Urteil des LG Darmstadt vom 09.10.2008

LG Darmstadt: hinreichender tatverdacht, akteneinsicht, urheberrechtsverletzung, adresse, begriff, ermittlungsverfahren, download, geschädigter, session, eingriff

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Gericht:
LG Darmstadt 9.
Strafkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 Qs 490/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 161a Abs 3 StPO, § 406e
StPO, Art 3 Abs 2 EGRL
48/2004, Art 8 EGRL 48/2004,
§ 2 Abs 1 Nr 2 UrhG
(Ermittlungsverfahren wegen Urheberrechtsverletzung:
Anspruch geschädigter Musikverlage auf Akteneinsicht zur
Namhaftmachung der Anschlussinhaber von IP-Adressen
beim Anbieten von urheberrechtlich geschützten
Musiktiteln in Internet-Tauschbörsen und Anforderungen an
das Handeln "in gewerblichem Ausmaß")
Tenor
Den Anzeigenerstatterinnen ist über deren verfahrensbevollmächtigte
Rechtsanwälte ... und Kollegen Akteneinsicht zu gewähren.
Die Kosten und die den Anzeigenerstatterinnen im Zusammenhang mit dieser
Entscheidung entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur
Last.
Gründe
Die Beschwerde gegen die Versagung von Akteneinsicht durch die
Staatsanwaltschaft ist als Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 161 a
Abs. 3 Satz 2 bis 4, 406 e Abs. 4 Satz 2 StPO statthaft und als solcher auch
begründet. Die anzeigenden Musikverlage, die als Rechteinhaber im vorliegenden
Verfahren Verletzte sind, können gemäß § 406 e Abs. 1 StPO Akteneinsicht
verlangen. Überwiegende schutzwürdige Interessen der Beschuldigten oder
anderer Personen stehen nicht entgegen (§ 406 e Abs. 2 StPO).
Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung sind zunächst die
widerstreitenden Grundrechte der Beteiligten in Ansatz zu bringen. Während sich
die Anzeigenerstatterinnen auf ihre Rechte aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG und –
mit Blick auf das geistige Eigentum bzw. die eigentumsrechtlich geschützten
Verwertungsrechte – des Art. 14 Abs. 1 GG stützen können, müssen die Belange
der Beschuldigten, namentlich ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus
Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG, dahinter zurücktreten. Hierbei ist zu
berücksichtigen, dass der Anbieter von Musikdateien in einer sog.
Internettauschbörse selbst die IP-Adresse preisgibt. Wird – wie regelmäßig –
seitens der geschädigten Musikverlage die Namhaftmachung des
Anschlussinhabers anhand der bereits bekannten Adresse begehrt, handelt es
sich lediglich noch um eine Erhebung der entsprechenden und
nicht etwa der durch das Datenschutzrecht und das Fernmeldegeheimnis weitaus
umfassender geschützten (vgl. LG Stralsund, Beschl. v. 11.07.2008
– 26 Qs 177/08).
Neben diesem vergleichsweise milden Eingriff in das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung ist ferner die Stärke des Tatverdachts in die Abwägung
einzubeziehen. Es kann dahinstehen, ob im vorliegenden Fall ein hinreichender
Tatverdacht zu verneinen ist, weil und soweit der Anschlussinhaber nicht mit dem
Täter der Urheberrechtsverletzung identisch sein muss und zunächst weitere – von
der Staatsanwaltschaft aus Opportunitätsgründen nicht mehr durchgeführte –
Ermittlungsschritte erforderlich gewesen wären. Jedenfalls hebt sich der
Verdachtsgrad aufgrund der umfassenden Datendokumentation, die bereits im
Auftrag der Anzeigenerstatterinnen erfolgt ist, deutlich von einem bloßen
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Auftrag der Anzeigenerstatterinnen erfolgt ist, deutlich von einem bloßen
Anfangsverdacht ab. In Anbetracht des Umstandes, dass der Anschlussinhaber
nicht zwingend, wohl aber oftmals Täter oder zumindest Teilnehmer einer
Urheberrechtsverletzung sein wird, erscheint eine Aufdeckung seiner Identität
gegenüber den verletzten Musikverlagen im Wege der Akteneinsicht nicht
unverhältnismäßig.
