Urteil des LG Bonn vom 14.07.2010

LG Bonn (egmr, bundesrepublik deutschland, stgb, sicherungsverwahrung, anordnung, stv, störung, emrk, bewertung, stpo)

Landgericht Bonn, 27 Ks 01/10
Datum:
14.07.2010
Gericht:
Landgericht Bonn
Spruchkörper:
7. große Strafkammer des Landgerichts
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
27 Ks 01/10
Schlagworte:
Nachträgliche Sicherungsverwahrung, Unterbringungsbefehl, EGMR,
Folgenabwägung, neue Tatsachen
Normen:
§ 66b StGB, § 275a StPO
Sachgebiet:
Recht (allgemein - und (Rechts-) Wissenschaften Strafrecht
Leitsätze:
1. Das Urteil des EGMR vom 17.12.2009 (Az. 19359/04 M. -
Bundesrepublik Deutschland; NStZ 2010, 263) entfaltet keine
unmittelbare Bindungswirkung für die Gerichte in anderen Verfahren, die
die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wegen einer
vor dem 29.07.2004 begangenen Tat betreffen.
2. Ist über den Fortbestand eines Unterbringungsbefehls gemäß § 275a
Abs. 5 StPO zu entscheiden, kann von der rechtlichen Bewertung des
EGMR und als deren Ausprägung von den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1
EMRK unter den besonderen Umständen des Einzelfalls zu Gunsten
einer Folgenabwägung abgewichen werden.
Tenor:
Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Bonn vom 19.10.2009 (Az.
24 Ks 06/09) wird aufgehoben.
Der Verurteilte ist in dieser Sache sofort aus der Haft zu entlassen. Haft-
oder Unterbringungsanordnungen in anderer Sache bleiben unberührt.
G r ü n d e :
1
I.
2
Mit Urteil vom ##.##.19## hat das Landgericht C (Az. ## $ #/##) den Verurteilten des
Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord und besonders schwerer Brandstiftung für
schuldig befunden und ihn deswegen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.
Die Strafe wurde zunächst durchgängig in der JVA B vollstreckt. Unter dem ##.##.20##
setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts B die Vollstreckung des Restes
der Freiheitsstrafe - ungefähr 16 Monate – mit Wirkung zum ##.##.20## zur Bewährung
3
aus. Gleichzeitig setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts B die
Bewährungszeit auf 4 Jahre fest und wies den Verurteilten unter anderem an, nach
seiner Entlassung seinen ständigen Aufenthalt in der geschlossenen psychiatrischen
Einrichtung "Haus D" in M zu nehmen und diesen nicht ohne Zustimmung der Kammer
vorzeitig zu beenden. Entsprechend diesen Vorgaben des Aussetzungsbeschlusses
wurde der Verurteilte am ##.##.20## aus der JVA B entlassen und auflagengemäß in
der Einrichtung in M aufgenommen.
Bereits wenige Tage nach seiner Aufnahme in diese Einrichtung, am Wochenende des
##./##.##.20##, begehrte der Verurteilte seine Rückverlegung in den geschlossenen
Vollzug. Als sich seine psychische Befindlichkeit zunehmend verschlechterte, kam es
am ##.##.20## zu einem Vorfall in der Einrichtung "Haus D", bei dem der Verurteilte, um
dieses Begehren durchzusetzen, mit der Tötung von Mitbewohnern und mit
Brandstiftung gedroht haben soll. Als Folge erging am ##.##.20## gegen den
Verurteilten Sicherungshaftbefehl des Landgerichts B (Az. ## e StVK ###/##), aufgrund
dessen der Verurteilte festgenommen und in die JVA L überführt wurde. Ab ##.##.20##
befand sich der Verurteilte dann wieder in der JVA B in Haft. Zudem widerrief das
Landgericht B durch Beschluss vom ##.##.20## die bewilligte Strafaussetzung zur
Bewährung (Az. ## e StVK ###/##), woraufhin der Verurteilte seine Reststrafe in der
JVA B verbüßen musste und weiterhin dort verblieb.
