Urteil des LG Heidelberg vom 25.11.2016

schutz der gesundheit, verpackung, kosmetische operation, billige entschädigung

LG Heidelberg Urteil vom 25.11.2016, 3 O 5/16
Leitsätze
1. Besteht bei großflächiger Anwendung einer Gesichtshaarentfernungscreme nach erfolgreichem Vortest und
Beachtung der Gebrauchshinweise die Gefahr starker Hautirritationen mit Langzeitschäden, so entspricht das
Produkt nicht den Sicherheitserwartungen der Personen, die damit in Berührung kommen.
2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Hersteller keinen entsprechenden Warnhinweis auf der Verpackung
anbringt, vielmehr die erteilten Hinweise den durchschnittlichen Konsumenten sogar in der Erwartung
bestärken können, dass mit einer solchen Gefahr bei sorgfältiger Beachtung der Gebrauchshinweise gerade
nicht zu rechnen ist.
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.143,72 EUR nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem
Basiszinssatz aus 4.045,59 EUR seit dem 11.09.2015 sowie aus weiteren 98,13 EUR seit dem 04.10.2016 zu
bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 492,54 EUR
nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 11.09.2015 zu bezahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 27 % und die Beklagte 63 % zu tragen.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig
vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 6.545,62 EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten Ansprüche aus dem Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG)
geltend.
2 Die Klägerin trägt vor, sie habe am 19.06.2015 im Drogerie-Markt M. in H. ein „Gesicht Haarentfernungs-
Creme Set“ der Marke V. erworben, dessen Hersteller die Beklagte ist. Sie habe das Produkt der Beklagten
unter Einhaltung aller auf der Verpackung befindlichen Gebrauchsanweisungen aufgetragen. Insbesondere
habe sie den dort verlangten Vortest mehr als 24 Stunden vor der eigentlichen Benutzung ordnungsgemäß
durchgeführt, indem sie eine kleine Menge der Haarentfernungscreme auf einer Wange aufgetragen habe.
Bei dem Vortest habe es keinerlei negative Wirkungen gegeben. Daher habe sie am Folgetag gegen 18:00
Uhr eine größere Menge der Enthaarungscreme auf Wangen, Kinn und Oberlippe aufgetragen. Entsprechend
der Gebrauchsanweisung habe sie die Creme fünf Minuten nach dem Auftragen mit dem mitgelieferten
Spatel entfernt, das Gesicht abgewaschen und sodann die ebenfalls im Set enthaltene Pflegecreme
aufgetragen. Sie habe keinerlei Vorschäden an der Haut gehabt, welche eine Verwendung des Produkts
gemäß der Packungsbeilage hätten bedenklich erscheinen lassen können. Zunächst habe sie keine negativen
Wirkungen verspürt. Nachdem sie gegen 22 bis 23 Uhr zu Bett gegangen gewesen sei, habe sie dann ein
Brennen verspürt, so als ob sich Säure in ihr Gesicht fressen würde. Noch in der Nacht habe sie sich an den
Stellen, an denen sie die Enthaarungscreme aufgetragen habe, ein heftiger Ausschlag entwickelt, welcher -
ohne dass sie gekratzt habe -, geblutet habe.
3 Gleich am nächsten Morgen habe sie in der Hautarztpraxis Dr. D./Dr. F. angerufen. Dort sei ihr geraten
worden, die Haut mit Wasser zu kühlen. Einen Termin zur Vorstellung in der Praxis habe sie erst für zehn
Tage später bekommen. Die Klägerin habe sich aus Scham 17 Tage lang nicht getraut, das Haus zu
verlassen.
4 Sie habe durch die Verwendung des Produkts einen schweren Ausschlag im Bereich des Kinns, an den
Wangen und der Oberlippe davongetragen, welcher nach wie vor zu sehen sei und sie in ihrer
Lebensführung beeinträchtige. Es seien Langzeitschäden vorhanden, die gemäß ärztlicher Auskunft allenfalls
durch eine Laserbehandlung zu beseitigen seien. Hierfür fielen Kosten in Höhe von mindestens 4.000,00
EUR anfielen. Die Behandlung der nach wie vor zu sehenden Langzeitschäden sei aus medizinischen,
jedenfalls aber aus kosmetischen bzw. optischen Gründen notwendig.