Dabei ist ferner in Bedacht zu nehmen, dass auch mit Blick auf den
Anschlussinhaber, der an dem Urheberrechtsverstoß mitgewirkt
hat, ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 406 e StPO zu bejahen sein kann.
Denn ein solches Interesse lässt sich ebenso aus bürgerlich-rechtlichen
Ansprüchen herleiten (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 406 e Rn. 3) und
kommt hier vor dem Hintergrund einer verschuldensunabhängigen Störerhaftung
des Anschlussinhabers aus § 97 UrhG, § 1004 BGB in Betracht (dazu OLG
Düsseldorf, VersR 2008, 1221; OLG Frankfurt a. M., MMR 2008, 603; OLG Köln,
Beschl. v. 08.05.2007 – 6 U 244/06; Stang/Hühner, GRUR-RR 2008, 273).
Angesichts der von den Anzeigenerstatterinnen selbst dokumentierten Daten,
insbesondere der IP-Adresse, und dem Begehren, das sich im Kern auf die bloße
Namhaftmachung des IP-Verwenders bezieht, kann von einer unzulässigen
Ausforschung im Wege der Akteneinsicht keine Rede sein.
Der begehrten Akteneinsicht steht auch nicht die zum 01.09.2008 in Kraft
getretene Vorschrift des § 101 UrhG entgegen, die einen Auskunftsanspruch des
Verletzten – im Übrigen auch gegen Dritte – für den Fall eines
Urheberrechtsverstoßes von "gewerblichem Ausmaß" vorsieht. Es bedarf keiner
Klärung, ob es sich hierbei um eine gesetzgeberische Wertentscheidung handelt,
die auch bei Auslegung des § 406 e StPO zu berücksichtigen und in diese Norm
gleichsam als einschränkendes Kriterium hineinzulesen ist. Ebenso kann offen
bleiben, ob § 101 UrhG überhaupt auf Rechtsverletzungen anwendbar ist, die – wie
hier – vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden (für rückwirkende Anwendung
Czychowski, GRUR-RR 2008, 265, 268). Jedenfalls sind im vorliegenden Fall die
Voraussetzungen dieser Norm erfüllt, weil die Rechtsverletzung "in gewerblichem
Ausmaß" erfolgte.
Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beurteilt. In
Anlehnung an § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG, wonach sich das gewerbliche Ausmaß
sowohl aus der Anzahl als auch der Schwere der Rechtsverletzungen ergeben
kann, wird zum Teil auf die Anzahl und die Aktualität der zum Download
bereitgehaltenen Musikdateien abgestellt. Dies deckt sich mit der
Entwurfsbegründung, wonach das Ausmaß der Handlungen über das hinausgehen
muss, was einer Nutzung zum privaten Gebrauch entspricht (vgl. BT-Drs. 16/5048,
S. 49). Allerdings schwanken die jeweils vertretenen Größenordnungen zwischen
der Bereitstellung lediglich eines aktuellen Kinofilmes oder Musikalbums (vgl.
Weiden, GRUR 2008, 495, 497) bis hin zum Zugänglichmachen von etwa 3.000
Musikstücken oder 200 Filmen (dazu Braun, juris PR-ITR 17/2008 Anm. 4, unter D).
Indessen wird in der Rechtsprechung bisweilen an den handels- und zivilrechtlichen
Gewerbebegriff angeknüpft. Demnach soll eine selbständige, planmäßige und auf
Dauer angelegte Tätigkeit erforderlich sein, die in der Absicht der Gewinnerzielung
erfolgt und äußerlich erkennbar auf zumindest einem Markt hervortritt (so LG
Frankenthal, Beschl. v. 26.09.2008 – 6 O 340/08; Beschl. v. 15.09.2008 – 6 O
325/08).
