Urteil des LG Aachen vom 21.09.2010

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Landgericht Aachen, 7 S 56/10
Datum:
21.09.2010
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
7. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 S 56/10
Vorinstanz:
Amtsgericht Eschweiler, 21 C 518/09
Tenor:
Der Berufung des Beklagten gegen das am 23.03.2010 verkündete
Urteil des Amtsgerichts Eschweiler (21 C 518/09) wird auf seine Kosten
zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
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I.
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Wegen der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die
Feststellungen der angefochtenen Entscheidung verwiesen. Mit der Berufung verteidigt
sich der Beklagte weiter gegen die Inanspruchnahme auf Zahlung restlicher
Anwaltsvergütung mit dem Einwand, der Kläger habe ihn in einem Berufungsverfahren
nicht ordnungsgemäß beraten, so dass er seinen erstinstanzlichen
Klageabweisungsantrag weiter verfolgt.
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II.
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Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Zu Recht hat das Amtsgericht dem Kläger ein restliches Anwaltshonorar aus einem
Dienstvertrag gem. § 611 BGB in Höhe von 467,35 € nebst Zinsen zugesprochen.
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Die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren, die der Kläger zuzüglich einer
Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen sowie der gesetzlichen
Umsatzsteuer abzüglich bereits gezahlter 200,00 € mit der Klage noch geltend macht, ist
durch die von ihm eingelegte Berufung gegen das Urteil der 12. Zivilkammer des
Landgerichts Aachen entstanden.
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Der Kläger hat seine Ansprüche auch nicht gem. § 628 Abs. 1 S. 2 BGB dadurch
verloren, dass er das Mandat nach Prüfung der Erfolgsaussichten der Berufung
niederlegte. Auch steht dem Beklagten kein aufrechenbarer Schadensersatzanspruch
wegen einer fehlerhaften anwaltlichen Beratung zu. Der Kläger hat nämlich die ihm
obliegenden Pflichten aus dem Anwaltsvertrag nicht verletzt.
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Nach dem in erster Instanz unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Klägers war er
vom Beklagten fünf Tage vor Ablauf der Frist zur Einlegung der Berufung beauftragt
worden, Berufung gegen ein Urteil des Landgerichts Aachen einzulegen und die
Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu prüfen. Diesem Vortrag ist der Beklagte in erster
Instanz nicht entgegengetreten. Sein Vortrag in zweiter Instanz, dass der Kläger seine
Pflichten aus dem Mandat nur "ordnungsgemäß erfüllen" konnte, wenn er die Berufung
nicht nur einlegte, sondern sie auch durchführte, ist aus zwei Gründen unbeachtlich. Es
wird schon nicht recht deutlich, ob mit dieser Formulierung tatsächlich zum Umfang des
Mandatsverhältnisses vorgetragen werden soll, oder ob der in erster Instanz unstreitig
gebliebene Vortrag zum Umfang des Mandats nur rechtlich anders gewertet werden soll.
Sollte es sich um neuen Tatsachenvortrag handeln, wäre diese in zweiter Instanz
verspätet, weil der Kläger bestritten hat, dass er unabhängig von einer Prüfung der
Erfolgsaussichten auch von vornherein beauftragt war, das Rechtsmittel auch zu
begründen und durchzuführen.
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Gemessen an diesem Auftragsumfang ist dem Kläger eine schuldhafte Verletzung
seiner Pflichten aus dem Dienstvertrag nicht vorzuwerfen. Die Kammer hegt zwar
durchaus Verständnis für die Ansicht des Beklagten, dass er sich vom Kläger schlecht
beraten fühlt, weil seine Berufung im Vorprozess – entgegen der vom Kläger seinerzeit
formulierten Einschätzung – Erfolg hatte. Ein schuldhafter Beratungsfehler eines
Rechtsanwalts ist aber nicht immer bereits dann gegeben, wen er die Erfolgsaussichten
eines Rechtsmittels anders einschätzt als das Rechtsmittelgericht. Die rechtliche
Bewertung von Lebenssachverhalten kann nur in seltenen Ausnahmefällen "richtig"
oder "falsch" sein. Die juristische Bewertung vollzieht sich zwar nach den Regeln der
Logik. Sie kennt aber anders als die Mathematik nicht allein ein richtiges oder ein
falsches Ergebnis. Die Rechtsanwendung ist vielmehr immer auch mit einer
menschlichen und damit subjektiven Wertung verbunden. Wer bei der Erfassung des
entscheidungserheblichen Sachverhalts einen vorgetragenen Punkt übersieht, mag
schuldhaft einen Fehler begehen. Bereits die Frage, wie substantiiert ein Aspekt
vorgetragen werden muss, beinhaltet aber bereits eine durchaus subjektive Bewertung.
