Urteil des LG Kassel vom 05.04.2011

LG Kassel: pfändung, zwangsvollstreckung, eng, arbeitsförderung, ausnahmefall, sitten, auflage, verfügung, gestaltung, ausnahmecharakter

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Gericht:
LG Kassel 3.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 T 112/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 765a ZPO, § 833a ZPO, §
850k ZPO, § 850l ZPO, § 54
SGB 1
Leitsatz
Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO kann nur im Ausnahmefall gewährt werden. Ein
solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn dem Pfändungsschutzkonto des
Schuldners am Monatsende Sozialleistungen gutgeschrieben werden, die der Sache
nach für den kommenden Monat gewährt werden sollen und wirksamer
Pfändungsschutz deshalb nicht nach § 850k ZPO erreicht werden kann. Sollte sich diese
Fallgestaltung wiederholen, wird mehrfach wiederholter Vollstreckungsschutz nach §
765a ZPO regelmäßig nicht in Betracht kommen. Dies gilt vor allem dann, wenn der
Schuldner Pfändungsschutz nach §§ 54, 55 SGB I, § 833a ZPO oder § 850l ZPO
erlangen kann.
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 10.02.2011 wird abgeändert.
Die Zwangsvollstreckung aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des
Amtsgerichts Kassel vom 30.11.2005 (Az. 620 M 7652/05) wird hinsichtlich des
Betrages von 687,23 €, der dem bei der Drittschuldnerin geführten Konto „…“ der
Beschwerdeführerin am 30.12.2010 gutgeschrieben worden ist, aufgehoben.
Die Gläubiger haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird festgesetzt auf 687,23 €.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I. Im Rahmen der von den Gläubigern betriebenen Zwangsvollstreckung erließ das
Amtsgericht am 30.11.2005 (im Verfahren AG Kassel Az. 620 M 7652/05) einen
Pfändungs- und Überweisungsbeschluss, der sich auf die vermeintlichen
Ansprüche der Beschwerdeführerin gegen die eingangs bezeichnete
Drittschuldnerin erstreckt. Dort unterhält die Beschwerdeführerin das
Pfändungsschutzkonto mit der Nr. „…“. Die Beschwerdeführerin bezieht nach dem
Bescheid der Arbeitsförderung „…“ (AFK) vom 08.11.2010 (Bl. 4 ff. d.A.)
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von derzeit monatlich
687,23 €.
Am 27.01.2011 hat die Beschwerdeführerin um Vollstreckungsschutz nach
Maßgabe von § 765a ZPO nachgesucht. Zur Begründung hat sie darauf verwiesen,
dass dem Konto für den Monat Dezember 2010 zwei Zahlungen gutgeschrieben
worden seien, wobei der zweite Zahlungseingang das Einkommen für den Monat
Januar 2011 darstelle. Nach Anhörung der Gläubiger hat das Amtsgericht durch
Beschluss vom 10.02.2011, auf den Bezug genommen wird (Bl. 16 f. d.A.), den
Antrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen.
Dagegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrem Rechtsmittel vom
18.02.2011 (Bl. 19 d.A.). Das Amtsgericht hat dem Rechtsmittel am 21.02.2011
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18.02.2011 (Bl. 19 d.A.). Das Amtsgericht hat dem Rechtsmittel am 21.02.2011
nicht abgeholfen und die Verfahrensarten der Kammer zur Entscheidung
vorgelegt. Die Gläubiger verteidigen die angefochtene Entscheidung.
Der Einzelrichter hat das Verfahren durch Beschluss vom 30.03.2011 der Kammer
zur Entscheidung übertragen.
II. Die Beschwerde ist gemäß §§ 567 I Nr. 1, 793 ZPO statthaft und form- und
fristgerecht bei Gericht eingegangen, § 569 ZPO. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Nach § 765a ZPO kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der
Zwangsvollstreckung auf Antrag des Schuldners ganz oder teilweise aufheben,
untersagen oder einstweilen einstellen, wenn mit ihr unter voller Würdigung des
Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte
verbunden ist, die sich mit den guten Sitten nicht vereinbaren lässt. Dabei handelt
es sich um eine Ausnahmevorschrift, die trotz des scheinbar eingeräumten
Ermessens eng auszulegen ist (vgl. BGH NJW 1965, 2107 (2108); OLG Celle OLGR
1994, 306 (307); OLG Hamm Rpfleger 2002, 39). Weder allgemeine wirtschaftliche
Erwägungen noch soziale Gesichtspunkte gestatten deshalb für sich allein eine
Schutzanordnung (vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 28. Auflage § 765a Rn. 5). Vielmehr
kommt es darauf an, ob das Vorgehen des Gläubigers im konkreten Einzelfall zu
einem ganz untragbaren Ergebnis führen würde. Die mit jeder
Zwangsvollstreckung üblicherweise verbundenen Härten hat der Schuldner
dagegen hinzunehmen.
