Urteil des LAG Hessen vom 30.12.2010

LAG Frankfurt: treu und glauben, gewerkschaft, verkürzung der arbeitszeit, teleologische auslegung, ordentliche kündigung, tarifvertrag, kündigungsfrist, kündigung zur unzeit, verwirkung

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Sa 1117/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 314 BGB, § 133 BGB, § 157
BGB, § 242 BGB, § 77 Abs 5
BetrVG
Kündigung eines Tarifvertrags
Leitsatz
1. Haben die Tarifvertragsparteien keine Befristung und auch kein Kündigungsrecht
vorgesehen, so ist der Tarifvertrag grundsätzlich entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG mit
einer dreimonatigen Kündigungsfrist kündbar.
2. Auf eine außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags findet § 314 BGB
Anwendung.
3. Ist zweifelhaft, ob die Tarifvertragsparteien ein außerordentliches oder ein
ordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben, so ist die entsprechende Regelung
auszulegen. Kommt die Auslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, so ist im
Zweifel nur von einem ordentlichen Kündigungsrecht auszugehen.
4. Die Ausübung eines tariflich vorgesehenen Kündigungsrechts unterliegt nach
allgemeinen Regeln der Verwirkung gemäß § 242 BGB. An die Erfüllung des so
genannten Umstandsmoments sind dabei strenge Anforderungen zu stellen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 12.
Mai 2010 – 4 Ca 121/09 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.847,37 Euro brutto nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. Dezember 2008
zu zahlen.
Die Beklagte wird ferner verurteilt, an die Klägerin 37,50 Euro brutto nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 18,75 Euro seit dem
01. Dezember 2008 und aus weiteren 18,75 Euro seit dem 01. Januar 2009 zu
zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Ansprüche der Klägerin auf Zahlung einer
Jahressonderzahlung und einer monatlichen Zulage auf der Grundlage des
Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD).
Die Beklagte ist die Rechtsnachfolgerin der A. Sie betreibt mehrere Kliniken in B.
Die A war bis zum Ende 2008 Mitglied des C.
Die am D geborene Klägerin ist seit dem 01. Oktober 1982 auf der Grundlage des
Arbeitsvertrags vom 27. Juli 1982 bei der Rechtsvorgängerin bzw. der Beklagten als
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Arbeitsvertrags vom 27. Juli 1982 bei der Rechtsvorgängerin bzw. der Beklagten als
Krankenschwester tätig. Nach § 2 des Arbeitsvertrags soll sich das
Arbeitsverhältnis nach den Vorschriften des Bundesangestelltentarifvertrags (BAT)
vom 23.02.1961 in der für den Bereich der E jeweils geltenden Fassung und den
diesen ergänzende oder ersetzende Tarifverträge richten. Hinsichtlich der weiteren
Einzelheiten des Arbeitsvertrags wird verwiesen auf Blatt 6 der Akte. Die Klägerin
arbeitete zuletzt 28,88 h wöchentlich und war in die Entgeltgruppe 9d Stufe 5 TVöD
eingruppiert. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft F.
Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten befasste sich der Landkreis G, der einzige
Gesellschafter der Rechtsvorgängerin der Beklagten, am 16. Februar 2004 sowie
am 22. März 2004 mit der Situation der Kliniken. Hinsichtlich der auszugsweise
vorgelegten Sitzungsniederschriften wird verwiesen auf Blatt 132 bis 135 der Akte.
Er beschloss ein Rahmensanierungskonzept zu der A, das u.a. die Finanzierung
eines Neubaus in H vorsah.
Teil der geplanten Sanierung war auch ein Beitrag seitens der Belegschaft. Am 21.