5 Entgegen dem Vortrag der Beklagten sei das Produkt schon häufiger auch von anderen Kunden reklamiert
worden.
6 Für ärztliche Atteste seien ihr Kosten in Höhe von 10,00 EUR (Anlage K 3) sowie weiteren 10,62 EUR
(Anlage K 6) entstanden. Für weitere ärztliche Beratung und Untersuchung seien ihr Kosten in Höhe von
68,13 EUR (Anlagen K 17, K 18) sowie PKW-Fahrtkosten von 30,00 EUR entstanden. Weiterhin macht sie
eine allgemeine Auslagenpauschale von 25,00 EUR geltend sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten und
Verzugszinsen geltend.
7 Die Klägerin beantragt, zu erkennen:
8
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.545,42 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit
dem 11.09.2015 zu bezahlen.
9
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 577,44
EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 11.09.2015 zu bezahlen.
10 Die Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Die Beklagte bestreitet den Klägervortrag vollumfänglich. Die Klägerin habe das Produkt der Beklagten nicht
ordnungsgemäß angewandt. Auf der als Anlage K1 vorgelegten Kaufquittung sei als Position 4 auch eine
Enthaarungscreme der Eigenmarke L. der Firma Drogerie M. vermerkt. Also habe die Klägerin zwei
verschiedene Cremes gekauft und diejenige der Beklagten möglicherweise gar nicht oder zusammen mit der
anderen Creme angewandt. Die Klägerin habe sich nicht an die Anweisungen der Packungsbeilage gehalten.
Die Beklagte bestreitet weiter den von der Klägerin vorgetragenen Hergang zum Auftragen der Creme und
den anschließenden Beschwerden nebst dem Anruf in der Arztpraxis am folgenden Montag. Der jetzige
Zustand der Haut der Klägerin weise nur minimale Hautunreinheiten auf. Etwaige Auffälligkeiten seien
durch den natürlichen Alterungsprozesses bedingt.
13 Selbst wenn insoweit der klägerische Vortrag zutreffen sollte, hafte die Beklagte jedenfalls nicht wegen
eines Produktfehlers im Sinne von § 3 Abs. 1 ProdHaftG. Die Klägerin sei gemäß § 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG
für das Vorliegen eines Produktfehlers im Sinne von § 3 ProdHaftG darlegungs- und beweisbelastet. Gerade
wenn wie vorliegend ein chemisch wirkendes Produkt zwingend einen Vortest und zugleich den
Anwendungsbereich vorschreibe, könne der Verwender nicht davon ausgehen, dass er das Produkt risikofrei
unter Außerachtlassung sämtlicher Anwendungsvorgaben gebrauchen dürfe. Dem Risiko eines negativen
Ausfalls des Vortestes setze sich der objektive Verwender stets bewusst aus. Insoweit, also bezüglich
leichter negativer Reaktionen bei entsprechend disponierter Haut oder entsprechenden Allergien könne der
objektive Verwender wegen der Produktdarbietung schon gar keine berechtigten Sicherheitserwartungen
haben. Auf das Erfordernis eines Vortests mit möglichen negativen Folgen werde auf der Verpackung und
auch unmittelbar auf der Tube hingewiesen. Schließlich sei auch ein Instruktionsfehler weder vorgetragen
noch ersichtlich. Das Produkt entspreche auch den Anforderungen des § 4 KosmetikVO zum Schutz der
Gesundheit.
14 Die streitgegenständliche Haarentfernungscreme sei seit Jahren erfolgreich am Markt nicht nur in
Deutschland, sondern in ganz Europa etabliert. „V.“ sei die führende Marke im Bereich der chemischen
Haarentfernung. Allein 2015 seien in Deutschland mehr als 2 Millionen Packungen V. Enthaarungscreme
unbeanstandet verkauft worden.
15 Eine Laserbehandlung sei nicht erforderlich und verursache auch nicht die von der Klägerin behaupteten
Kosten. Das geltend gemachte Schmerzensgeld sei weit überhöht.
16 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beiderseits gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen
verwiesen.