4
Durch Antragsschrift vom ##.##.20## leitete die Staatsanwaltschaft C das Verfahren auf
Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß
§ 66b Abs. 2 StGB, § 275a StPO ein. Hintergrund des Antrags war im Wesentlichen der
Vorfall vom ##.##.20## in der Einrichtung "Haus D". Mit Urteil vom ##.##.20##
entsprach das Landgericht C (Az. ## Ks #/##) dem Antrag der Staatsanwaltschaft C und
ordnete gegen den Verurteilten die nachträgliche Sicherungsverwahrung an. Zugleich
erließ das Landgericht C einen Unterbringungsbefehl gemäß § 275a Abs. 5 StPO.
Gegen das Urteil des Landgerichts C vom ##.##.20## legte der Verurteilte unter dem
##.##.20## Revision zum Bundesgerichtshof ein. Am ##.##.20## war die Vollstreckung
der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts C vom ##.##.19## erledigt. Der
Verurteilte verblieb aber aufgrund des Unterbringungsbefehls vom ##.##.20## weiterhin
in der JVA B. Auf die Revision des Verurteilten hob der Bundesgerichtshof durch
Beschluss vom ##.##.20## das Urteil des Landgerichts C vom ##.##.20## mit den
Feststellungen auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an
eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts C zurück (Az. # StR ###/##).
Infolgedessen lag die Akte seit 05.07.2010 der Kammer zur Entscheidung vor.
5
Im hiesigen Verfahren über die Prüfung der Aufrechterhaltung des
Unterbringungsbefehls des Landgerichts C vom ##.##.20## beauftragte die Kammer
durch Beschluss vom 06.07.2010 den Sachverständigen Dr. P mit der Erstattung eines
vorläufigen psychiatrischen Gutachtens, das dieser am 07./08.07.2010 erstattete. Die
Kammer hat den Verteidiger des Verurteilten und die Staatsanwaltschaft angehört.
6
II.
7
Der gegen den Verurteilten ergangene Unterbringungsbefehl war aufzuheben, weil
dringende Gründe für die Annahme, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung des
Verurteilten angeordnet wird, zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorliegen, §§ 275a Abs. 5
S. 1, 4; 126a Abs. 3 S. 1 StPO.
8
1.
9
Hierzu bedurfte es zunächst keiner Entscheidung dahingehend, ob das Fehlen
dringender Gründe letztlich bereits darauf beruhen muss, dass § 2 Abs. 6 StGB in
Verbindung mit §§ 66b Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StGB als Folge des seit 10.05.2010
EGMR
17.12.2009 (Az. 19359/04 M. - Bundesrepublik Deutschland; NStZ 2010, 263) als
konventionswidrig wegen Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK einzustufen wäre,
soweit sich die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung auf Taten bezieht, die
vor Inkrafttreten der Vorschrift begangen wurden.
