Urteil des LG Heidelberg vom 27.04.2016

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LG Heidelberg Urteil vom 27.4.2016, 1 S 42/15
Schadenersatz nach Verkehrsunfall: Kollision zwischen einem ausparkenden und einem eine
durchgezogene Linie überfahrenden Fahrzeug
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Heidelberg vom 28.08.2015, Az. 24 C 230/14,
wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagten tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1 Die Parteien streiten um die Haftung aus einem Verkehrsunfall vom 18.07.2014 in Heidelberg. Der Zeuge
G., der Schwiegersohn des Klägers, war Fahrer eines in der Römerstraße kurz hinter dem Römerkreis in
einer Parkbucht am rechten Straßenrand geparkten PKW Mercedes 180. Er war in dieses Fahrzeug
eingestiegen um auszuparken. Aus Richtung Römerkreis fuhr der Zeuge B. mit seinem PKW heran, hielt vor
dem Zeugen G. an und setzte den rechten Blinker, weil er selbst in die Parkbucht einfahren wollte. Die
Fahrbahn ist an dieser Stelle durch eine ununterbrochene Linie nach Zeichen 295 zu § 41 Abs. 1 StVO zur
Gegenfahrbahn hin abgegrenzt. Hinter dem Zeugen B. befuhr die Beklagte Ziffer 2 in einem bei der Beklagte
Ziffer 1 versicherten PKW Audi A 3 die Römerstraße. Sie überholte den Zeugen B. über die durchgezogene
Linie hinweg und kollidierte beim Wiedereinscheren mit dem im Ausparkvorgang befindlichen Mercedes, der
vorne links an Stoßfänger und Licht beschädigt wurde. Die Beklagte Ziffer 2 hat den Schaden auf der Basis
einer Haftungsquote von 2/3 reguliert, wobei einzelne Schadenspositionen zwischen den Parteien streitig
sind. Der Kläger klagt nunmehr den noch nicht regulierten Teil seines Schadens ein.
2 In erster Instanz haben die Parteien vorwiegend über zwei Punkte gestritten, nämlich um das Eigentum des
Klägers und um die Frage, ob der Zeuge G. den Unfall in einer Weise mitverursacht hat, die zu einer
Haftungsquote zu Lasten des Klägers führt.
3 Der Kläger hat behauptet, Eigentümer des von ihm 1998 gekauften und seither auf ihn zugelassenen und
versicherten Mercedes' zu sein. Er habe ihn seinem Schwiegersohn lediglich zur Nutzung überlassen. Der
Kläger hat weiter behauptet, die Beklagte Ziffer 2 sei mit überhöhter Geschwindigkeit in die Römerstraße
eingefahren und habe das Fahrzeug des Zeugen B. ohne anzuhalten überholt. Das Klägerfahrzeug habe zum
Kollisionszeitpunkt gestanden. Der Zeuge G. habe vor dem Ausparken links geblinkt und sich mehrfach
vergewissert, ob er gefahrlos ausparken könne. Die Beklagte Ziffer 2 habe er nicht sehen können. Diese
treffe die volle Haftung wegen Überholens in unklarer Verkehrslage und Überfahrens der durchgezogenen
Linie.
4 Die Beklagten haben das Eigentum des Klägers bestritten. Der Zeuge G. sei Eigentümer, er habe nach dem
Unfall gegenüber der Polizei von „seinem“ Auto gesprochen, die Versicherung laufe nur wegen des
Schadensfreiheitsrabatts auf den Kläger. Zum Unfall selbst haben die Beklagten vorgetragen, die Beklagte
Ziffer 2 habe kurz hinter dem Zeugen B. angehalten und sei denn mit ca. 15 km/h an ihm vorbei gefahren.
Sie haben bestritten, dass der Zeuge G. links geblinkt habe, dass er nach hinten geschaut habe und dass er
zum Kollisionszeitpunkt stand. § 10 StVO erlege ihm aber eine gesteigerte Sorgfaltspflicht beim Ausparken
auf. Für eine Verletzung dieser Sorgfaltspflichten bei einer Kollision im Zusammenhang mit dem
Ausparkvorgang spreche ein Anscheinsbeweis.