17 Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof.
Dr. D. und Vernehmung der Zeugin M. H.. Der Sachverständige wurde ergänzend mündlich gehört. Die
Parteien wurden informatorisch gehört. Auf die Sitzungsprotokolle wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
18 Die Klage ist in Höhe eines von der Beklagten an die Klägerin zu zahlenden Betrages von 4.143,72 EUR
begründet. Die Klägerin kann gemäß § 1 Abs. S. 1, § 8 ProdHaftG i.V.m. §§ 249 ff. BGB Schadensersatz
sowie die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nebst der Erstattung von vorgerichtlichen
Rechtsanwaltskosten und Verzugszinsen hieraus verlangen. Hinsichtlich der Mehrforderung ist die Klage
unbegründet.
I.
19 Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass durch einen Fehler
des Produkts der Beklagten, der Gesicht Haarentfernungs-Creme der Marke V., der Körper und die
Gesundheit der Klägerin beschädigt worden sind (vgl. § 1 Abs. S. 1 ProdHaftG).
1.
20 Das genannte Produkt hat die Klägerin hat am 19.06.2015 im Drogerie-Markt M. in H. erworben. Die
Klägerin hat weiterhin angegeben, dass sie sich bei der Verwendung der Creme genau an die auf der
Verpackung befindlichen Gebrauchsanweisungen gehalten habe. Insbesondere habe sie den dort verlangten
Vortest mehr als 24 Stunden vor der eigentlichen Benutzung ordnungsgemäß durchgeführt, indem sie eine
kleine Menge der Haarentfernungscreme auf einer Wange aufgetragen, danach 5 Minuten die Creme mit
dem in der Packung beigefügten Plastikspachtel abgeschabt und die Härchen entfernt habe. Bei diesem
Vortest habe es keinerlei negative Wirkungen gegeben. Daher habe sie am Folgetag gegen 18:00 Uhr eine
größere Menge der Enthaarungscreme auf Wangen, Kinn und Oberlippe aufgetragen. Entsprechend der
Gebrauchsanweisung habe sie die Creme fünf Minuten nach dem Auftragen mit dem mitgelieferten Spatel
wiederum entfernt, das Gesicht abgewaschen und sodann die ebenfalls im Set enthaltene Pflegecreme
aufgetragen. Zunächst habe sie keine negativen Wirkungen verspürt. Nachdem sie gegen 22 bis 23 Uhr zu
Bett gegangen gewesen sei, habe sie dann ein Brennen verspürt, so als ob sich „das Mittel wie Säure in
ihrer Haut gefressen habe“. Noch in der Nacht habe sie sich an den Stellen, an denen sie die
Enthaarungscreme aufgetragen habe, ein heftiger Ausschlag entwickelt, welcher, ohne dass sie gekratzt
habe, geblutet habe. Gleich am nächsten Morgen habe sie in der Hautarztpraxis Dr. D./Dr. F. angerufen. Dort
sei ihr geraten worden, die Haut mit Wasser zu kühlen. Einen Termin zur Vorstellung in der Praxis habe sie
erst für zehn Tage später bekommen.
21 Das Gericht hält den vorgenannten Sachverhalt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme für
nachvollziehbar und glaubhaft. Der Kauf des Produkts der Beklagten zum Preis von 7,95 EUR ergibt sich aus
dem als Anlage K1 vorgelegten Kassenbon. Die Klägerin hat den Sachverhalt bei ihrer wiederholten
persönlichen Anhörung durch das Gericht nachdrücklich, detailreich und lebensnah geschildert. Dabei hat sie
darauf verwiesen, dass sie gelernte Übersetzerin sei und beim Anwalt gearbeitet habe, also durchaus in der
Lage sei, solche Gebrauchsanweisungen zu beachten. Dafür, dass die Sachverhaltsschilderung der Klägerin
zutrifft, sprechen die Angaben der Zeugin M. H., der Tochter der Klägerin. Diese hat nicht nur die Umstände
des Kaufs sehr lebensnah und in Einzelheiten geschildert, sondern auch den Anruf ihrer Mutter am Folgetag
(Montag) in ihrer Mittagspause und den abendlichen Besuch, bei dem ihre Mutter „furchtbar“ ausgesehen
habe mit Pickeln und Bläschen im ganzen, auch ziemlich geröteten Gesicht, sowie die ihr (der Tochter) selbst
etwas befremdlich erscheinende Kühlung mit Küchenpapier. Ihre Mutter sei wirklich “außer sich“ gewesen.