Richtigerweise ist der Begriff jedoch im Lichte des höherrangigen sekundären
Gemeinschaftsrechts auszulegen, da § 101 UrhG in Umsetzung von Art. 8 der
Enforcement-Richtlinie erlassen worden ist (Richtlinie 2004/48/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Durchsetzung der
Rechte des geistigen Eigentums, ABl. EU Nr. L 195, S. 16). Nach Erwägungsgrund
14, der zum integralen Bestandteil der Richtlinie gehört und daher zur Auslegung
unmittelbar heranzuziehen ist, zeichnen sich "in gewerblichem Ausmaß"
vorgenommene Rechtsverletzungen dadurch aus, dass sie zwecks Erlangung
eines "wirtschaftlichen oder kommerziellen Vorteils vorgenommen werden; dies
schließt in der Regel Handlungen aus, die in gutem Glauben von Endverbrauchern
vorgenommen werden".
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben begegnet es keinen Bedenken, eine
Auskunftsverpflichtung auch mit Blick auf Nutzer eines Filesharings anzunehmen,
soweit die von ihnen gleichsam als Gegenleistung zum eigenen Download über das
Netz bereitgestellten Musiktitel von nicht unerheblicher Anzahl und die sog.
Sessions von nicht unerheblicher Dauer sind. Denn die Erlangung eines
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Sessions von nicht unerheblicher Dauer sind. Denn die Erlangung eines
"wirtschaftlichen oder kommerziellen Vorteils" muss nicht notwendig auf Geld
gerichtet sein. Sie kann sich vielmehr auf jeden beliebigen Vermögensvorteil
beziehen, mithin auch – wie es Wesensmerkmal der Tauschbörsen ist – auf das
Herunterladen gesuchter Musikstücke, die auf legalem Wege grundsätzlich nur
gegen Entgelt zu erlangen wären und daher einen Marktwert besitzen.
Der Nutzer, der sich im vorgenannten Sinne des Filesharings bedient, wird auch
regelmäßig nicht "in gutem Glauben" handeln. Nicht zuletzt wegen der
weitreichenden Information durch die Medien über die urheberrechtlichen
Implikationen der Musiktauschbörsen liegt ein gutgläubiges Handeln fern, sofern
nicht ausnahmsweise besondere Umstände hervortreten, die Anlass zu der
begründeten Annahme geben, dem Nutzer sei ein urheberechtlicher Verstoß
unbekannt gewesen und hätte sich ihm auch nicht aufdrängen müssen.
Angesichts einer mehrstündigen Session und dem Bereithalten von 620 Audio-
Dateien überwiegend gängiger Titel ist im vorliegenden Fall von einer
Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß auszugehen. Dies gilt umso mehr, als
nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie die danach vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren
und Rechtsbehelfe u. a. "wirksam" und "abschreckend" sein müssen, was gerade
für eine weitreichende Anwendung des Auskunftsanspruchs spricht. Gefordert ist
also – in Übereinstimmung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der
praktischen Wirksamkeit – ein effektiver Urheberrechtsschutz (vgl.
EuGH, GRUR 2008, 241, 243, Tz. 57 – Promusicae/Telefónica; Czychowski, GRUR-RR
2008, 265). Genau dieser liefe aber ins Leere, wollte man den Begriff des
"gewerblichen Ausmaßes" nach handelsrechtlicher Definition auf eine dauerhafte,
gewinnorientierte Tätigkeit am Markt beschränken, die im Rahmen des praktisch
bedeutsamsten Problems der Internettauschbörsen faktisch nie erfüllt sein wird.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden
Anwendung der §§ 464 Abs. 2, 467 Abs. 1 StPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 161 a Abs. 3 Satz 4, 406 e Abs. 4 Satz 2
StPO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.