Danach war dem Rechtsmittel der Erfolg nicht zu versagen und der
Beschwerdeführerin antragsgemäß Vollstreckungsschutz zu gewähren.
Nach dem vorgelegten Bescheid der Arbeitsförderung „…“ vom 08.11.2010
bezieht die Beschwerdeführerin monatliche Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in Höhe von insgesamt 687,23 €. Durch Vorlage einer
„Umsatzanzeige“ für die Zeit vom 01.11.2010 bis 03.01.2011 hat sie darüber
hinaus belegt, dass dem in Rede stehenden Konto weitere Gutschriften nicht
zufließen. Des Weiteren folgt aus dem angefochtenen Beschluss des
Amtsgerichts, dass der Zahlungseingang vom 30.11.2010 – gleichfalls in Höhe von
687,23 € – durch eine vorangegangene Entscheidung des Amtsgerichts nach
Maßgabe von § 765a ZPO so behandelt worden war, als wäre er dem Konto – erst
– am 01.12.2010 gutgeschrieben worden. Jene Entscheidung hat das Amtsgericht
ersichtlich deshalb getroffen, weil die Unterstützungsleistungen zugunsten der
Beschwerdeführerin für den Monat November – im Hinblick auf den bereits
erwähnten Bescheid vom 08.11.2010 – dem Konto am 12.11.2010 gutgeschrieben
worden waren und die Gutschrift vom 30.11.2010 für den Monat Dezember 2010
erfolgt ist.
Soweit das Amtsgericht daraus den Schluss zieht, eine „erneute Anwendung des §
765a ZPO“ scheide aus, vermag ihm die Kammer im Ergebnis nicht zu folgen.
Im Ansatz zutreffend hat das Amtsgericht allerdings darauf verwiesen, dass im
Hinblick auf den Charakter von § 765a ZPO als eng auszulegender
Ausnahmebestimmung eine wiederholte Gewährung von Vollstreckungsschutz
wegen ein und derselben Problemstellung nicht in Betracht kommt. Dass es
vorliegend nicht um einen besonderen Ausnahme- und Einzelfall geht, belegt die
veröffentlichte Rechtsprechung zu vergleichbaren Fallgestaltungen (vgl. LG
Oldenburg, Beschluss vom 18.11.2010 - 6 T 758/10; LG Essen, Beschluss vom
07.12.2010 – 7 T 647/10; LG Detmold, Beschluss vom 09.09.2010 – 3 T 220/10).
Mit der neu geschaffenen Bestimmung des § 850k ZPO geht nämlich einher, dass
ein dem Schuldner am Monatsende verbleibendes Guthaben jenseits des
Sockelbetrages zwar in den Folgemonat, nicht aber in weitere Monate übertragen
werden kann (vgl. nur Zöller/Stöber, ZPO, 28. Auflage § 850k
„Pfändungsschutzkonto“ Rn. 5). Damit ist die Einrichtung eines
Pfändungsschutzkontos i.S.v. § 850k ZPO in der vorliegenden Fallgestaltung
erkennbar nicht geeignet, die der Beschwerdeführerin in wechselnden
Zahlungsrhythmen zufließenden Sozialleistungen vor dem Zugriff der Gläubiger zu
schützen.
Allerdings rechtfertigt die Wahl eines – wie sich jetzt herausstellt - ungeeigneten
Mittels zum Schutz solcher Einnahmen Vollstreckungsschutz nach Maßgabe von §
765a ZPO jedenfalls nicht dauerhaft. Dabei kann dahinstehen, ob dieser nur
eingeschränkte Schutz auf die mangelhafte Gestaltung der gesetzlichen
Bestimmung zurückzuführen ist; denn, wie es die Kammer bereits früher (vgl.
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Bestimmung zurückzuführen ist; denn, wie es die Kammer bereits früher (vgl.
