Urteil des LG Darmstadt vom 01.08.2007

LG Darmstadt: verordnung, anwaltskosten, maschine, betriebsgefahr, abflug, wartung, aufzählung, fluggast, ausgleichszahlung, abgrenzung

1
2
3
4
Gericht:
LG Darmstadt 21.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
21 S 263/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 5 Abs 3 EGV 261/2004, Art
7 Abs 1 Buchst a EGV
261/2004
Ausgleichszahlungsanspruch des Fluggastes bei
Flugannulierung: Abgrenzung zwischen technischen
Defekten infolge außerordentlicher Umstände und
Realisierung von Betriebsgefahr
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Rüsselsheim
vom 08.11.2006 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise
abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Euro 250,00 nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem
30.12.2006 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die
Zwangsvollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von
110% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht
die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden
Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gegenstandswert des Berufungsverfahrens:
Gründe
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz wegen einer
Flugannulierung sowie Ersatz nichtanrechenbarer vorgerichtlicher Anwaltskosten.
Die Klägerin buchte bei der Beklagten einen Hin- und Rückflug von Frankfurt am
Main nach Mallorca, was nach der Großkreisberechnung einer Flugstrecke von
1.250 km entspricht. Der unter Flugnummer DE 590 für den 19.11.2005 um 06:35
Uhr vorgesehene Abflug in Frankfurt am Main wurde – ohne vorherige
Unterrichtung der Klägerin – am Abflugtag zunächst auf 06:55 Uhr verschoben und
sodann annulliert. Die Beklagte buchte die Fluggäste auf eine Maschine der
Lufthansa (LH 4514) mit Abflugzeit 16:00 Uhr um.
Eine von der Klägerin vorprozessual begehrte Ausgleichszahlung nach Art.7 Ia), 5
Ic)iii) Verordnung (EG) Nr. 261/2004 lehnte die Beklagte ab und berief sich auf
außergewöhnliche Umstände, nämlich ein Elektronikproblem an der planmäßigen
Maschine.
Die Klägerin hat den behaupteten Defekt bestritten, gerügt, dass die Beklagte
nicht dargelegt habe, welche Wartungs- und sonstigen zumutbaren Maßnahmen
sie habe durchführen lassen und weshalb der Defekt nicht habe festgestellt
werden können sowie schließlich die Auffassung vertreten, technische Defekte am
Fluggerät seien generell keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art.5 III
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Fluggerät seien generell keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art.5 III
Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Die Klägerin hat weiter behauptet, ihr sei durch
nicht anrechenbare vorgerichtliche Anwaltskosten ein weiterer Schaden von Euro
22,62 entstanden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie Euro 250,00 nebst 5% Zinsen über
dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2005 sowie Euro 22,62
außergerichtlicher Anwaltskosten zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie behauptet, Grund für die Flugannullierung sei ein technischer Defekt an der Tür
L1 gewesen, deren Elektronik keine ordnungsgemäße Schließung gemeldet habe.
Damit habe die Gefahr eines plötzlichen Druckabfalls in der Kabine bestanden
(Beweis: Zeuge Matthias Discher). Sie ist der Meinung, damit hätten
außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004
vorgelegen.
Mit Urteil vom 08.11.2006, worauf zur weiteren Sachdarstellung gemäß § 540 ZPO
ergänzend Bezug genommen wird, hat das Amtsgericht der Klage bis auf einen
Teil der vorgerichtlichen Anwaltskosten stattgegeben und zur Begründung
ausgeführt, dass der Klägerin gemäß Art.5 Ic)iii) Verordnung (EG) Nr.261/2004 ein
Ausgleichsanspruch nach Art.7 Ia) Verordnung (EG) Nr.261/2004 zustehe. Auf
außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004
könne sich die Beklagte nicht berufen. Aus den Erwägungsgründen Nr.14 zur
Verordnung (EG) Nr.261/2004 gehe hervor, dass als Umstände in diesem Sinne
nur solche in Betracht kämen, die außerhalb des direkten Einfluss- und
Organisationsbereichs des Flugunternehmens lägen. Hinsichtlich der
Anwaltskosten stehe der Klägerin nur ein Betrag in Höhe von Euro 18,85 zu.
