Urteil des LG Bonn vom 30.09.2004

LG Bonn: örtliche zuständigkeit, wirtschaftliche tätigkeit, fruchtlose pfändung, bezirk, datum, gerichtsstand, meldung, rüge, arztpraxis, gemeinschaftspraxis

Landgericht Bonn, 6 T 221/04
Datum:
30.09.2004
Gericht:
Landgericht Bonn
Spruchkörper:
6. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 T 221/04
Vorinstanz:
Amtsgericht Bonn, 95 IN 97/02
Schlagworte:
Zuständigkeit, Insolvenzgericht
Normen:
§ 3 InsO
Sachgebiet:
Recht (allgemein - und (Rechts-) Wissenschaften
Leitsätze:
Betreibt der Schuldner eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit, ist nur
das für den Mittelpunkt dieser Tätigkeit zuständige Insolvenzgericht
zuständig, nicht dasjenige des allgemeinen Gerichtsstands. § 3 Abs. 2
InsO kann deshalb nicht dazu führen, dass das zuerst angegangene
Insolvenzgericht des allgemeinen Gerichtsstandds dasjenige des
Mittelpunkts der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit verdrängt.
Tenor:
Der Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Bonn vom 27.07.2004 -95 IN
97/02- sowie dessen Nichtabhilfebeschluss vom 26.08.2004 werden
aufgehoben.
Das Amtsgericht Bonn ist örtlich unzuständig.
Das Verfahren wird an das für M als Insolvenzgericht zuständige
Amtsgericht O verwiesen, dem die weiter zu treffenden Entscheidungen
vorbehalten bleiben.
G r ü n d e:
1
I.
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Die betreibende Gläubigerin hat mit Antrag vom 03.09.2002, eingegangen am
24.09.2002 bei dem Amtsgericht Bonn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
wegen -streitiger- Steuerschulden der Jahre 1984 bis 1997 (insbesondere
Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer, Umsatzsteuer und
Säumniszuschläge) in Höhe von insgesamt 287.555,59 EUR beantragt. In der dem
Antrag beigefügten Niederschrift über eine fruchtlose Pfändung vom 14.08.2002
sowie den vom gleichen Tage stammenden ebenfalls beigefügten Feststellungen
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über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Schuldnerin finden
sich Hinweise darauf, dass diese ihre Einkünfte aus der Tätigkeit als Ärztin beziehe
und die Praxis sich in M befinde. In dem Gutachten des jetzigen
Insolvenzverwalters vom 22.07.2004, das dieser als vorläufiger Insolvenzverwalter
erstattet hat, ist angegeben, dass die Schuldnerin ihre Praxis in M betreibe und die
Praxisräumlichkeiten gemietet habe.
Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss das Insolvenzverfahren eröffnet
und darin als Praxisanschrift der Schuldnerin die Anschrift einer früheren
Gemeinschaftspraxis in L angegeben, die die Schuldnerin bis 2001 mit ihrem Ehemann
betrieben hat und die dieser seitdem allein betreibt. Auch im Nichtabhilfebeschluss ist
diese alte Praxisanschrift angegeben.
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Mit ihrer sofortigen Beschwerde strebt die Schuldnerin die Aufhebung des
Eröffnungsbeschlusses und des Beschlusses vom 05.03.2003 über die Anordnung von
Sicherungsmaßnahmen sowie Zurückweisung des Eröffnungsantrages an; ferner
beantragt sie, die Kosten des Eröffnungsverfahrens und des eröffneten Verfahrens der
Staatskasse aufzuerlegen.
