - so auch der Augenscheinnahme - beizuwohnen und auf sie
Einfluss zu nehmen, ist von immenser Bedeutung. Insoweit droht eine Verkürzung
der Rechte des Prozessgegners, wenn er ein richterliches Augenscheinsprotokoll,
das ohne seine Beteiligung entstanden ist, gegen sich wirken lassen müsste.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10,
711 ZPO.
Die Revision war zuzulassen, da die Frage, ob ein richterliches
Augenscheinsprotokoll ein statthaftes Beweismittel im Urkundenprozess ist, eine
grundsätzliche, vom Einzelfall unabhängig zu beantwortende Rechtsfrage ist. Eine
höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Thematik liegt bislang nicht vor.