Sie habe sie gefragt, ob sie - wie sie selbst ihr beim mittäglichen Telefonat angeraten habe - beim Hausarzt
gewesen sei. Die Klägerin habe geantwortet, sie habe angerufen, dort habe man ihr aber gesagt, sie müsse
kühlen.
22 Durch die glaubhafte Aussage der Zeugin M. H. widerlegt ist auch die Mutmaßung der Beklagten, die
Klägerin habe nicht nur zwei verschiedene Enthaarungscremes gekauft, sondern diejenige der Beklagten
möglicherweise gar nicht oder zusammen mit der anderen Creme angewandt. Die zweite Creme der
Hausmarke M. wurde für die Zeugin selbst erworben, die diese Creme zur Enthaarung der Beine
angewendet hat.
23 Die Tochter hat auch für das Gericht überzeugend den Vortrag der Klägerin bestätigt, dass diese - abgesehen
von Spuren eines normalen Alterungsprozesses, die auch der Sachverständige Prof. Dr. D. festgestellt hat -
keine Vorschäden an der Gesichtshaut gehabt habe. Sie sehe auch heute noch ihre Mutter mindestens
zweimal pro Woche oder öfter. Sie hätten ein sehr enges Verhältnis. Ihr sei nicht bekannt, dass ihre Mutter
jemals etwas im Gesicht gehabt habe, noch nicht mal einen Pickel. Sie habe die Mutter für ihre Haut immer
bewundert. Sie habe ein schönes glattes Gesicht. Ihr sei auch überhaupt nichts von Allergien oder
dergleichen bekannt.
24 Der von dem Gericht beauftragte Sachverständige Prof. Dr. D., welcher bei der Anhörung der Klägerin und
der Zeugin M. H. zugegen war, hat die Schilderung der Klägerin aus fachlicher Sicht ebenfalls für plausibel
und nachvollziehbar gehalten.
2.
25 Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist weiterhin festzustellen, dass die Klägerin durch die Anwendung
des Produkts in den betreffenden Bereichen des Gesichts einen dauerhaften gesundheitlichen Schaden
erlitten hat. Aus dem Sachverständigengutachten und der Erläuterungen des Gutachters Prof. Dr. med. T. D.
ergibt sich nachvollziehbar und überzeugend, dass bei der Klägerin infolge der Anwendung der Creme eine
irritative Reaktion der Haut und dadurch teleangiektatische Hautveränderungen aufgetreten sind. Die
entzündliche Reaktion hat demnach zu einer dauerhaften, sich nicht zurückbildenden Erweiterung kleinerer
Blutgefäße und zu follikulär gebundenen Pusteln geführt, die im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen
Verhandlung zwar nicht mehr so stark ausgeprägt waren wie zuvor, gleichwohl aber noch vorhanden. Das
zeitnahe Auftreten der Hautveränderungen und deren Schwere ergibt sich sowohl aus den als Anlage K2
vorgelegten Lichtbildern als auch den ärztlichen Attesten der Hautärztin Dr. D. vom 5.7.2015 (Anlage K3)
sowie vom einen 20.4.2016 (Anlage K 13). In dem letztgenannten Attest geht auch die Hautärztin von einer
dauerhaften Schädigung aus.
3.