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Sie macht geltend, das Amtsgericht Bonn sei örtlich unzuständig, weil sie seit Januar
2002 ihre Arztpraxis in M betreibe. Zudem bestehe ein Vollstreckungshindernis nach §§
268, 278 AO, weil per 08.01.2003 hinsichtlich der Einkommensteuer 1984-1991 ein
Antrag nach § 268 AO auf Erlass eines Aufteilungsbescheides gestellt sei, der die
Vollstreckung der Steuerschuld unzulässig mache. Die Sicherungsmaßnahmen seien
aufzuheben, weil deren weitere Aufrechterhaltung jeder Grundlage entbehre. Der jetzige
Insolvenzverwalter habe zudem auch die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin nicht
ordnungsgemäß ermittelt und festgestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten der
Beschwerdebegründung wird auf die Schriftsätze vom 11.08.2004 (Bl. 250 ff d.A.) und
vom 21.09.2004 (Bl. 311 ff d.A.) Bezug genommen.
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Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde unter Bezugnahme auf seine
Ausführungen in dem Verfahren 95 IN 98/02 AG Bonn nicht abgeholfen. Jenes
Verfahren betrifft einen anderen Schuldner, Ausführungen zur Zuständigkeit des
Amtsgerichts Bonn in Bezug auf die hiesige Schuldnerin enthält der dortige
Nichtabhilfebeschluss -gleichfalls vom 26.08.2004- nicht.
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Der Insolvenzverwalter hat sich zur sofortigen Beschwerde geäußert und ausgeführt, die
Schuldnerin könne mit der Rüge der örtlichen Unzuständigkeit des Amtsgerichts Bonn
nicht mehr gehört werden, sie habe Gelegenheit gehabt, sich zum Eröffnungsantrag zu
äußern und dabei auf ihre Praxis in M hinzuweisen. Dies habe sie erst nach dem das
Eröffnungsverfahren einleitenden Beschluss vom 30.10.2002 in einem Anhörungstermin
vom 05.03.2003 und damit verspätet getan.
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Auf ein Verfahrenshindernis nach § 268 AO könne die Schuldnerin sich schon deshalb
nicht berufen, weil sie dies schon in einem vorangegangenen Beschwerdeverfahren
betreffend den Beschluss über die Sicherungsmaßnahmen erfolglos geltend gemacht
habe (Kammerbeschluss vom 22.04.2003 -6 T 66/03).
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Unter dem 30.08.2004 habe ihm das Finanzamt B die Aufteilungsbescheide übermittelt,
aus denen sich für die Jahre 1984-2001 eine Steuerzahllast der Schuldnerin von
197.222,- EUR ergebe. Nach seinen Feststellungen sei die Schuldnerin auch ohne die
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Forderungen der betreibenden Gläubigerin zahlungsunfähig. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird auf die Stellungnahme des Insolvenzverwalters vom 01.09.2004 (Bl.
276 ff d.A.) Bezug genommen.
Die betreibende Gläubigerin beantragt Zurückweisung der sofortigen Beschwerde und
stellt hilfsweise den Antrag auf Verweisung an das für M zuständige Amtsgericht. Sie
meint, die Schuldnerin sei gemäß § 513 ZPO analog mit der Unzuständigkeitsrüge
ausgeschlossen. Die Praxisaufnahme in M vor dem 24.09.2002 bestreitet sie mit
Nichtwissen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 09.09.2004
(Bl. 304 d.A.) Bezug genommen.
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II.
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Die Kammer hat durch Einsicht in die Akten 95 IN 96/02 AG Bonn festgestellt, dass der
Schuldnerin mit Beschluss des Zulassungsausschusses für Ärzte im Regierungsbezirk
D vom 19.12.2001 (Bl. 95-97 d. BA) die Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit mit
Wirkung vom 01.01.2002 als Ärztin in M erteilt worden ist, verbunden mit der Auflage,
diese Tätigkeit bis zum 01.06.2002 aufzunehmen.
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Auf das Auskunftsersuchen vom 02.09.2004 hat die Kassenärztliche Vereinigung D
unter dem 10.09.2004 (Bl. 302 d.A.) mitgeteilt, dass die Schuldnerin nach der von ihr
abgegebenen Erklärung die vertragsärztliche Tätigkeit am 03.01 2002 aufgenommen
hat.
