Urteil des LG Aachen vom 08.01.2010

LG Aachen (fahrzeug, berlin, höhe, widerklage, zpo, verkehr, fahrspur, ergebnis, lebenserfahrung, unfall)

Landgericht Aachen, 6 S 168/09
Datum:
08.01.2010
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 S 168/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Aachen, 117 C 133/09
Schlagworte:
Auffahrungfall, Spurwechsel, Anscheinsbeweis
Normen:
StVG § 7 Abs. 1; StVG § 17; StVO § 4 Abs. 1; StVO § 7 Abs. 5
Leitsätze:
Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem unmittelbar vor
einem Auffahrungfall durchgeführten Spurwechsels.
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts B vom
01. Oktober 2009 - 117 C 133/09 - unter Zurückweisung der Berufung im
Übrigen hinsichtlich der Kostenentscheidung teilweise abgeändert und
wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin
1.020,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05. November 2008 und
vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 155,30 € zu zahlen.
Auf die Widerklage werden die Widerbeklagten als Gesamtschuldner
verurteilt, an den Widerkläger 823,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.
Dezember 2008 und zur Freistellung des Widerklägers vorgerichtliche
Anwaltskosten in Höhe von 120,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. April
2009 an seine vorgenannten Prozessbevollmächtigten zu zahlen.
Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.
Die Gerichtskosten tragen die Klägerin zu 28%, die Widerbeklagten als
Gesamtschuldner zu 22%, die Beklagten als Gesamtschuldner zu 28%
und der Widerkläger zu 22%. Die außergerichtlichen Kosten werden
gegeneinander aufgehoben.
Die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten der Beklagten
und des Widerklägers tragen die Klägerin zu 55% und die
Widerbeklagten zu 45%. Im Übrigen tragen die Parteien ihre
außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens selbst.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die jeweils
gegen sie gerichtete Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 110% des jeweils gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht die jeweils andere Partei vor ihrer Vollstreckung Sicherheit in
Höhe von 110% des jeweils von ihr zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e
1
I.
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Die Parteien machen wechselseitig Ansprüche aus einem Verkehrsunfall vom
05. November 2008 auf der Abfahrt der BAB # in Richtung M an der L- Straße geltend.
Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem Fahrzeug, Opel Astra, des Widerklägers, das bei der
Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, die BAB # und wechselte an der Ausfahrt M auf
den Verzögerungsstreifen, um dort abzufahren. Der Widerbeklagte zu 1) befand sich mit
dem Fahrzeug der Klägerin, einem VW-Bus, der bei der Widerbeklagten zu 2)
haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem Beklagten zu 1), überholte diesen jedoch im
weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist.
In der langgezogenen Ausfahrt bremste der Widerbeklagte zu 1) sein Fahrzeug dann
plötzlich bis zum Stillstand ab, woraufhin der Beklagte zu 1) nicht mehr rechtzeitig zu
reagieren vermochte und auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Hierdurch wurde das
Fahrzeug der Klägerin hinten rechts, das des Widerklägers vorne links beschädigt.
3
Der Klägerin entstand aufgrund des Unfalls folgender Schaden:
4
Fahrzeugschaden netto:
1.577,02 €
Kosten SV-GA:
438,63 €
Kostenpauschale:
25,00 €
Gesamt:
2.040,65 €
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Am Fahrzeug des Widerklägers entstand folgender Schaden:
6
Fahrzeugschaden netto:
1.281,86 €
Kosten SV-GA:
340,05 €
Kostenpauschale:
26,00 €
Gesamt:
1.647,91 €
7
Die Klägerin und die Widerbeklagten behaupten, der Widerbeklagte zu 1) habe den
Beklagten zu 1) bereits 300 Meter vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe
hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Vielmehr habe
der Widerbeklagte zu 1) aufgrund einer Vollbremsung des vor ihm fahrenden Fahrzeugs
auch abrupt abbremsen müssen. Der Beklagte zu 1) sei dabei zu dicht aufgefahren.
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Mit ihrer Klage hat die Klägerin erstinstanzlich beantragt, die Beklagten zur Zahlung von
2.040,65 € nebst Zinsen sowie vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 272,86 € zu
verurteilen. Mit seiner Widerklage hat der Widerkläger beantragt, die Widerbeklagten zur
Zahlung von 1.647,91 € nebst Zinsen sowie von 229,55 € an vorgerichtlichen
Anwaltskosten nebst Zinsen zu verurteilen.