Hiergegen wendet sich die – vom Amtsgericht zugelassene – Berufung der
Beklagten, mit welcher sie ihr die Abweisung der Klage weiter verfolgt und
fehlerhafte Rechtsanwendung rügt. Das Amtsgericht habe Art.5 III Verordnung (EG)
Nr.261/2004 fehlerhaft angewandt. Die Erwägungsgründe Nr.14 enthielten nur eine
beispielhafte Aufzählung. Darunter seien aber auch unerwartete
Flugsicherheitsmängel, worauf sich die Beklagte berufe. Aufgrund der Flughöhe der
Maschine stelle die Undichtigkeit der Kabinentür einen Flugsicherheitsmangel dar
(Beweis: Sachverständigengutachten). Dieser sei für die Beklagte unerwartet
gewesen, da sie sämtliche Fluggeräte – auch die hier betroffene Maschine – nach
den Herstellerangaben und den Vorgaben des Luftfahrtbundesamtes warten lasse
und es sich um einen dort nicht aufgetretenen und daher unvorhersehbaren
elektronischen Defekt gehandelt habe (Beweis: Zeuge ...,
Sachverständigengutachten). Sie meint, derartige technische Defekte seien
ebenfalls als außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG)
Nr.261/2004 anzusehen. Ferner habe das Amtsgericht vorgerichtliche
Anwaltskosten zu Unrecht zuerkannt. Zum einen seien diese als weitergehender
Schaden gemäß Art.12 I Verordnung (EG) Nr.261/2004 auf die geforderte
Ausgleichszahlung anzurechnen. Zum anderen habe die Klägerin trotz
ausdrücklicher Rüge der Beklagten weder eine Gebührenrechnung vorgelegt noch
substanziiert zu dem behaupteten Schaden vorgetragen.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung und rügt, die Beklagte habe auch in
der Berufungsbegründung den behaupteten technischen Defekt nicht näher
substanziiert. Die behauptete Wartung nach Maßgabe des Herstellers werde
bestritten, ebenso die Behauptung, die Maschine sei fluguntauglich gewesen. Es
sei vielmehr davon auszugehen, dass derartige Defekte durch regelmäßige
Wartung, insbesondere bei mehrfach redundanten Systemen, vermeidbar seien
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Wartung, insbesondere bei mehrfach redundanten Systemen, vermeidbar seien
bzw. der Flugsicherheit nicht entgegenstünden (Beweis:
Sachverständigengutachten). Die Anwaltskosten habe die Klägerin dargelegt.
Diese seien von der Beklagten erstinstanzlich auch nicht bestritten worden.
Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die zwischen den Parteien
gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Die Berufung ist nach Zulassung durch das Amtsgericht gemäß § 511 II Nr.2 ZPO
zulässig. Sie wurde fristgerecht eingelegt und begründet. In der Sache hat sie
indes nur hinsichtlich der Nebenforderung Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
Mit Recht wendet sich die Beklagte gegen die vom Amtsgericht zuerkannten
vorgerichtlichen Anwaltskosten. Die Klage war und ist dazu schon unschlüssig, weil
die Klägerin nicht dargetan hat, wann und auf welche Weise ihr diese berechnet
wurden und dass sie diese auch bezahlt hat. Ohne Erfolg macht die Klägerin
geltend, die Beklagte habe diese Nebenforderung in Erster Instanz nicht bestritten.
Ein Anerkenntnis kann in bloßem Schweigen nicht gesehen werden, weil dieses
ausdrücklich erklärt werden muss. Im Übrigen muss unschlüssiger Vortrag nicht
bestritten werden.