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Die Schuldnerin hat vorgelegt eine per 10.07.2002 von der Kassenärztlichen
Vereinigung D erstellte "Zusammenstellung der verschiedenen Honorarabrechnungen"
nebst Rechtsmittelbelehrung des zugehörigen Honorarbescheides vom 16.07.2002.
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III.
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Die nach § 34 Abs. 2 InsO an sich statthafte und auch sonst zulässige sofortige
Beschwerde ist jedenfalls insoweit begründet, als die Schuldnerin die örtliche
Unzuständigkeit des Amtsgerichts Bonn rügt und dementsprechend Aufhebung des
Eröffnungsbescheides begehrt. Auf den Hilfsantrag der betreibenden Gläubigerin war
das Verfahren an das für M zuständige Insolvenzgericht und damit an das Amtsgericht O
zu verweisen. Alle anderen Entscheidungen, auch über die Kosten des
Beschwerdeverfahrens, waren dem örtlich zuständigen Amtsgericht O vorzubehalten.
Dieses hat darüber zu befinden, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt, ein
Eröffnungsgrund besteht und die vorläufigen Maßnahmen aufrechtzuerhalten sind, so
dass die für die Kostenentscheidung maßgebliche Frage, in welchem Umfang die
sofortige Beschwerde letztlich Erfolg hat, noch offen ist, weshalb auch die
Kostenentscheidung dem Amtsgericht O vorzubehalten ist.
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Das Amtsgericht Bonn ist örtlich unzuständig. Ausschließlich örtlich zuständig ist das für
M als Insolvenzgericht zuständige Amtsgericht O, weil die Schuldnerin dort schon seit
Januar 2002 ihre Arztpraxis betreibt und damit den Mittelpunkt ihrer selbständigen
wirtschaftlichen Tätigkeit hat (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO).
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Mit der Rüge der örtlichen Unzuständigkeit ist die Schuldnerin nicht gemäß § 513 ZPO
analog ausgeschlossen, weil sie zur Frage der örtlichen Zuständigkeit nicht hinreichend
gehört worden ist; die Anhörung zum Eröffnungsantrag als solche genügt insoweit nicht.
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Die örtliche Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 InsO ist eine ausschließliche und schon
deshalb von Amts wegen zu prüfen. Das Amtsgericht hatte auch konkrete Veranlassung
dazu, weil schon in den dem Eröffnungsantrag beigefügten Unterlagen sich Hinweise
darauf finden, dass die Schuldnerin als Ärztin tätig ist und die Praxis in M betreibt. Das
hätte das Amtsgericht zum Anlass nehmen müssen, Bedenken an seiner eigenen
örtlichen Zuständigkeit zu haben, dieserhalb bei der Schuldnerin nachzufragen und
eigene Ermittlungen anzustellen. Den Akten ist indessen nicht zu entnehmen, dass
derartiges geschehen wäre. Noch im Eröffnungs- und im Nichtabhilfebeschluss ist die
alte Praxisanschrift angegeben, woraus sich ergibt, dass das Amtsgericht die Frage
seiner örtlichen Zuständigkeit jedenfalls nicht erkennbar geprüft haben kann. Von der
Schuldnerin kann indessen nicht erwartet werden, dass sie § 3 Abs. 1 InsO kennt und
von sich aus entsprechend vorträgt.
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Nach Aktenlage des vorliegenden Verfahrens war zudem im Anhörungstermin vom 05.
März 2003 vorgetragen, dass die Schuldnerin eine Praxis in M betreibt. Als Datum war
diesbezüglich bereits in dem Verfahren 6 T 65/03 LG Bonn = 95 IN 96/02 AG Bonn der
01.01.2002 vorgetragen. Aus den in jenem Verfahren vorgelegten Unterlagen -
Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit und Bestätigung der Vereinbarungen
betreffend die Auflösung der Gemeinschaftspraxis- ergibt sich, dass als Datum für den
Beginn der Tätigkeit in M der 01.01.2002 vorgesehen war.
