Urteil des LG Duisburg vom 23.04.2009

LG Duisburg: haltestelle, mitverschulden, gestaltung, verkehrsbetrieb, betriebsgefahr, schmerzensgeld, fahrgast, stillstand, behinderung, beförderung

Landgericht Duisburg, 5 S 140/08
Datum:
23.04.2009
Gericht:
Landgericht Duisburg
Spruchkörper:
5. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 S 140/08
Vorinstanz:
Amtsgericht Mülheim an der Ruhr, 19 C 1628/08
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Mülheim
an der Ruhr teilweise abgeändert und die Beklagte zu 2. verurteilt, an
die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500 EUR zu zahlen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten haben die Klägerin zu 75% und die Beklagte zu 2. zu
25% zu tragen.
Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin hat die Beklagte zu 2. zu
25% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1. hat
die Klägerin zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu
2. hat die Klägerin zu 50% zu tragen. Eine weitergehende
Kostenerstattung findet nicht statt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung hat teilweise Erfolg, soweit die Klägerin mit ihr die Verurteilung der
Beklagten zu 2. verfolgt.
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I. Das Amtsgericht hat die Klage gegen den Beklagten zu 1. zu Recht abgewiesen.
Gegen ihn hat die Klägerin keinen Schadensersatzanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 253
Abs. 2 BGB, da sie ihm eine schuldhafte Verletzungshandlung nicht nachweisen
konnte.
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1. Die Feststellung des Amtsgerichts, der Beklagte zu 1. habe die Klägerin tatsächlich
nicht bemerkt, ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch der Berufungsentscheidung
zugrunde zu legen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die
Beweiswürdigung unrichtig oder unvollständig erfolgt sein könnte. Entscheidend ist
dabei, dass auch auf Grundlage der durchweg glaubhaften Bekundungen des Zeugen
nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin vor dem
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Einsteigen bemerkt hätte. Der Zeuge will nur wegen des versuchten Blickkontakts mit
dem Beklagten zu 1. davon ausgegangen sein, dass dieser die Klägerin bemerkt hatte.
Er räumte aber unumwunden ein, weder eine erkennbare Reaktion des Beklagten zu 1.
erhalten zu haben, noch selbst weitergehende Maßnahmen ergriffen zu haben, um auf
sich aufmerksam zu machen. Dafür, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin nicht
bemerkte, spricht auch, dass der Beklagte zu 1. die Kinderwagentaste nicht betätigte
und so die Türen, wie vom Zeugen bestätigt, weiter automatisch schlossen.
2. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin
fahrlässig nicht bemerkt hätte. Allein, dass sich die Klägerin unstreitig von vorne der
Straßenbahn näherte, reicht hierfür angesichts des vom Zeugen bestätigten
Passagieraufkommens beim Einsteigen nicht aus. Vor allem konnte der Beklagte zu 1.
wegen der unstreitigen örtlichen Gegebenheiten die Klägerin nicht über seine
Außenspiegel beim Einsteigen beobachten: Die Straßenbahn befand sich nach der
unwidersprochenen Schilderung des Beklagten zu 1. an der Haltestelle in einer
Rechtskurve, so dass der Fahrer letztlich nur die vorderste Tür der Straßenbahn
einsehen konnte.
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II. Demgegenüber schuldet die Beklagte zu 2. als Bahnbetriebsunternehmerin der
Klägerin gemäß §§ 1 Abs. 1, 6 Satz 2 HaftpflG die Zahlung eines angemessenes
Schmerzensgeldes, weil die Klägerin beim Betrieb einer Schienenbahn der Beklagten
zu 2. verletzt wurde.
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1. Nicht verständlich ist dabei für die Kammer, inwieweit die Beklagte zu 2. als aktives
Verkehrsunternehmen bei der Erörterung der Rechtslage durch den Hinweis auf ihre
Gefährdungshaftung überrascht worden sein könnte. Zum einen darf von einem
städtischen Verkehrsbetrieb verlangt werden, dass er mit den zivilrechtlichen
Grundlagen einer möglichen Ersatzpflicht gegenüber seinen Kunden und anderen
Verkehrsteilnehmern vertraut ist. Zum anderen war sich die Beklagte zu 2. ausweislich
ihres Schriftsatzes vom 22.08.2008 zumindest in der ersten Instanz auch durchaus
darüber im Klaren, dass sie bei einem fehlenden zurechenbaren Verschulden ihres
Fahrers aus Gefährdung haften kann.