Dies setzt sich häufig über die Würdigung von Beweisen und die Subsumtion unter die
einschlägigen Rechtsnormen fort. Da ein anderer Rechtsanwender durchaus zu einer
anderen Wertung und damit zu einem anderen Ergebnis gelangen kann, schuldet der
Anwalt, der seinen Mandanten über die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels beraten
soll, lediglich eine fundierte Auswertung und Beratung. Gelangt er nach der von ihm
durchgeführten Überprüfung des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis, dass er die
darin vertretene Rechtsanwendung für zutreffend hält, wird seine Tätigkeit nicht bereits
dadurch nachträglich fehlerhaft, wenn das Rechtsmittelgericht zu einer anderen
Einschätzung gelangt. Die Abänderung eines erstinstanzlichen Urteils durch das
Rechtsmittelgericht besagt nicht, dass das erstinstanzliche Urteil – in der Sprache der
Mathematik – falsch war. Es besagt lediglich, dass das im Instanzenzug übergeordnete
Gericht die Sache rechtlich anders bewertet hat. Die Rechtsauffassung des im
Instanzenzug höher angesiedelten Gerichts setzt sich auch nicht etwa deshalb durch,
weil seine Entscheidung "richtig" und diejenige des im Instanzenzug vorausgehenden
Gerichts "falsch" ist. Gerade weil die Rechtsanwendung in weiten Teilen eine
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menschliche und damit subjektive Wertung bedeutet, muss aus Gründen der
Rechtssicherheit festgelegt werden, wer zur letztverbindlichen Entscheidung der
aufgeworfenen Fragen berufen ist. Das ist in einem Rechtsstaat das Gericht und – wenn
ein Instanzenzug eröffnet ist – das letztinstanzliche Gericht.
Ausgehend von diesen Erwägungen muss der Anwalt, der seinen Mandanten über die
Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels berät, den Sachverhalt sorgfältig auswerten und
die Angelegenheit unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung und des
Schrifttums rechtlich prüfen. In Zweifelsfragen muss er über die Risiken eines Prozesses
informieren. Er ist aber nicht verpflichtet, das "richtige" Ergebnis vorherzusagen, weil er
dazu gar nicht in der Lage ist. Das würde erfordern, dass er über die Entscheidung des
Rechtsmittelgerichts eine sichere Vorhersage abgeben könnte. Das ist jedoch nicht
möglich, da vor einer Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht ein Akt menschlicher
Wertung erfolgt, dessen Ausgang mehr oder weniger sicher prognostiziert, jedoch nicht
sicher vorhergesagt werden kann. Die Beratung durch den Anwalt muss daher rechtlich
vertretbar sein. Ist sein Rat vertretbar, gereicht es ihm nicht zum Nachteil, wenn sich
seine Auffassung im gerichtlichen Verfahren nicht durchsetzt.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Kläger eine schuldhafte Pflichtverletzung
nicht anzulasten. Das Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Aachen, gegen das
der Kläger im Auftrag des Beklagten Berufung eingelegt hatte, war nämlich aus Sicht
der Kammer jedenfalls vertretbar. Die dortige Einzelrichterin hatte nach einer
Beweisaufnahme dem Beklagten das Handeln eines Dritten nach den Grundsätzen der
Duldungsvollmacht zugerechnet. Dies erscheint auch aus Sicht der Kammer zumindest
vertretbar. Gerade die Frage, welches Verhalten der für ihn auf der Baustelle tätigen
Personen sich ein Bauherrn nach den Grundsätzen der Duldungs- oder
Anscheinsvollmacht zurechnen lassen muss, verlangt vielfältige Wertungen in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, was die Prognose über die Erfolgsaussichten
eines Rechtsmittels erschwert. Da die Einzelrichterin der 12. Zivilkammer ihre
Entscheidung nach einer Beweisaufnahme ausführlich und zumindest vertretbar
begründete, war auch die Einschätzung des Klägers, ein Rechtsmittel gegen dieses
Urteil biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, zumindest vertretbar.
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Da der Kläger nach dem Umfang des Mandates nicht verpflichtet war, gegen seine
eigene Überzeugung das Rechtsmittel zu begründen, durfte er das Mandat vor Ablauf
der Berufungsbegründungsfrist niederlegen, so dass es auf die Frage, ob seine
bisherigen Leistungen für den Beklagten noch von Interesse waren, nicht ankommt. Da
der Kläger aus den genannten Gründen nicht schuldhaft seine Pflichten aus dem
zwischen den Parteien geschlossenen Dienstvertrag verletzt hat, steht dem Beklagten
auch kein aufrechenbarer Schadensersatzanspruch in Höhe der an seine späteren
Prozessbevollmächtigten gezahlten Verfahrensgebühr zu.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, da es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt
und eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Wahrung einer einheitlichen
Rechtsprechung oder zur Fortbildung des Rechts nicht erforderlich ist. Eine
Entscheidung des Revisionsgerichts ist nicht allein deshalb erforderlich, weil eine
ausdrückliche Entscheidung des Bundesgerichtshofes – nach dem Vortrag des
Prozessbevollmächtigten der Beklagten – bislang nicht ergangen ist. Es entspricht aber
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gleichwohl gefestigter Rechtsprechung, dass der anwaltliche Rat rechtlich "vertretbar"
sein muss, weil er nicht "richtig" oder "falsch" sein kann. Ebenso entspricht es
gefestigter Rechtsprechung, dass ein Anwalt seine Vergütung nicht allein deshalb
verliert, weil sich die von ihm vertretene Auffassung im gerichtlichen Verfahren nicht
durchsetzt.
Wert der Berufung:
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D Vorsitzender Richter am Landgericht Dr. T Richterin Dr. G Richter am Landgericht
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