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Die Beklagten und der Widerkläger behaupten, der Widerbeklagte zu 1) sei bereits auf
der BAB # durch dichtes Auffahren aufgefallen. In der Ausfahrt sei er dann plötzlich auf
die Linksabbiegerspur ausgeschert, um dann kurz vor der sich am Ende zwischen der
Links- und der Rechtsabbiegerspur befindlichen Verkehrsinsel unvermittelt wieder auf
die rechte Spur vor den Beklagten zu 1) zu wechseln. Der Widerbeklagte zu 1) habe
sein Fahrzeug dann unmittelbar zum Stillstand abgebremst, so dass der Beklagte zu 1)
ein Auffahren nicht habe vermeiden können.
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Das Amtsgericht hat nach Vernehmung der den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten
als Zeugen und nach persönlicher Anhörung der Unfallbeteiligten zum Unfallhergang
Klage und Widerklage jeweils hälftig abgewiesen. Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme liege ein non-liquet vor. Gegen die Beklagten spreche auch nicht der
Beweis des ersten Anscheins, da der Beklagte zu 1) nicht schon eine geraume Zeit
hinter dem Widerbeklagten zu 1) hergefahren sei.
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Die Klägerin und die Widerbeklagten wenden mit ihrer Berufung ein, das Amtsgericht
habe die erhobenen Beweise unzutreffend gewürdigt. Zudem habe es rechtsfehlerhaft
einen Anscheinsbeweis verneint.
12
Sie beantragen nunmehr,
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die Beklagten unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils als
Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie weitere 1.020,32 € nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05. November 2008
sowie weiterhin 117,56 € vorgerichtliche anwaltliche Kosten zu zahlen und die
Widerklage abzuweisen.
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Die Beklagten und der Widerkläger beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Urteil des
Amtsgerichts B vom 01. Oktober 2009 sowie auf die von den Parteien zur Gerichtsakte
gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
17
II.
18
Die zulässige Berufung hat lediglich hinsichtlich des Kostenausspruchs teilweise Erfolg.
19
1.
20
Zu Recht hat das Amtsgericht der Klage sowie der Widerklage jeweils zur Hälfte
stattgegeben.
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Den Parteien stehen nämlich lediglich in dieser Höhe wechselseitig Ansprüche aus §§
7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 2, 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 115 VVG zu. Die Klägerin
vermochte nicht nachzuweisen, dass dem Beklagten zu 1) eine höhere
Unfallverursachung anzulasten ist. Vielmehr handelt es sich um einen ungeklärten
Unfallhergang, bei dem keine Partei für sich die Unabwendbarkeit und keine Partei eine
höhere Unfallverursachung der jeweils anderen Partei nachweisen konnte. Gegen den
Beklagten zu 1) spricht insbesondere auch nicht der Beweis des ersten Anscheins. Es
ist allgemein anerkannt, dass derjenige, der mit seinem Kfz auf ein vorausfahrendes
oder vor ihm stehendes Kfz auffährt, den Anscheinsbeweis gegen sich hat, dass er
entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten hat oder mit unangepasster
Geschwindigkeit gefahren ist oder falsch reagiert hat. Ein typischer Auffahrunfall wird
regelmäßig dadurch verursacht, dass ein nachfolgendes Fahrzeug auf die gesamte
Heckpartie eines im gleichen Fahrstreifen vorausfahrenden oder haltenden Fahrzeuges
auffährt, wobei Entsprechendes auch bei bloßer Teilüberdeckung der Stoßflächen der
im gleichgerichteten Verkehr befindlichen Fahrzeuge gilt, weil sich
hintereinanderfahrende Fahrzeuge auf der überschießenden Breite eines Fahrstreifens
unterschiedlich einrichten (vgl. KGR Berlin 2001, 93). Grundvoraussetzung für den
Beweis eines Verschuldens nach Anscheinsregeln ist die Darlegung und der Beweis
eines typischen, nach der Lebenserfahrung den Rückschluss auf ein Verschulden
zulassenden Geschehensablaufs durch denjenigen, der sich auf den Anscheinsbeweis
beruft. Die für die Annahme eines Auffahrverschuldens nach Anscheinsgrundsätzen
erforderliche Typizität setzt eine Kollision im gleichgerichteten Verkehr voraus. Der
Anscheinsbeweis greift indes mangels typischen Unfallhergangs nicht, wenn der
gleichgerichtete Verkehr gerade erst hergestellt worden ist, denn für die Bejahung einer
typischen Auffahrsituation ist es unverzichtbar, dass der Auffahrende auch die
ausreichende Möglichkeit hatte, zum Vordermann einen hinreichenden
Sicherheitsabstand aufzubauen und einzuhalten. Die Anwendung des
Anscheinsbeweises bei Verkehrsunfällen setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen
sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung zunächst der Schluss aufdrängt, dass ein
Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt
verletzt hat. Es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung
eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Allein das Kerngeschehen eines
"Heckanstoßes" als solches reicht dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht
aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als
Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen
(vgl. OLG Jena NZV 2006, 147; OLG Saarbrücken MDR 2006, 329; OLG Schleswig
NZV 1993, 152; OLG Hamm NZV 1992, 320; OLG Köln VersR 1978, 143; KG Berlin
DAR 2006, 322; OLG Düsseldorf SP 2003, 335). Denn es muss das gesamte
feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass
derjenige Verkehrsteilnehmer, der aufgefahren ist, schuldhaft gehandelt hat. Ob der
Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann also stets nur
aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des
Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und
den getroffenen Feststellungen ergeben (BGH VersR 1986, 343). Scheitert die
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Anwendung des Anscheinsbeweises bereits an der Typizitätsgrundlage, kommt es auf
die Frage nach seiner Erschütterung nicht mehr an (vgl. OLG Hamm NJW-RR 2004,
172).
Im Falle eines unstreitig oder erwiesenermaßen unmittelbar zuvor erfolgten
Spurwechsels des Vordermannes spricht der Beweis des ersten Anscheins daher nicht
gegen den Auffahrenden, sondern vielmehr dafür, dass der vorausfahrende
Verkehrsteilnehmer unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO die Fahrspur gewechselt hat
(vgl. OLG Frankfurt Zfs 2006, 259; KGR Berlin 1997, 223). Umstritten ist indes, ob ein
(behaupteter) vorheriger Spurwechsel des Vordermanns, ein Einbiegen oder Abbiegen
schon die Typizität in Frage stellen oder erst auf der nachfolgenden Stufe der
Erschütterung zu prüfen sind.
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Einer Auffassung nach muss der Auffahrende darlegen und ggf. beweisen, dass der
Spurwechsel in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem
Auffahrunfall stand, damit gegen ihn nicht der prima-facie-Beweis einschlägig ist. Von
einem atypischen Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Licht erscheinen
lässt, wäre bei einem Fahrspurwechsel auszugehen, wenn das vorausfahrende
Fahrzeug unmittelbar vor dem Auffahrunfall die Fahrspur gewechselt hätte. Mit der
bloßen Behauptung, der Unfallgegner habe dicht vor ihm plötzlich die Fahrspur
gewechselt, kann sich der Hintermann dagegen nicht entlasten. Die rein theoretische
Möglichkeit eines solchen Geschehens genügt nicht. Andernfalls müsste nämlich der
Vordermann auch bei typischen Auffahrunfällen auf Autobahnen den in der Praxis kaum
möglichen Nachweis führen, dass der Auffahrende schon "eine gewisse Zeit" auf
derselben Fahrspur hinter ihm hergefahren ist. Auf Autobahnen sind Überholmanöver
gewollt und die Regel. Bei starkem Verkehrsaufkommen benutzen Fahrzeuge nicht
selten längere Zeit die Überholspur, etwa um langsamere, im Kolonnenverkehr rechts
fahrende Fahrzeuge "in einem Zug" zu überholen. Der Überholende wird sein
Augenmerk regelmäßig primär auf die vor ihm befindlichen Fahrzeuge richten und nicht
permanent den rückwärtigen Verkehr beachten, um Feststellungen zu treffen, wie lange
sich ein bestimmtes Fahrzeug bereits hinter ihm befindet. Der Nachweis, dass ein
Fahrzeug "eine gewisse Zeit" hinter dem Vordermann hergefahren ist, wird bei
lebensnaher Betrachtung daher kaum je gelingen. Im Übrigen muss jeder, der sich auf
der Autobahn auf der Überholspur befindet, irgendwann einmal von der rechten
Fahrspur auf diese gewechselt sein. Damit wäre der gegen den Auffahrenden
sprechende Anscheinsbeweis auf Überholspuren von Autobahnen praktisch
ausgehebelt und dem Vordermann würde im Ergebnis der Vollbeweis einer
Verkehrspflichtverletzung abverlangt. Danach erscheint es sachgerecht, davon
auszugehen, dass auf Autobahnen ein stattgefundener Wechsel auf eine andere Spur
den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis so lange nicht entkräftet,
wie nicht die ernsthafte Möglichkeit eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen
dem Fahrspurwechsel und dem Anstoß und damit eines atypischen Auffahrunfalls
belegt ist (vgl. OLGR Saarbrücken 2009, 636; KGR Berlin 2009, 416; OLG Zweibrücken
Schaden-Praxis 2009, 175;
atypisches Geschehen können eine Unfallanalyse und eine Auswertung der
Schadensbilder liefern. Wenn hiernach feststeht, dass sich der Vordermann in
Schrägfahrt befunden hat oder wenn eine "Eckkollision" vorliegt, kann der
Anscheinsbeweis als widerlegt oder zumindest als erschüttert angesehen werden (vgl.