10
a)
11
In diesem Urteil befand der EGMR die Vollstreckung einer angeordneten
Sicherungsverwahrung über die durch Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten
und anderen gefährlichen Straftaten mit Wirkung zum 31.01.1998 aufgehobene
Höchstfrist von 10 Jahren hinaus als koventionswidrig wegen Verstoßes gegen Art. 5
Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK, sofern die ursprüngliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung erstmals vor dem 31.01.1998 erfolgte. Insofern hob der EGMR
hervor, dass der Wegfall der Höchstfrist für Untergebrachte, zu deren Tatzeit die
Höchstfrist des § 67d Abs. 1 S. 1 StGB a. F. von 10 Jahren Geltung beanspruchte, eine
konventionswidrige Rückwirkung nach Art. 7 Abs. 1 EMRK darstelle, infolgedessen §
67d Abs. 3 S. 1 StGB in der geltenden Fassung für diese Altfälle den Bestimmungen der
EMRK zuwiderlaufe. Als Folge dieser Entscheidung hoben mehrere Obergerichte
Unterbringungsbefehle gegen Untergebrachte in solchen die Höchstdauer der
Sicherungsverwahrung betreffenden Verfahren unter Bezugnahme auf die Vorgaben
des EGMR auf und ordneten die sofortige Freilassung der Betroffenen an (vgl. OLG
Hamm, Beschluss vom 12.05.2010, Az. 4 Ws 114/10; OLG Frankfurt a. M., Beschluss
vom 24.06.2010, Az. 3 Ws 485/10). Weiter stellte der Bundesgerichtshof mit Beschluss
vom 12.05.2010 fest, dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
nach § 66b Abs. 3 StGB für Taten, die vor Inkrafttreten der Vorschrift begangen wurden,
bei konventionsgemäßer Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB nicht zulässig sei, da insoweit
ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK vorliege (BGH, Beschluss vom 12.05.2010,
Az. 4 StR 577/09). Dementgegen bestehen nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtliche Bedenken an der Gültigkeit der
zugrunde liegenden Vorschrift des § 66b StGB sowie auch deren Anwendbarkeit auf
Vorgänge, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung vom 23.07.2004 abgeurteilt worden sind, nicht (BVerfG NJW
2006, 3483, 3484; so auch noch BGH NStZ 2005, 684, 685).
12
b)
13
Davon ausgehend entfaltet das Urteil des EGMR selbst für das hiesige Verfahren keine
unmittelbare Bindungswirkung. Allerdings sind die Bestimmungen der EMRK wegen
Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht im Range einfachen
Bundesrechtes. Deren Bestimmungen in der Anwendung und Auslegung, die sie durch
die Rechtsprechung des EGMR erfahren haben, sind von den nationalen Gerichten in
den Grenzen der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung sowie der Bindung an Recht und
Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG zur Auslegung des materiellen Rechts heranzuziehen
(BVerfG NJW 2004, 3407, 3410; NJW 2005, 1105, 1107). In der dabei vorzunehmenden
methodisch vertretbaren und verfassungskonformen Auslegung des innerstaatlich
14
methodisch vertretbaren und verfassungskonformen Auslegung des innerstaatlich
anzuwendenden Rechts sind die durch den EGMR in seiner Abwägung
berücksichtigten Aspekte, vor allem im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, zu
beachten. Das zuständige Gericht muss sich deswegen mit der Entscheidung des
EGMR jedenfalls erkennbar auseinandersetzen (BVerfG NJW 2004, 3407, 3410).
Gerade in Fällen wie dem vorliegenden, in denen verschiedene grundrechtlich
geschützte Interessen aufeinander treffen, verbietet sich indes eine rein schematische
Umsetzung der Entscheidungen des EGMR. Vielmehr obliegt es dem zuständigen
Gericht, sofern es sich mit den Vorgaben des EGMR auseinander setzt, mit
nachvollziehbarer, methodisch vertretbarer Begründung von der Rechtsauffassung des
EGMR abzuweichen (BVerfG NJW 2004, 3407, 3410).
c)
15
Ausgehend von dieser Rechtslage hält es die Kammer im hiesigen Verfahren
grundsätzlich durchaus für zulässig, im Rahmen einer dann vorzunehmenden
Folgenabwägung von der rechtlichen Bewertung des EGMR und als deren Ausprägung
den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 EMRK unter den besonderen Umständen des
Einzelfalls abzuweichen (vgl. auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 01.06.2010, Az. 1 Ws
57/10; OLG Koblenz, Beschluss vom 07.06.2010, Az. 1 Ws 108/10; OLG Celle,
Beschluss vom 25.05.2010, Az. 2 Ws 169/10 und 2 Ws 170/10). Eine schematische
Umsetzung des Urteils des EGMR verbietet sich hier auch insbesondere deshalb, weil
es bei der Entscheidung der Kammer nicht um die Anordnung bzw. die Aufhebung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung selbst, sondern allein um den Fortbestand eines
Unterbringungsbefehls gemäß § 275a Abs. 5 StPO geht. Gerade in dieser Konstellation
treten aber die kollidierenden grundrechtlichen Schutzpositionen besonders zu Tage.