5 Das Amtsgericht hat nach Beweisaufnahme die Klage durch Grundurteil für begründet erklärt. Zum
Eigentum des Klägers hat es ausgeführt, zwar streite die Vermutung des § 1006 BGB nicht zugunsten des
Klägers, sondern zugunsten des Zeugen G.. Diese Vermutung sei aber durch dessen Aussage widerlegt. Der
Zeuge G. habe ausgesagt, der Kläger halte sich jedes Jahr von Mitte April bis November in der Türkei auf und
stelle in dieser Zeit den Mercedes dem Zeugen und seiner Ehefrau zur Verfügung, die dann auch die Kosten
übernähmen. Eine Übereignung habe zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Diese Aussage hielt das
Amtsgericht für in sich stimmig und den Zeugen trotz seiner persönlichen Nähe zum Kläger für glaubwürdig.
Die von den Beklagten vorgebrachten Argumente, die für eine Eigentümerstellung des Zeugen G. sprechen
könnten, hielt es nicht für zwingend. In der Sache hat das Amtsgericht eine Alleinhaftung der Beklagten
angenommen. Zwar spreche der Anscheinsbeweis des § 10 StVO regelmäßig für ein Verschulden des
Ausparkenden und der Kläger habe auch nicht bewiesen, dass er vor dem Ausparken nach hinten geschaut
habe. Dieses allenfalls geringfügige Verschulden trete aber hinter das grobe Verschulden der Beklagten Ziffer
2 zurück, die grob verkehrswidrig und rücksichtslos entgegen Zeichen 295 zu § 41 Abs. 1 StVO die
durchgezogene Linie überfahren habe. Die durchgezogene Linie spreche zwar kein Überholverbot aus. Wo
sie sich wegen der Enge der Fahrbahn faktisch als solches auswirke, dürfe jedoch nach der Rechtsprechung
ein Vorausfahrender darauf vertrauen, an dieser Stelle nicht überholt zu werden. Diese Erwägungen seien
übertragbar auf einen Verkehrsteilnehmer, der nicht vorausfahre, sondern anhalte und ausparke. Der
Beklagten Ziffer 2 seien zudem Verstöße gegen § 5 Abs. 3 StVO, § 7 Abs. 5 StVO und das Gebot des Fahrens
mit situationsangepasster Geschwindigkeit anzulasten.
6 Gegen dieses Urteil haben die Beklagten Berufung eingelegt. Zur Begründung stützen sie sich auf zwei
Punkte, nämlich eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Amtsgerichts und eine fehlende Haftungsabwägung.
Bei der Beweiswürdigung habe das Amtsgericht das große Eigeninteresse des Zeugen G. am Ausgang des
Rechtsstreits als Unfallbeteiligter und Schwiegersohn des Klägers nicht berücksichtigt. Im Übrigen sei die
Beweiswürdigung einseitig zu Lasten der Beklagten ausgefallen. Weiterhin habe das Amtsgericht keine
Haftungsabwägung vorgenommen - zutreffend wäre eine Mithaftung des Klägers von 1/3 gewesen. Gemäß §
10 StVO habe der Ausfahrende eine Wartepflicht. Er müsse sich so verhalten, dass eine Gefahr für andere
Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Blinken reiche dafür nicht aus. Dass der Zeuge G. den
nachfolgenden Verkehr beobachtet habe, sei nicht nachgewiesen. Die Beklagte Ziffer 2 habe auch nicht
überholt im Sinne des § 5 StVO, sondern sei an dem Zeugen B. vorbeigefahren im Sinne des § 6 StVO, so
dass kein Überholen in unklarer Verkehrslage vorliege. Die Argumentation des Amtsgerichts zum
Vertrauensgrundsatz sei im Übrigen nicht nachvollziehbar. Bei einem Ausparkvorgang müsse gerade damit
gerechnet werden, dass andere Verkehrsteilnehmer einen Stau umfahren.
7
Die Beklagten beantragen,
8
unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Heidelberg vom 28.08.2015, Az. 24 C 230/14, die Klage
abzuweisen.
9
Der Kläger beantragt,
10 die Berufung zurückzuweisen.