OLGR Saarbrücken 2009, 636; KGR Berlin 2009, 416;
Saarbrücken MDR 2006, 329; OLG Köln RuS 2005, 127).
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Einer anderen Ansicht zufolge greift der Anscheinsbeweis bereits dann nicht oder ist
zumindest erschüttert, wenn die Möglichkeit eines atypischen Verlaufs besteht, also
Tatsachen vorliegen, die einen abweichenden Geschehensablauf nicht nur theoretisch
denkbar, sondern mit einer empirisch nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit
für möglich erscheinen lassen. Es bedarf somit für den konkreten Einzelfall der
Feststellung des den Anscheinsbeweis rechtfertigenden typischen Geschehensablaufs.
Dabei sind alle bekannten Umstände eines Falles in die Bewertung einzubeziehen. Der
behauptete Vorgang muss zu jenen gehören, die schon auf den ersten Blick nach einem
durch Regelmäßigkeit, Üblichkeit und Häufigkeit geprägten Muster abzulaufen pflegen.
Der feststehende Auffahrvorgang kann zwar zum Sachverhaltskern eines typischen
Gesamtgeschehens gehören, erlaubt aber noch nicht zwingend den Schluss auf einen
typischen Geschehensablauf. Besteht nämlich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen
als des typischen Geschehensablaufs, dann führt die Gesamtschau zur Verneinung des
Anscheinsbeweises (OLG Köln NZV 2007, 141; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809;
OLG Hamm MDR 1998, 712; KG Berlin MDR 1997, 1123). Bei einem
Fahrstreifenwechsel haftet der Vorausfahrende daher für die Unfallschäden mit oder gar
allein, wenn er nicht vortragen und notfalls beweisen kann, dass er so lange im gleich
gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass der Hintermann zum Aufbau
des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage war (vgl. OLG München Urteil v.
04.09.2009, 10 U 3291/09, OLG Naumburg SP 2008, 351; OLG Düsseldorf SVR 2005,
27; KG Berlin NZV 2008, 198; KG Berlin DAR 2006, 322; KG Berlin VersR 2005, 1746;
OLG Celle, VersR 1982, 960).
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Der letztgenannten Ansicht ist nach Auffassung der Kammer der Vorzug zu geben.
Zumindest dann, wenn der Auffahrende nachvollziehbar und widerspruchsfrei darlegt,
dass der Vorausfahrende unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt hat und
hierdurch den Unfall verursacht hat, ist nicht mehr von einem typischen
Geschehensablauf auszugehen. Dieser ist nur dann gegeben, wenn der Geschädigte
bereits eine gewisse Zeit vor dem Auffahrenden gefahren ist, da Letzterer nur dann den
erforderlichen Sicherheitsabstand herzustellen in der Lage ist. Andernfalls stünde
derjenige, der grob verkehrsrechtswidrig die Fahrspur wechselt, prozessual besser da,
als der Auffahrende, der stets den Spurwechsel des Vorausfahrenden beweisen müsste.
Gelingt dem Auffahrenden dieser Beweis nicht, hätte er stets allein für die Unfallfolgen
aufzukommen. Verneint man hingegen in solchen Fällen das Vorliegen eines
Anscheinsbeweises, so hat der Vorausfahrende nachzuweisen, dass sein Spurwechsel
nicht unfallursächlich geworden ist. Dieser Beweis mag ggf. schwer zu führen sein, dies
entspricht jedoch den grundsätzlich zu tragenden Prozessrisiken, die bei einem
Verkehrsunfall auch nicht zu dem unbilligen Ergebnis einer Alleinhaftung, sondern zu
einer Haftungsteilung führen. Allein dieses Ergebnis ist nach Auffassung der Kammer in
Fällen eines Auffahrunfalles, in denen ein Verstoß des Vorausfahrenden gegen § 7 Abs.