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2. Die Haftung der Beklagten zu 2. ist nicht ausgeschlossen. Es lag kein Fall höherer
Gewalt vor (§ 1 Abs. 2 HaftpflG). Gegenüber ihren Fahrgästen könnte sich die Beklagte
selbst dann nicht auf ein unabwendbares Ereignis berufen, wenn es vorläge (§ 13 Abs.
3 HaftpflG). Vorliegend ist für das Maß der Haftung der Beklagten zu 2. aber auch zu
berücksichtigen, dass die normale Betriebsgefahr ihrer Straßenbahn an der Haltestelle
Friedhof Broich erheblich gesteigert ist. Die Lage der Haltstelle in einer Rechtskurve
verhindert, dass der Fahrer über den Außenspiegel sehen kann, welche Fahrgäste an
der ersten für gehbehinderte Personen und Fahrgäste mit Kinderwagen geeigneten Tür
in die Straßenbahn einsteigen wollen. Nur so ist schließlich zu erklären, dass dem
Beklagten zu 1. nicht aufgefallen ist, dass die Klägerin die Straßenbahn betreten wollte
(oben I. 2.).
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3. Der Anspruch besteht in vollem Umfang. Ein anspruchsminderndes oder gar –
ausschließendes Mitverschulden der Klägerin hat die Beklagte zu 2. nicht dargelegt.
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a) In erster Instanz hat sie sich darauf berufen, dass sich die Klägerin nicht beim Fahrer
gemeldet habe, obwohl sie gehbehindert sei. Woraus sich eine solche Meldepflicht
ergeben sollte, ist unerfindlich. Gehbehinderte Personen, zu deren Beförderung die
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Beklagte zu 2. verpflichtet ist, werden in aller Regel schon keine Zeit haben, sich vor
dem Einstieg an einer für sie geeigneten Tür beim Fahrer zu melden, also zunächst zum
Fahrer und dann zurück zu ihrer Tür zu laufen. Im Massenverkehr würde dies zu
Verzögerungen führen, die einzugehen die Beklagte zu 2. auch im Interesse ihrer
anderen Fahrgäste nicht bereit sein kann. Außerdem dürfen Personen, die nur
bestimmte Türen der Straßenbahn überhaupt benutzen können, darauf vertrauen, dass
ihr Einsteigen gerade an diesen Türen bemerkt wird, ohne dass sie selbst zusätzliche
Maßnahmen ergreifen müssten.
b) Nunmehr beruft sich die Beklagte zu 2. auch darauf, dass die Klägerin sich nicht in
ausreichender Weise festgehalten habe. Dabei muss nicht entschieden werden, ob
dieser neue Vortrag gemessen an § 531 Abs. 2 ZPO in der zweiten Instanz
Berücksichtigung finden kann. Die Beklagte zu 2. trägt nämlich nicht vor, welches
Fehlverhalten genau der Klägerin zur Last gelegt werden könnte. Unstreitig ist, dass die
Klägerin mit einem Rollator die Straßenbahn betreten hat, den sie nun einmal mit
beiden Händen festhalten musste, um einen sicheren Stand zu haben. Ebenso
unstreitig ist, dass die Klägerin sofort nach dem Einstieg einen der freien Sitzplätze
einnehmen wollte, was in Anbetracht ihrer Gehbehinderung erkennbar geboten war.
Dass die Zeit zwischen dem Einsteigen und dem Anfahren der Straßenbahn nicht
ausreichte, um den Sitzplatz einzunehmen, kann nicht zu Lasten der Klägerin gehen.