Konsequent erscheint es der Kammer im Rahmen der durch die vorbezeichnete
Entscheidung des EGMR veranlassten Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB dahingehend,
ob das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK im Lichte dieser Entscheidung
insoweit als gesetzliche Einschränkung des § 2 Abs. 6 StGB zu verstehen ist, nicht
zwingend, dem Freiheitsrecht des Verurteilten gegenüber dem Schutzbedürfnis der
Allgemeinheit auf Basis des derzeitigen Verfahrensstandes zum jetzigen Zeitpunkt
Vorrang einzuräumen.
16
2.
17
Letztlich kann eine abschließende Beurteilung dieser Rechtsfrage dahingestellt bleiben,
da die Kammer nach den auf Grundlage des bisherigen Verfahrensstands zur
Verfügung stehenden Erkenntnissen derzeit nicht mit dem für eine Aufrechterhaltung
des Unterbringungsbefehls notwendigen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit davon
ausgehen kann, dass es nach Abschluss des Hauptverfahrens zu einer Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung des Verurteilten kommt. Insoweit bestehen
nämlich bereits erhebliche Bedenken, ob die materiellen Voraussetzungen des § 66b
Abs. 2 StGB in der hiesigen Konstellation überhaupt vorliegen.
18
a)
19
Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist gemäß
§§ 66b Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StGB unter anderem, dass nach der Verurteilung wegen
hier - eines Verbrechens gegen das Leben und vor Ende des Vollzugs der deswegen
ausgesprochenen Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche
20
Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Neu und damit für die
Anordnung berücksichtigungsfähig sind in diesem Sinne dabei allein solche Tatsachen,
die gerade im Zeitraum nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor
Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt werden oder erkennbar
geworden sind (BGH, Beschluss vom 12.05.2010, Az. 2 StR 171/10; BGH NJW 2005,
3078, 3080; OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2005, 106, 107; vgl. BT-Drs. 15/2887, S. 10,
12). Dagegen berechtigen Tatsachen, die im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen
und bekannt oder zumindest erkennbar waren, nicht zur Anordnung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung. Dabei beurteilt sich die Erkennbarkeit der Tatsachen danach,
ob diese dem erkennenden Gericht im Ausgangsverfahren nicht bei pflichtgemäßer
Wahrnehmung seiner Aufklärungspflichten hätten bekannt werden können (BGH,
Beschluss vom 12.05.2010, Az. 2 StR 171/10; BGH StV 2008, 636, 638; NJW 2006,
384, 385; NJW 2005, 2022, 2023; NJW 2005, 3078, 3080). Damit wird sichergestellt,
dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht
Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des
Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden.