5 StVO in Rede steht, billig und angemessen.
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Vorliegend ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der von den Beklagten
behauptete Spurwechsel ebenso wahrscheinlich wie der von der Klägerin behauptete
Unfallhergang. Während die Zeugen U und K zum Unfallhergang keine Angaben
machen konnten, haben der Widerbeklagte zu 1) und der Beklagte zu 1) im Rahmen
ihrer persönlichen Anhörung jeweils ihr Klagevorbringen bestätigt. Zutreffend hat das
Amtsgericht dabei ausgeführt, dass zwar der Vortrag des Beklagten zu 1) nicht gänzlich
mit seinen Angaben im Ermittlungsverfahren übereinstimmt, andererseits der Vortrag
des Widerbeklagten zu 1) teilweise nicht nachvollziehbar ist. Insoweit wird auf die nicht
zu beanstandende Beweiswürdigung der angefochtenen Entscheidung verwiesen. An
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diese Würdigung ist die Kammer gebunden. Die Regelung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO
hindert im vorliegenden Fall eine eigenständige Bewertung des Beweisergebnisses
durch die Kammer. Denn nach dieser Regelung hat das Berufungsgericht grundsätzlich
die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen der eigenen Entscheidung
zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und
Vollständigkeit der Feststellung der Tatsachen begründen. Konkrete Anhaltspunkte für
fehler- oder lückenhafte Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichtes bestehen, wenn
die Tatsachenfeststellung verfahrensfehlerhaft gewonnen wurde, die Beweiswürdigung
gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt, gerichts- oder allgemein
bekannte Tatsachen bei der Beweiswürdigung keine Berücksichtigung erfahren oder
materiell-rechtliche Fehler Auswirkungen auf die Tatsachenfeststellung haben, wie
beispielsweise die Verkennung der Beweislast (OLG Saarbrücken NJW-RR 2003, 139;
Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 529 Rn. 2.). Diese Regelung hat dabei
nicht die Zulässigkeit neuer Beweismittel oder neuen Tatsachenvortrages zum
Gegenstand, sondern zielt auf eine Stärkung des erstinstanzlichen
Erkenntnisprozesses, indem die Feststellung der Tatsachen nur unter bestimmten
Voraussetzungen von dem Berufungsgericht überprüft und selbst neu vorgenommen
werden dürfen. Eine vom Beweisergebnis des Amtsgerichts abweichende Bewertung ist
danach nur möglich, wenn dessen Tatsachenfeststellung fehlerhaft gewesen ist, das
heißt entweder Beweisantritte übergangen oder die Beweiswürdigung selbst in dem
oben genannten Umfang fehlerhaft ist, so dass Zweifel an der Richtigkeit der
Feststellung begründet sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Soweit die Klägerin
einwendet, für den Vortrag des Widerbeklagten spreche, dass dieser die Polizei
verständigt habe, so ist dem entgegenzuhalten, dass es keinen Erfahrungssatz gibt,
dass derjenige, der den Unfall nicht verursacht hat, stets die Polizei hinzuziehen
möchte. Hingegen ist es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend, dass es auf
Autobahnen und auch auf mehrspurigen Abfahrten zu gefährlichen Spurwechseln
kommt, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden oder des vorausfahrenden
Fahrzeuges unterschätzt wird.
2.
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Auf die Berufung der Klägerin war lediglich die Kostenentscheidung nach §§ 92 Abs. 1,
100 Abs. 2, 4 ZPO abzuändern. Die von Seiten des Amtsgerichts vorgenommene
Kostenentscheidung berücksichtigt nämlich die unterschiedlichen Beteiligungen der
Parteien (Klage und Widerklage) nicht hinreichend. Die Kostenentscheidung beruht
nunmehr auf §§ 92 Abs. 1, 97, 100 Abs. 2, 4 ZPO.
29
3.
30
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711
ZPO.
31
4.
32
Die Revision war in Anbetracht der zur Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des
Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen von den benannten Oberlandesgerichten
vertretenen divergierenden Rechtsansichten gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen.
33
Streitwert:
34
1. Instanz: 3.688,56 €
35
2. Instanz: 1.844,29 €
36
Q
M
Dr. X
37