Insbesondere kann die Beklagte zu 2. nicht erwarten, dass eine gehbehinderte Person
sofort nach dem Einsteigen mit einer Hand den Rollator loslässt und sich mit dieser
Hand an der nächstgelegenen Stange festhält. Abgesehen davon, dass ein solches
Festhalten kaum einen sicheren Stand ermöglicht, müsste man dann auch von
gehbehinderten Personen verlangen können, bis zum Stillstand an ihrer Zielhaltestelle
in dieser Haltung zu verharren. Dem steht aber entgegen, dass unzweifelhaft eine
gehbehinderte oder gebrechliche Person vor einem Sturz am besten dadurch geschützt
ist, dass sie sich setzt. Dem tragen die Verkehrsbetriebe gemeinhin auch dadurch
Rechnung, dass nach ihren Beförderungsbedingungen Sitzplätze für Schwerbehinderte,
Gehbehinderte, ältere oder gebrechliche Personen, werdende Mütter und für Fahrgäste
mit kleinen Kindern freizugeben sind (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 der
Beförderungsbedingungen aller im VRR zusammengeschlosser Verkehrsbetriebe).
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c) Die von der Beklagten angeführte Rechtsprechung betrifft keine vergleichbaren
Sachverhalte: In dem vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main entschiedenen Fall
(NZV 2002, 367) hatte sich der Fahrgast im Mittelgang eines Busses an einen Sitz
gelehnt, sich aber nicht festgehalten. Das Landgericht Kassel (VersR 1995, 111) hatte
einen Fall zu entscheiden, in dem sich eine 80-jährige weder festgehalten, noch
versucht hatte, sofort einen Sitz einzunehmen. Der Bundesgerichtshof wiederum hat
betont, dass den Fahrer nur dann besondere Sorgfaltspflichten treffen, wenn sich durch
eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes die Überlegung aufdrängt, dass
dieser beim Anfahren stürzen könnte (NJW 1993, 654), was er im dortigen Fall
verneinte, in dem eine 65-jährige Frau trug, anstatt sich festzuhalten.
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Vorliegend war die Klägerin erkennbar gehbehindert, was dem Fahrer allerdings wegen
der Ausgestaltung der Haltestelle nicht auffallen konnte. Außerdem hat sie sofort
versucht, einen Sitzplatz zu erreichen. Gerade auf Grundlage der Rechtsausführungen
des Bundesgerichtshofs kommt man danach zu einer uneingeschränkten Haftung der
Beklagten zu 2.: Führt die Gestaltung einer Haltestelle dazu, dass erkennbar
gehbehinderte Personen in eine Straßenbahn einsteigen, ohne dass der Fahrer dies
bemerken muss oder sogar kann, kann der Verkehrsbetrieb bei einem Sturz ein
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Mitverschulden des gehbehinderten Fahrgasts nicht daraus herleiten, dass dieser
versucht, sofort nach dem Einsteigen einen nahe gelegenen freien Sitzplatz zu
erreichen.
Offen bleiben kann, ob wegen der Gestaltung ihrer Haltestelle der Beklagten zu 2. nicht
sogar ein über die bloße Steigerung ihrer Betriebsgefahr hinausgehender
Verschuldensvorwurf zu machen ist.
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4. Die anhand der ärztlichen Bescheinigung vom 27.5.2008 dokumentierten und von der
Beklagten nicht bestrittenen Verletzungsfolgen des Sturzes am 20.7.2008 rechtfertigen
ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500 EUR, § 287 ZPO. Die Klägerin erlitt Prellungen
von Schulter, Schädel und Thorax, die dem unstreitigen Sturz auch ohne Weiteres
zugeordnet werden können. Eine Woche nach dem Sturz hatte die Klägerin noch
Schmerzen zumindest in der Schulter. Über den weiteren Behandlungsverlauf und die
Intensität der Schmerzen ist indes nichts mitgeteilt. Die Kammer kann demnach auch
nur die gerichtsbekannt schmerzhaften Prellungen und eine über eine Woche
hinausgehende Beeinträchtigung der Schulter zugrunde legen. Dabei erscheint
angemessen, aber auch ausreichend, die mit jeder Prellung verbunden Schmerzen mit
500 EUR abzugelten, zumal weder das vorprozessuale Verhalten noch die
Rechtsverteidigung der Beklagten zu 2. eine höhere Genugtuung erfordern.
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Die Nebenentscheidungen beruhen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen
Verlustanteile der Beklagten auf §§ 92 Abs. 1 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Streitwert: 3.000 EUR.
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