Beschluss vom 04.04.2006 – 3 T 94/06, Rpfleger 2006, 612) vertreten hat, dient
die Bestimmung des § 765a ZPO nicht dazu, tatsächliche oder vermeintliche
Gesetzeslücken zu schließen. Dies gilt hier grundsätzlich umso mehr, als das
Gesetz dem Schuldner jedenfalls derzeit noch andere Wege eröffnet, sein
Kontoguthaben vor dem Zugriff seiner Gläubiger zu schützen. So kann der
Schuldner ihm zufließende Sozialleistungen nach wie vor nach Maßgabe von §§ 54,
55 SGB I vor der Pfändung schützen, sofern das in Rede stehende Konto kein
Pfändungsschutzkonto ist, vgl. § 55 V SGB I. Des Weiteren kann das
Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners unter den in § 833a II ZPO
aufgeführten Voraussetzungen anordnen, dass die Pfändung des Guthabens eines
Kontos aufgehoben wird, § 833a II 1 Nr. 1 ZPO bzw. dass das Guthaben des Kontos
für die Dauer von bis zu 12 Monaten der Pfändung nicht unterworfen ist, § 833a II 1
Nr. 2 ZPO. Nicht zuletzt bleibt die Beantragung von Pfändungsschutz für
Kontoguthaben aus wiederkehrenden Einkünften nach § 850l ZPO n. F. (ehemals §
850k ZPO), sofern das in Rede stehende Konto kein Pfändungsschutzkonto ist.
Diese Möglichkeiten wird auch das Amtsgericht bei künftigen
Vollstreckungsschutzanträgen und insbesondere dann zu erwägen haben, wenn
Vollstreckungsschutz nach Maßgabe von § 765a ZPO seines Erachtens
ausscheidet.
Wenn dem Rechtsmittel angesichts dessen der Erfolg dennoch nicht zu versagen
war, beruht dies allein darauf, dass dem Pfändungsschutzkonto allein Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes in – nach Maßgabe von § 850c ZPO – nicht
pfändbarer Höhe zufließen. Dass die Beschwerdeführerin nur wegen der
vorlaufenden Gewährung von Sozialeistungen am Ende des Vormonats für den
kommenden Monat, hier den Januar 2011, genügende Geldmittel nicht zur
Verfügung hat, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ist mit den guten Sitten
nicht zu vereinbaren (vgl. zu einer vergleichbaren Gestaltung LG Essen, Beschluss
vom 07.12.2010 – 7 T 647/10). Mit dieser Ansicht folgt die Kammer u. a. der vom
LG Oldenburg in seiner Entscheidung vom 18.11.2010 (Az.: 6 T 758/10)
vertretenen Auffassung. Zu Recht hat das LG Oldenburg in diesem
Zusammenhang darauf verwiesen, dass Sozialleistungen, die nach dem Willen des
Leistenden für den Folgemonat bestimmt sind, dem Leistungsempfänger nicht
deshalb vorenthalten werden dürfen, weil sie aufgrund solcher von ihm – nach
allgemeiner Erfahrung – nicht zu beeinflussenden Umstände bereits am Ende des
Vormonats seinem Pfändungsschutzkonto gutgeschrieben werden. Vielmehr muss
ihr die gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt in der nach § 850c ZPO nicht
pfändbaren Höhe auch tatsächlich zum Bestreiten des Lebensunterhalts zur
Verfügung stehen. Damit geht, wie es das LG Oldenburg weiter zutreffend
hervorhebt, eine unbillige Benachteiligung des Gläubigers schon deshalb nicht
einher, weil das Kontoguthaben, entstünde es durch eine Gutschrift – erst – in dem
Monat, für den die Leistungen gedacht sind, dem Zugriff des Gläubigers entzogen
wäre.
Diese besonderen Umstände rechtfertigen jedenfalls gegenwärtig noch
Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO, der sich gemäß dem Antrag der
Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren allein auf die Gutschrift vom
30.12.2010 erstrecken kann.
Die Beschwerdeführerin wird, sollte eine erörterte Korrektur der Bestimmungen
zum Pfändungsschutzkonto noch auf sich warten lassen, zeitnah erwägen müssen,
ob sie ihr Kontoguthaben auf eine der anderen beschriebenen Weisen vor der
Pfändung durch ihre Gläubiger schützen will; denn – wie ausgeführt – regelmäßiger
Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO kann im Hinblick auf den
Ausnahmecharakter der Bestimmung nicht gewährt werden.
Danach war dem Rechtsmittel der Erfolg nicht zu versagen.
Die hieran anknüpfende Kostenfolge ergibt sich aus § 91 ZPO.
Den Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren hat die Kammer gemäß § 3 ZPO
nach dem wirtschaftlichen Interesse der Beschwerdeführerin an einer Abänderung
der angefochtenen Entscheidung bestimmt und sich dabei an der Höhe des
Betrages, auf den die Beschwerdeführerin zugreifen will, orientiert.
Die Rechtsbeschwerde wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache
zugelassen, § 574 I Nr. 2, III, II Nr. 1 ZPO
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.