Das weitergehende Rechtsmittel greift indes nicht durch. Die Kammer folgt der
Auffassung des Amtsgericht, wonach sich die Beklagte wegen des behaupteten
technischen Defekts an der Kabinentür L1 der planmäßig vorgesehenen Maschine
selbst dann nicht auf Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 berufen kann, wenn
man den dazu gehaltenen Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt. Deshalb ist
die Klage im Hauptanspruch nach Art.7 Ia Verordnung (EG) Nr.261/2004
begründet.
Zwar ist der Beklagten im Ansatz darin beizupflichten, dass der Verordnungsgeber
in den Begründungserwägungen Nr.14 im Hinblick auf Art.5 III Verordnung (EG)
Nr.261/2004 nur eine beispielhafte und nicht abschließende Aufzählung derjenigen
Umstände vorgenommen hat, die als den Flugunternehmer entlastende
außergewöhnliche Umstände anzusehen sind. Die aufgeführten Beispiele zeigen
aber, dass es sich hierbei grundsätzlich um Einflussfaktoren handelt, deren
Entstehung außerhalb des organisatorischen und technischen
Verantwortungsbereiches des Flugunternehmers liegt, die also von diesem nicht
beeinflusst und demzufolge auch nicht abgewendet werden können und außerhalb
der sogenannten Betriebsgefahr des Fluggerätes liegen. Technische Defekte des
Fluggerätes, die Flugsicherheitsmängel verursachen, fallen daher nur dann in den
Anwendungsbereich des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004, wenn sie auf
derartige äußere Einflüsse zurückzuführen sind, also etwa witterungsbedingte
Defekte (z.B. durch Blitzschlag, Hagel u.ä.), Defekte durch unautorisierte Eingriffe
von betriebsfremden Dritten (z.B. Terroranschläge, durch den Fluggast selbst
herbeigeführte Beschädigungen u.ä.) oder sonstige vergleichbare Umstände (z.B.
Vogelschlag). Derartige Einflussfaktoren behauptet die Beklagte jedoch nicht.
Nach ihrer Darstellung lag ein Versagen der technischen Einrichtungen des
Fluggerätes selbst vor. Dieser Umstand ist allein dem Verantwortungsbereich der
Beklagten zuzuweisen. Dabei kann dahin stehen, ob das Fluggerät
ordnungsgemäß gewartet wurde und die Beklagte deshalb nicht konkret
vorhersehen konnte, ob und wann der behauptete Defekt auftreten würde. Darin
realisiert sich die Betriebsgefahr des Fluggerätes, die haftungsrechtlich der Sphäre
des Flugunternehmers, nicht aber dem Fluggast zuzurechnen ist.
Es ist ferner unstreitig, dass die Beklagte der Klägerin die Flugannullierung
entgegen Art.5 Ic)iii) Verordnung (EG) Nr.261/2004 nicht mindestens sieben Tage
vor dem planmäßigen Abflug angekündigt und ihr eine anderweitige Beförderung
angeboten hat, die einen Abflug von nicht mehr als einer Stunde vor der
planmäßigen Abflugzeit und ein Erreichen des Endzieles nicht mehr als zwei
Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit vorsah. Weiter ist unstreitig, dass die
Flugentfernung weniger als 1.500 km betrug, Art.5 Ia) Verordnung (EG)
Nr.261/2004.
Die vom Amtsgericht auf die Hauptforderung zuerkannten Verzugszinsen sind mit
der Berufung nicht angegriffen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 II Nr.1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr.10 ZPO.
Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens bestimmt sich nach § 47 I GKG in
25
26
Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens bestimmt sich nach § 47 I GKG in
Verbindung mit dem Berufungsantrag.
Die Revision ist zuzulassen, weil die Sache im Sinne des § 543 II Nr.1 ZPO
grundsätzliche Bedeutung hat. Bislang ist über die Frage, welche Umstände zu
einer Entlastung des Flugunternehmers nach Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004
führen und wie die Vorschrift auszulegen ist, höchstrichterlich noch nicht
entschieden.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.