26 Der bei der Klägerin eingetretene Gesundheitsschaden beruht auf einem Fehler des Produkts der Beklagten.
a)
27 Gemäß § 3 Abs. 1 ProdHaftG hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter
Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann. Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG
maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben
wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB
(BGH, Urteil vom 17. März 2009 - VI ZR 176/08 -, juris - NJW 2009, 1669 Rn. 6 m.w.N.). Maßgeblich sind in
erster Linie die Sicherheitserwartungen des Personenkreises, an den sich der Hersteller mit seinem Produkt
wendet, und damit der Sicherheitsstandard, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende
Verkehrsauffassung für erforderlich hält (BGH aaO m.w.N.). Ist die Ware für den Endverbraucher bestimmt,
muss sie erhöhten Sicherheitsanforderungen genügen, die auf Wissen und Gefahrsteuerungspotential des
durchschnittlichen Konsumenten Rücksicht nehmen. Wird ein Produkt mehreren Adressatenkreisen
dargeboten, hat sich der Hersteller an der am wenigsten informierten und zur Gefahrsteuerung
kompetenten Gruppe zu orientieren, also den jeweils höchsten Sicherheitsstandard zu gewährleisten (BGH
aaO Rn. 7; MünchKomm-BGB/Wagner, 6. Auflage 2013, S 1 ProdHaftG Rn. 8). Zur Gewährleistung der
erforderlichen Produktsicherheit hat der Hersteller diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den
Gegebenheiten des konkreten Falles zur Vermeidung bzw. Beseitigung einer Gefahr objektiv erforderlich und
nach objektiven Maßstäben zumutbar sind. Dabei sind Art und Umfang einer Sicherungsmaßnahme vor
allem von der Größe der Gefahr abhängig (vgl. BGHZ 80, 186, 192). Je größer die Gefahren sind, desto
höher sind die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden müssen(BGH aaO Rn. 8 m.w.N.).
Maßgeblicher Zeitpunkt ist gemäß § 3 Abs. 1 lit. c ProdHaftG der Tag des Inverkehrbringens des Produktes.
b)
28 Nach diesen Grundsätzen ist die von der Beklagten hergestellte Gesicht-Haarentfernungs-Creme fehlerhaft.
29 Das Ergebnis der Beweisaufnahme lässt für das Gericht keine Zweifel, dass das Produkt „V.
Gesichtsenthaarungscreme“ bei bestimmten Personen wie der Klägerin trotz erfolgreicher bzw. unauffälliger
Durchführung des Vortestes und Anwendung gemäß den weiteren Gebrauchshinweisen auf der Verpackung
(im Original in der Folie als Bl. 97 der Akte) zu starken Hautirritationen mit der Folge von Schmerzen
(Brennen) und Langzeitschäden führen kann. Dies hatte der Sachverständige Prof. Dr. D. sowohl bei seinen
schriftlichen Ausführungen als auch der mündlichen Erläuterung seiner gutachterlichen Stellungnahmen
eindeutig bestätigt und dabei unter anderem auch auf entsprechende Schilderungen zahlreicher anderer
Konsumenten der von der Beklagten hergestellten Gesichtsenthaarungscreme in einschlägigen Internetforen
verwiesen. Dort werden - wie auch bei der Klägerin - Hautrötungen, Brennen, blutige Wunden und
Schmerzen beschrieben. Das Gericht zweifelt nach der Anhörung des Sachverständigen nicht daran, dass
die von diesem angeführten Kommentare in den Internetforen - zumindest zu einem wesentlichen Teil - der
Wahrheit entsprechen bzw. entsprechende Hautirritationen mit der Folge von Langzeitschäden bei
Anwendung des Produkts der Beklagten auftreten können.