11 Er ist der Ansicht, § 1006 BGB streite zugunsten des Klägers als mittelbarer Besitzer. Im Übrigen habe das
Amtsgericht umfassend Beweis erhoben und die Beweise zutreffend gewürdigt.
12 Zum weiteren Vorbringen der Parteien wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen
Bezug genommen.
II.
13 Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.
14 1. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt Eigentümer des unfallbeteiligten Mercedes 180. Auf die Vermutung
des § 1006 BGB kann er sich allerdings nicht berufen. Die Vermutung gilt zwar auch zugunsten des
mittelbaren Eigenbesitzers, zwischen den Parteien ist aber gerade streitig, ob der Kläger zum
Unfallzeitpunkt mittelbarer Eigenbesitzer des Fahrzeugs war oder ob er mit der Übergabe des Fahrzeugs an
den Zeugen G. den Besitz aufgegeben hat. Das Amtsgericht hat aber nach Beweisaufnahme festgestellt,
dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt Eigentümer des von dem Zeugen G. gefahrenen Mercedes 180 war. An
diese Feststellung ist das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Konkrete
Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Feststellung begründen, zeigt die
Berufung nicht auf. Das Amtsgericht hat klar gesehen, dass die Aussage des Zeugen G. vor dem Hintergrund
seiner persönlichen Nähe zum Kläger und seines eigenen wirtschaftlichen Interesses am Ausgang des
Rechtsstreits zu würdigen ist. Auch unter Berücksichtigung dieses Eigeninteresses hat es den Zeugen für
persönlich glaubwürdig und seine Aussage für glaubhaft gehalten. Es hat weiterhin alle Aspekte, die die
Berufung zur Begründung des Eigentums des Zeugen G. anführt - insbesondere dass der Zeuge nach dem
Unfall von „seinem“ Auto gesprochen habe und die Schadensersatzzahlung auf sein eigenes Konto gefordert
habe - in seine Beweiswürdigung einbezogen und ausgeführt, dass diese nicht zwingend für das Eigentum
des Zeugen G. sprächen und es aufgrund der Aussage dieses Zeugen vom Eigentum des Klägers ausgehe.
Diese Beweiswürdigung lässt keine Fehler oder Lücken erkennen.
15 2. Die Beklagten haften dem Kläger dem Grunde nach auf Schadensersatz in Höhe von 100 %. Das
Amtsgericht hat entgegen der Annahme der Berufung eine Haftungsabwägung vorgenommen und diese
begründet. Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Verschulden des Zeugen G. aus Anschein oder
Verletzung der Rückschaupflicht beim Ausparken hinter das grobe Verschulden der Beklagten Ziffer 2 wegen
Überfahrens der durchgezogenen Linie, Überholens bei unklarer Verkehrslage, fehlerhaften
Fahrspurwechsels und Fahrens mit nicht situationsangemessener Geschwindigkeit zurücktrete und die
Beklagten deshalb zu 100 % haften. Dies ist im Ergebnis zutreffend.
16 Nachdem von keiner der Parteien haftungsausschließend höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG oder
ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG geltend gemacht wird, richtet sich die
Haftungsverteilung zwischen den Beteiligten gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG nach einer Abwägung der
Verursachungsbeiträge, bei der nur unstreitige und bewiesene Umstände zu berücksichtigen sind.
17 Die Beklagte Ziffer 2 trifft ein Verschulden an dem Unfall, weil sie entgegen dem Verbot des Zeichens 295 zu
§ 41 Abs. 1 StVO die durchgezogenen Linie überfahren hat. Dieses Verbot schützt nach Ansicht der Kammer
auch einen vom Straßenrand anfahrenden Fahrzeugführer. Wenn eine ununterbrochene Linie wie hier die
beiden Fahrbahnhälften einer Straße trennt, dient sie in erster Linie dem Schutz des Gegenverkehrs. Wirkt
das Verbot, sie zu überfahren, wegen der Enge der Straße jedoch faktisch wie ein Überholverbot, darf auch
ein Vorausfahrender darauf vertrauen, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen.