Solche neuen Tatsachen können im Einzelfall auch psychiatrische Befundtatsachen
sein. In diesem Zusammengang kommt es dann aber gerade nicht auf eine neue oder
sogar erstmalige sachverständige Bewertung von Tatsachen an. Entscheidend ist
vielmehr, ob die der Um- bzw. Neubewertung zugrunde liegenden
Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen oder erkennbar
waren (BGH, Beschluss vom 12.05.2010, Az. 2 StR 171/10; BGH StV 2008, 636, 638;
BGH NJW 2005, 3078, 3080; OLG München StV 2010, 193;). Die Um- oder
Neubewertung bereits im Ausgangsverfahren erkannter und gewürdigter Tatsachen und
eine hierauf gestützte bloße Änderung der psychiatrischen Bewertung genügen indes
nicht (BGH, Beschluss vom 12.05.2010, Az. 2 StR 171/10; BGH, Urteil vom 22.04.2009,
Az. 2 StR 21/09; OLG München StV 2010, 193; OLG Jena StV 2006, 640). Ebenso
wenig können Tatsachen, die zwar nach der Anlassverurteilung auftreten, durch die sich
aber ein im Ausgangsverfahren bekannter bzw. erkennbarer Zustand lediglich bestätigt,
als "neu" im Sinne des § 66b StGB gelten (BGH, Beschluss vom 12.05.2010, Az. 2 StR
171/10; BGH StV 2007, 29, 30). Dies gilt insbesondere für persönlichkeits- oder
krankheitsbedingte Auffälligkeiten bei dem Verurteilten, die sich in seinem Verhalten
nach der Anlassverurteilung lediglich fortsetzen; sie können ausnahmsweise und nur
dann als "neu" angesehen werden, wenn sie belegen, dass eine bekannte Störung sich
in nicht vorhersehbarer Weise vertieft oder verändert hat, und sie die Gefährlichkeit des
Verurteilten deshalb in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lassen (BGH StV
2008, 636, 638; BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; OLG München StV 2010, 193).
21
b)
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Davon ausgehend erscheint es nach vorläufiger Bewertung der aktenkundigen
Tatsachen, insbesondere der Feststellungen in dem Urteil des Landgerichts C vom
##.##.19## (Az. ## $ #/##), den zahlreichen in früheren Verfahren sowie während des
Vollzugs eingeholten psychiatrischen Gutachten, den im Unterbringungsverfahren vor
der #. Strafkammer des Landgerichts C eingeholten Gutachten der Sachverständigen
Prof. Dr. N und Dr. O sowie den nunmehrigen Ausführungen des beauftragten
Sachverständigen Dr. P in seiner vorläufigen gutachterlichen Stellungnahme, fraglich,
ob die während des Vollzugs stattgefundenen Ereignisse eine Anordnung nach
Maßgabe des § 66b StGB überhaupt rechtfertigen können.
23
(i)
24
Nach insoweit übereinstimmender Beurteilung der namentlich genannten
Sachverständigen liegt in der Person des Verurteilten ein schizophrenes Residuum
(ICD-10: F 20.5) im Sinne eines überdauernden Restzustandes einer schizophrenen
Psychose mit erheblicher Affektarmut und störungsbedingter Emotionslosigkeit und
Einschränkung der Realitätskontrolle begründet. Die affektive Störung zeigt sich dabei
durch einen inadäquaten, verflachten Affekt und verantwortungsloses und
unvorhersehbares Verhalten. Hier ist es gerade charakteristisch für das diesbezügliche
Krankheitsbild, dass krankheitsbedingte Affekteinbrüche und situationsinadäquate
Verhaltensweisen nur gelegentlich unter dem Druck außergewöhnlicher äußerer Reize
und ungewöhnlicher Anforderungen zu Tage treten. Bei dem Verurteilten liegt vor
diesem Hintergrund ein chronisches Krankheitsstadium vor, das bei ihm schon seit
Jahrzehnten besteht und bei dem der Versuch einer therapeutischen Behandlung keine
Aussicht auf Erfolg hat. Die affektive Störung hat nach den übereinstimmenden
Bekundungen der Sachverständigen Prof. Dr. N, Dr. O und Dr. P bereits zum Zeitpunkt
des Anlassdeliktes bestanden und war hauptursächlich für das Zustandekommen dieser
Tat. Sie besteht auch weiter fort.