30 Damit muss der durchschnittliche Konsument, der die Creme als kosmetisches Produkt im Gesicht und damit
einem sehr sensiblen, im menschlichen Alltag exponierten Bereich einsetzt, nicht rechnen. Zwar trifft es zu,
dass - wie die Beklagte vorträgt - der durchschnittliche Verwender sich dem Risiko eines negativen Ausfalls
des Vortestes gewissen Hautreaktionen insofern bewusst aussetzt, als er hierauf auf der Verpackung
ausdrücklich hingewiesen wird, nämlich „Brennen“ und „Pickeln“. Auch wird in den „wichtigen Hinweisen“
auf dem Seitenteil der Verpackung vor der Anwendung gewarnt “auf Krampfadern, Narben, Muttermalen,
bei pickliger, geschädigter, gereizter Haut, Sonnenbrand oder bei vorangegangenen Hautreaktionen auf
Haarentfernungs-Cremes“. Das damit für den durchschnittlichen Verwender ersichtliche Risiko betrifft jedoch
zum einen lediglich diejenige „kleine Stelle der zu enthaarenden Körperregion“, auf der er ausweislich der
Hinweise gehalten ist, den vor Test durchzuführen. Zudem darf er mangels entsprechender weiterer
Gefahrhinweise bei erfolgreichem bzw. unauffälligem Ergebnis des Vortests annehmen, dass mit den
vorbeschriebenen Hautirritationen („Brennen“ und „Pickeln“) nunmehr auch bei großflächiger Anwendung
nicht mehr zu rechnen ist. Selbst wenn man jedoch dem verständigen Verbraucher, der im allgemeinen eine
völlige Gefahrlosigkeit nicht erwarten kann (vgl. BGH NJW 2009, 1669 Rn. 12), abverlangen will
anzunehmen, dass auch bei großflächiger Anwendung nach erfolgreichem Vortest die Gefahr entsprechender
Hautirritationen nicht ganz auszuschließen ist, gilt dies nicht in Bezug auf die Gefahr von Langzeitschäden
der bei der Klägerin aufgetretenen Art. Damit muss der durchschnittliche Anwender nicht rechnen. Es kann
dahinstehen, ob die Beklagte sich mit einem entsprechenden zusätzlichen Warnhinweis auf der Verpackung
entlasten könnte, mit anderen Worten bei einer solchen Darbietung das Produkt der berechtigten
Sicherheitserwartung des Verbrauchers entspräche (vergleiche § 3 Abs. 1 Buchst. a ProdHaftG). Denn im
Streitfall ist ein solcher Hinweis nicht erfolgt. Im Gegenteil erscheinen die erteilten Hinweise sogar geeignet,
den durchschnittlichen Konsumenten in der Erwartung zu bestärken, dass mit einer solchen Gefahr bei
sorgfältiger Beachtung gerade nicht zu rechnen ist.
4.
31 Die Ersatzpflicht der Beklagten als Herstellerin ist auch nicht gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 4 und 5 ProdHaftG
ausgeschlossen.
32 Hierzu wäre nach dem Bestreiten der Klägerin der gemäß § 1 Abs. 4 Satz 2 ProdHaftG von der Beklagten zu
führende Nachweis erforderlich, der Fehler beruhe darauf, dass das Produkt in dem Zeitpunkt, in dem der
Hersteller es in den Verkehr brachte, dazu zwingenden Rechtsvorschriften entsprochen hat, oder der Fehler
nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den
Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte. Zu beiden Aspekten hat die Beklagte weder hinreichend
vorgetragen noch Beweis angeboten. Die bloße Behauptung, das Produkt entspreche auch den
Anforderungen des § 4 KosmetikVO zum Schutz der Gesundheit, genügt insoweit nicht. Gemäß § 4
KosmetikVO dürfen kosmetische Mittel nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn die Angaben nach
Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe b, c, d und f, Buchstabe d auch in Verbindung mit Absatz 2, der Verordnung
(EG) Nr. 1223/2009 - mithin auch besondere Vorsichtsmaßnahmen für den Gebrauch - in deutscher Sprache
angegeben sind. Darüber, welchen Anforderungen das Produkt als solches genügen muss bzw. welche
inhaltlichen Anforderungen im Einzelnen an die Gebrauchshinweise zu stellen sind, findet sich in der
Kosmetikverordnung bzw. der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel keine oder jedenfalls keine abschließende Regelung. Nicht
näher vorgetragen oder ersichtlich ist insbesondere auch, dass der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft
und Technik in dem Zeitpunkt, in dem die Beklagte das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt
werden konnte. Soweit die Klägerin ursprünglich behauptet hat, allein 2015 seien in Deutschland mehr als 2
Millionen Packungen V. Enthaarungscreme unbeanstandet verkauft worden, will sie dies zuletzt in
Anbetracht des gerichtlichen Hinweises auf die Wahrheitspflicht gemäß § 138 ZPO auch nicht mehr in dem -
zunächst allerdings naheliegenden - Sinne verstanden wissen, es habe keinerlei Reklamationen von
Produktanwendern in Bezug auf Hautschäden gegeben.
II.