Er darf sich - ähnlich wie bei einer natürlichen Straßenverengung - darauf verlassen, dass ein nachfolgender
Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhält, also nicht zum Überholen ansetzt, wenn dies nur
durch Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung möglich ist (BGH, Urteil vom 28.04.1987, VI ZR 66/86). Diese
Erwägungen sind auf die Situation übertragbar, in der ein Fahrzeugführer vom Straßenrand in eine
Fahrbahn einfährt, die durch eine ununterbrochene Mittellinie zur Gegenfahrbahn abgegrenzt ist. Auch hier
darf der in die Fahrbahn Einfahrende darauf vertrauen, dass sich nachfolgende Verkehrsteilnehmer
ordnungsgemäß verhalten und nicht in die Fahrbahn einfahren, wenn dies nur durch Überfahren der
durchgezogenen Linie möglich ist. Nachdem der Zeuge B. hinter dem Zeugen G. auf der Fahrbahn stand,
musste dieser daher nicht damit rechnen, dass weiterer nachfolgender Verkehr unter Überfahren der
durchgezogenen Linie in die Fahrbahn eindringt, in die er selbst gerade vom Straßenrand aus einfahren
wollte.
18 Den Zeugen G. trifft kein Verschulden an dem Unfall. Ein nachgewiesenes Verschulden hinsichtlich einer
Verletzung der Rückschaupflicht vor dem Ausparken liegt nicht vor. Der Zeuge B. hat insoweit nur
ausgesagt, er könne nicht sagen, ob der Zeuge G. sich vor dem Ausparken noch einmal umgedreht habe.
Dies lässt die Möglichkeit offen, dass er sich umgedreht und zurückgeschaut hat. Auch von einem
Verschulden des Zeugen G. aufgrund eines Anscheinsbeweises ist nicht auszugehen, weil es an einer dafür
erforderlichen typischen Situation fehlt. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt bei Verkehrsunfällen
Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt,
dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat;
es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung
typisch ist (BGH, Urteil vom 13.12.2011, VI ZR 177/10). Diese Grundsätze gelten zwar auch im
Zusammenhang mit den gesteigerten Sorgfaltspflichten beim Ausparken gemäß § 10 StVO. Vorliegend steht
aber kein Sachverhalt fest, in dem die Kollision typischerweise auf ein Verschulden des Ausparkenden
zurückzuführen ist. Denn der Zeuge G. als aus der Parkbucht Ausfahrender befand sich in einer Situation, in
der hinter ihm auf der Fahrbahn ein Fahrzeug hielt und ein weiteres Fahrzeug das haltende Fahrzeug
überholte. In einer solchen Situation kann es durch das haltende Fahrzeug zu Sichtbehinderungen in Bezug
auf das überholende Fahrzeug kommen, die die Erkennbarkeit des Überholenden für den Ausparkenden
einschränkt oder ausschließt. In einer derartigen Lage drängt sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung
nicht der Schluss auf, dass der Unfall auf eine Verletzung der Sorgfaltspflichten des Ausparkenden
zurückzuführen ist. Es kommt vielmehr auch ein Geschehensablauf in Betracht, bei dem der Zeuge G. trotz
Einhaltung seiner gesteigerten Sorgfaltspflichten die Beklagte Ziffer 2 nicht oder nicht rechtzeitig erkennen
und den Unfall deshalb nicht verhindern konnte.
19 Zu Lasten des Klägers ist daher nur die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs aus § 7 StVG in die Abwägung der
Verursachungsbeiträge nach § 17 StVG einzustellen. Diese tritt hinter das erhebliche Verschulden der
Beklagten Ziffer 2, die offensiv die durchgezogene Linie zum Überholen überfahren hat, vollständig zurück,
so dass die Beklagten voll haften. Auf die Frage, ob der Beklagten Ziffer 2 zusätzlich ein Überholen in
unklarer Verkehrslage, Fehler beim Fahrspurwechsel oder ein Fahren mit nicht situationsangemessener
Geschwindigkeit anzulasten sind, kommt es daher nicht mehr an.
III.
20 Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Wird die Berufung des Beklagten gegen ein Grundurteil
zurückgewiesen, so sind ihm gemäß § 97 Abs. 1 ZPO schon in diesem Urteil die Kosten des
Berufungsverfahrens aufzuerlegen (Zöller-Vollkommer, § 304 Rn. 26). Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2
ZPO) liegen nicht vor.