25
(ii)
26
Vor dem Hintergrund dieses Krankheitsbildes des Verurteilten haben die
Sachverständigen Prof. Dr. N und Dr. P übereinstimmend bekundet, dass die affektive
Störung des Verurteilten bereits bei Aburteilung der Anlasstat vorgelegen habe und
nach ihrer Auffassung diese Störung hinreichenden Anlass gegeben hätte, zumindest
die Minderung der Schuldfähigkeit dort festzustellen. Insoweit folgt die Kammer den
Ausführungen der Sachverständigen, da sie es zumindest auf Basis des derzeitigen
Verfahrensstandes als weit überwiegend wahrscheinlich erachtet, dass bei dem
Verurteilten die ihm diagnostizierte affektive Störung im Rahmen eines schizophrenen
Residuums bereits zum Zeitpunkt der Anlasstat bestand und deren Auswirkungen auf
die Anlasstat für das Ausgangsgericht erkennbar gewesen wären. Das Ausgangsgericht
hatte bereits in seinem Urteil festgestellt, dass die Problematik der affektiven Störung
auch der Anlasstat zugrunde lag. Insofern hätte die Kammer bei ihrer damaligen
Bewertung im Ausgangsverfahren – trotz teilweise widersprechender
Sachverständigenbewertungen, an die die Kammer aber nicht gebunden war –
erkennen können, dass eine Remission der Erkrankung nicht ohne weiteres
anzunehmen war, da sich in der Anlasstat gerade das typische krankheitsbedingte
Verhaltensmuster realisiert hat und das Auftreten der typischen Verhaltensmuster an
das Vorliegen von Konflikt- und Überforderungssituationen gebunden ist.
27
(iii)
28
Insofern sind die während des Strafvollzugs aufgetretenen Vorfälle nach vorläufiger
Einschätzung der Kammer letztlich alle auf die dem diagnostizierten Krankheitsbild des
Verurteilten entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten zurückzuführen. Insofern handelt
es sich bei den hinzugetretenen weiteren Anknüpfungstatsachen nicht um "neue"
Tatsachen im Sinne des § 66b StGB. Die bekannt gewordenen Vorfälle sind zwar nach
der Anlassverurteilung während des Strafvollzugs aufgetreten, letztlich bestätigen sie
aber nur den bereits im Ausgangsverfahren zumindest erkennbaren Zustand einer
verminderten Schuldfähgikeit. Sie sind nämlich allesamt persönlichkeits- oder
krankheitsbedingte Auffälligkeiten, die Folge der bei Anlassverurteilung bekannten
29
krankheitsbedingte Auffälligkeiten, die Folge der bei Anlassverurteilung bekannten
affektiven Störung des Verurteilten sind. Insofern setzt sich nur das damals
diagnostizierte Krankheitsbild und die resultierende, damals bereits erkennbare
verminderte Schuldfähigkeit fort, ohne dass sich dabei die bekannte Störung in nicht
vorhersehbarer Weise vertieft oder verändert hat, und sie die Gefährlichkeit des
Verurteilten deshalb in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lässt (BGH StV
2008, 636, 638; BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; OLG München StV 2010, 193).
Vielmehr sind die gezeigten Verhaltensweisen u. a. am ##.##.20##, nämlich um eine
Verlegung in den regulären Vollzug zu erzielen, mit der Tötung von Mitbewohnern und
mit Brandstiftung zu drohen, nach vorläufiger Auffassung der Kammer gerade typische
Folge des diagnostizierten, weiterhin bestehenden Krankheitsbilds. Dies wird auch
bestätigt durch die vorläufige Einschätzung des Sachverständigen Dr. P. Eine
Vertiefung oder Veränderung des Krankheitsbildes kann die Kammer nach vorläufiger
Einschätzung indes derzeit nicht erkennen, da die neuerlich gezeigten Auffälligkeiten
gerade unter der psychischen Ausnahmesituation des plötzlichen Wechsels vom
zurückgezogenen Leben in der Einzelzelle hinein in die Stationsatmosphäre des Heims
entstanden sind und insoweit eine typische Überforderungssituation für den Verurteilten
darstellen. Insofern manifestiert sich allein das bisherige Krankheitsbild, ohne dass die
Gefährlichkeit des Verurteilten deshalb in einem anderen Licht zu bewerten wäre.