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Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Bonn ergibt sich nicht aus § 3 Abs. 1 Satz 1
InsO. Allerdings hat die Schuldnerin ihren allgemeinen Gerichtsstand in L und damit im
Bezirk des Amtsgerichts -Insolvenzgericht- Bonn, das auch für L zuständig ist.
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Gleichwohl ist das Amtsgericht Bonn nicht örtlich zuständig, weil die Schuldnerin den
Mittelpunkt ihrer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO) in M
hat -und schon vor dem Eröffnungsantrag hatte- und damit im Bezirk des Amtsgerichts -
Insolvenzgericht- O, das auch für den Bezirk des Amtsgerichts P zuständig ist, in dessen
Bezirk M liegt. Dies haben die von der Kammer angestellten Ermittlungen ergeben. Die
Schuldnerin ist seit Januar 2002 als Ärztin zur vertragsärztlichen Tätigkeit in M
zugelassen. Die Aufnahme ihrer Tätigkeit dort hat sie der zuständigen Kassenärztlichen
Vereinigung zum 03.01.2002 gemeldet. Anhaltspunkte dafür, dass diese Meldung
unzutreffend sein könnte, liegen nicht vor. Die Schuldnerin konnte nicht wissen, dass
diese Frage einmal für ein im September 2002 beantragtes Insolvenzverfahren
bedeutsam werden könnte, so dass Gründe für eine falsche Meldung nicht ersichtlich
sind. Zudem hat sie im Juli 2002 einen Honorarbescheid über in M erwirtschaftete
ärztliche Honorare erhalten, woraus sich auch ergibt, dass sie ihre ärztliche Tätigkeit
jedenfalls vor dem Eröffnungsantrag dort tatsächlich aufgenommen hat.
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Die beiden ausschließlichen Gerichtsstände des § 3 Abs. 1 InsO stehen in einem
Rangverhältnis zueinander. Betreibt der Schuldner eine selbständige wirtschaftliche
Tätigkeit, richtet sich die ausschließliche Zuständigkeit nach dem Mittelpunkt dieser
Tätigkeit (Satz 2 der Vorschrift). Für Schuldner, bei denen diese Voraussetzung nicht
vorliegt, richtet sich die ausschließliche Zuständigkeit nach ihrem allgemeinen
Gerichtsstand (Satz 1 der Vorschrift). Damit geht der ausschließliche Gerichtsstand des
Mittelpunktes der wirtschaftlichen Tätigkeit vor.
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Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Bonn ergibt sich auch nicht aus § 3 Abs. 2
InsO. Bonn ist zwar das zuerst angegangene Gericht, es ist aber wegen § 3 Abs. 1 Satz
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2 InsO nicht zuständig -und nie zuständig gewesen- und kann deshalb das wirklich
zuständige Gericht nicht ausschließen. Die Anwendung des § 3 Abs. 2 InsO beschränkt
sich auf die Fälle, in denen mehrere Gerichte gleichrangig zuständig sind, der
Schuldner etwa mehrere Wohnsitze gleichrangig unterhält oder an mehreren Orten
gleichgewichtig eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit betreibt.
Für die hier zu treffende Entscheidung kann dahinstehen, ob ein
Vollstreckungshindernis vorliegt oder ein Eröffnungsgrund besteht. Darüber hat das
zuständige Gericht zu befinden; die Verweisung ist davon nicht abhängig. Gleiches gilt
für die Frage, ob die Sicherungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten oder aufzuheben sind.
Die Kammer hat bei Unzuständigkeit des Amtsgerichts nur die unmittelbar notwendigen
Maßnahmen zu treffen, nämlich die Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses sowie die
Verweisung und alles Übrige dem zuständigen Gericht zu überlassen, weshalb auch
über die Kosten des Beschwerdeverfahrens durch das Amtsgericht O zu entscheiden ist.
Wäre ein Verweisungsantrag gläubigerseits nicht zumindest hilfsweise gestellt worden,
wäre eine andere Verfahrenslage gegeben gewesen.
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