33 Die Klägerin trifft kein Mitverschulden, § 6 Abs. 1 ProdHaftG i.V.m. § 254 BGB.
34 Nach dem Beweisergebnis hat die Klägerin das Produkt der Beklagten gemäß der Gebrauchshinweise auf der
Verpackung angewendet. Insbesondere hat sie den angegebenen Vortest durchgeführt. Auch hatte sie
gemäß ihren eigenen Angaben und denjenigen ihrer Tochter, welche nach der persönlichen Untersuchung
der Klägerin auch der Gerichtssachverständige aus seiner fachlichen Sicht für plausibel gehalten hat - keine
Vorerkrankungen oder Problematiken, die einer Anwendung der Creme entgegenstanden. Das Gericht hat
auch keinen Zweifel daran, dass die Klägerin unmittelbar am nächsten Tag bei ihrer Hautarztpraxis
angerufen, ihre Symptome geschildert und direkt im Anschluss mit einer Kühlungstherapie begonnen hat.
Sie hat auf Rat der Ärzte keine Salben verwendet. Dass sie trotz der Schilderung ihrer Symptome erst zehn
Tage später einen Termin bekommen hat, erscheint in Anbetracht der Gesamtumstände, insbesondere
nachdem die Kühlung mit der Zeit noch eine deutliche Besserung der Beschwerden bewirkt hat,
nachvollziehbar und ist ihr nicht vorzuwerfen.
III.
35 Die Beklagte schuldet als Schadensersatz den zur Herstellung des vormaligen Zustandes erforderlichen
Geldbetrag, § 249 Abs. 2 S. 1 BGB.
1.
36 Die Klägerin fordert zur Herstellung eine Geldleistung für eine Laserbehandlung, die noch nicht
stattgefunden hat. Diese kann sie beanspruchen. Der Schadensersatzanspruch umfasst auch Aufwendungen
für die Beseitigung einer kosmetischer Beeinträchtigungen, selbst wenn von ihr keine weiteren
Funktionsstörungen ausgehen oder auch nur zu befürchten sind (vgl. BGHZ 63, 295, 296 BGH NJW 1986,
1538 Rn. 2; Palandt/Grüneberg, BGB-Kommentar, 75. Auflage, § 249 BGB Rn. 6). Die bei der Klägerin
aufgetretenen Langzeitschäden können gemäß der von ihr eingeholten ärztlichen Auskünfte, deren
Richtigkeit der Gerichtsachverständige insoweit bestätigt hat, nur durch eine Laserbehandlung als
kosmetische Operation beseitigt bzw. unkenntlich gemacht werden. Die Klägerin hat auch ernsthaft
bekundet, dass sie die Absicht hat, eine solche Operation durchführen und damit ihre körperliche Integrität
wiederherstellen zu lassen. Sie hat nachdrücklich ihren Leidensdruck geschildert und bereits mehrere
Angebote einschlägiger Ärzte eingeholt.
37 Die Höhe des Schadensersatzanspruchs ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gemäß § 287 ZPO auf
2.000,00 EUR zu schätzen. Zwar hat der Sachverständige bei seiner abschließenden mündlichen Anhörung
zunächst die von der Klägerin unter Bezugnahme auf eingeholte Kostenvoranschläge geforderten 4.000,00
EUR als “eher stolzen Preis“, aber auch „nicht unrealistisch“ bezeichnet. Er hat diese Bewertung jedoch
revidiert, nachdem er sich die Klägerin noch einmal genau im Gesicht angeschaut und sodann diesen letzten
Sachstand zugrunde gelegt hat. Es ergab sich, dass die Teleangiektasien nicht mehr so stark ausgeprägt
sind, wohl aber noch vorhanden mit der Folge, dass nunmehr prognostisch noch maximal 5
Gesichtsbehandlungen mit dem Laser zur Beseitigung der Folgen der Anwendung des Produkts der
Beklagten zu veranschlagen sind. Damit ergibt sich in Anbetracht des Kostenvoranschlages der Klinik K. vom
5.9.2016 (Anlage K 16) mit der Abrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), an den die
Klägerin sich nach eigenem Bekunden im Schriftsatz vom 27.10.2016 (As. 305) halten will, unter
Hinzurechnung eines Fahrtkostenzuschlages für die 5 Sitzungen der oben genannte Betrag von 2.000,00
EUR.
2.
38 Die Klägerin kann weiterhin Erstattung der von ihr nachgewiesenen Kosten für ärztliche Atteste in Höhe
von 10,00 EUR (Anlage K 3), weiteren 10,62 EUR (Anlage K 6) sowie von 68,13 EUR (Anlagen K 17, K 18)
nebst PKW-Fahrtkosten von 30,00 EUR verlangen. Hinzu kommt die geltend gemachte Pauschale für die der
Höhe nach nicht bestrittenen Auslagen von 25,00 EUR.
3.
39 Damit beläuft sich der Schadensersatzanspruch auf insgesamt 2.143,72 EUR.
IV.
40 Der Klägerin steht gemäß § 8 S. 2 ProdHaftG ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 EUR zu.
41 Hierfür sind die zu § 253 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätze heranzuziehen (Hamdan/Günes in:
Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 8 ProdHaftG Rn. 5). Die nach Billigkeit
festzusetzende Höhe des Schmerzensgeldes richtet sich insbesondere nach dem Zweck der Genugtuung, der
Schwere der Verletzung und des dadurch ausgelösten Ausmaßes an Leiden unter Berücksichtigung von Art,
Dauer und Schwere. Einfluss haben auch Faktoren wie der Verlust an Lebensfreude und etwaigen
Dauerfolgen der Verletzung. (vgl. etwa OLG München Urt. v. 16.09.2016 - 10 U 750/13; OLG Bremen Urt.
v. 11.07.2011 - 3 U 69/10; OLG Saarbrücken Urt. v. 10.12.1998 - 3 U 244/98).
42 Die Klägerin litt in der Nacht nach der Anwendung unter einem Brennen und Schmerzen im Gesicht, es
traten blutende Wunden auf, die in einem größeren Bereich um den Mund und das Kinn herum bis zur
Wange zu entstellenden Hautausschlägen geführt haben. Zur Linderung der Schmerzen musste die Klägerin
ihr Gesicht über einen längeren Zeitraum hinweg kühlen. Die Hautschäden sind an exponierter Stelle im
Gesicht der Klägerin eingetreten, was sie nach ihrer glaubhaften Schilderung zunächst 17 Tage lang
überhaupt gehindert hat, in die Öffentlichkeit zu gehen. Bis heute belastet sie ihr Aussehen und die
Notwendigkeit, die Langzeitschäden durch mehrere Laserbehandlungen zu beseitigen. Andererseits hat sich
die Gesichtshaut der Klägerin bis zur mündlichen Verhandlung am 07.04.2016 ersichtlich teilweise erholt,
weshalb zumindest das geschminkte Gesicht keine besonders extremen Auffälligkeiten mehr aufweist.
43 Bei dieser Sachlage hält das Gericht insgesamt eine billige Entschädigung im Sinne eines Schmerzensgeldes
von 2.000,00 EUR für angemessen und ausreichend.
44 Damit beziffert sich der Zahlungsanspruch in der Hauptsache auf insgesamt 4.143,72 EUR.
V.
45 Die Klägerin kann aus dem Betrag von 4.045,59 EUR (also ohne den erst später angefallenen restlichen
Betrag von 98,13 EUR, vgl. sogleich unten) Ersatz ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangen.
Unter Zugrundelegung einer angemessenen Geschäftsgebühr von 1,3 ergibt dies mit der Pauschale i.H.v.
20,00 EUR sowie der Mehrwertsteuer den Betrag von 492,54 EUR.
46 Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 Abs. 1 Satz 1, 288, 291 BGB. Die Beklagte wurde hinsichtlich eines
Betrages von 4.045,59 EUR jedenfalls durch das Anwaltsschreiben vom 15.8.2015 (Anlage K7) ab dem
11.09.2015 in Verzug gesetzt. Hinsichtlich des restlichen Betrages von 98,13 EUR sind ab dem 04.10.2016
Prozesszinsen zu entrichten.
VI.
47 Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige
Vollstreckbarkeit § 709 S. 1 und 2 ZPO.