Juli 2004 schlossen der C, die A und die Gewerkschaft F die „Tarifliche
Vereinbarung Nr. 761, Bezirklicher Tarifvertrag über einen Beitrag der
Arbeitnehmer zur Sanierung der A“. Die Tarifliche Vereinbarung sah u.a. eine
Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, einen Verzicht auf
die Jahressonderzahlung 2006 sowie eine Kürzung der Jahressonderzahlung 2007
und 2008 vor. Im Gegenzug verzichtete die Beklagte auf den Ausspruch
betriebsbedingter Kündigungen. Das Sanierungskonzept sah des Weiteren den
Neubau eines Krankenhauses in I als Ersatz der Kliniken in J und K vor. Ferner heißt
es in der Tariflichen Vereinbarung auszugsweise:
„§ 4 Verkürzung der Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich
(1) Abweichend von § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. B TVöD in der jeweils geltenden
Fassung wird die durchschnittliche regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der
Pausen
im Jahr 2006 um wöchentlich ½ Stunde,
im Jahr 2007 um wöchentlich 1 Stunde,
im Jahr 2008 um wöchentlich 1 ½ Stunden
ohne Entgeltausgleich verkürzt. (…)
§ 5 Jahressonderzahlung, Sonderzahlung
(…)
(2) Für das Jahr 2006 werden die Jahressonderzahlung nach § 20 Abs. 3 Nr. 1
Buchst. A TVÜ-VKA sowie der Erhöhungsbetrag nach § 20 Abs. 3 Nr. 3 TVÜ-VKA
nicht gezahlt. (…)
(3) Für die Jahre 2007 und 2008 beträgt die Jahressonderzahlung nach § 20 TVöD
(…)
des tariflich maßgebenden Entgelts. (…)
§ 7 Ausschluss von betriebsbedingten Beendigungskündigungen
(1) Die A verzichtet für die Dauer der Laufzeit dieser Tariflichen Vereinbarung auf
betriebsbedingte Beendigungskündigungen. (…)
§ 12 In-Kraft-Treten, Laufzeit, Außer-Kraft-Treten
(1) Diese Tarifliche Vereinbarung tritt mit Wirkung vom 01. Juli 2004 in Kraft.
(2) Sie endet mit Ablauf des 31. Dezember 2008, ohne dass es einer Kündigung
bedarf.
(3) Wenn der Krankenhausneubau I nicht in das Krankenhaus-
investitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes B aufgenommen wird, kann diese
Tarifvertragliche Vereinbarung von jeder Partei mit einer Frist von einem Monat
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Tarifvertragliche Vereinbarung von jeder Partei mit einer Frist von einem Monat
gekündigt werden. Diese Tarifvertragliche Vereinbarung endet dann zu diesem
Zeitpunkt. Eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 4 TVG ist ausgeschlossen.
(4) Abgesehen von den in § 7 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 2, § 11 Abs. 2 Satz 2 und §
12 Abs. 3 dieser Tarifvertraglichen Vereinbarung geregelten
Sonderkündigungsrechten ist eine vorherige Kündigung ausgeschlossen.
(5) Eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG ist ausgeschlossen. (…)“
Wegen der weiteren Einzelheiten der Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 761 wird
verwiesen auf Blatt 19 bis 22 der Akte.
Am 30. September 2005 wurde die Tarifliche Vereinbarung Nr. 761 durch die
Tarifvertragliche Vereinbarung Nr. 797 vor dem Hintergrund des Inkrafttretens des
TVöD modifiziert. Bezüglich der Einzelheiten dieser Vereinbarung wird Bezug
genommen auf Blatt 48 bis 51 der Akte.
Am 20. März 2006 wurde im Rahmen einer Kreistagssitzung die Meinung geäußert,
man solle von dem geplanten Neubau bei I als Ersatz der Kliniken in J und K
absehen. Diese Stellungnahme und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
waren am 21. März 2006 Gegenstand einer Gesellschafterversammlung der A.
Unter Leitung des ersten Kreisbeigeordneten L wurde beschlossen, den
Krankenhausneubau I nicht zu errichten. In der sich anschließenden
Aufsichtsratssitzung am 21. Juni 2006, an der auch drei F-Mitglieder in ihrer
Funktion als Betriebsratsmitglieder des bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten
gebildeten Betriebsrats anwesend waren, wurde beschlossen, dem Kreistag die
Aufhebung der Beschlüsse hinsichtlich seines ursprünglichen
Rahmensanierungskonzepts vorzuschlagen sowie stattdessen getrennte Angebote
für eine Beteiligung an der A oder für die Kliniken M und N bzw. für eine
Übernahme des Klinikums K einzuholen.
Der Kreistag beschloss daraufhin am 03. Juli 2006, die dem alten
Sanierungskonzept mit einem Krankenhausneubau in I zugrunde liegenden
Beschlüsse aufzuheben. Hinsichtlich der auszugsweisen Niederschrift der Sitzung
des Kreistags wird verwiesen auf Blatt 136 der Akte.
Ende 2006 wurde das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des
Landes B, welches jährlich stets für fünf Jahre verabschiedet wird, veröffentlicht.
Darin war der Krankenhausneubau in I nicht vorgesehen.
Ab Juni 2008 wurden zwischen der Gewerkschaft F und der Beklagten
Verhandlungen über einen neuen Sanierungstarifvertrag geführt, ohne dass eine
Einigung erzielt werden konnte.
Im Juli 2008 gab die Bezirksgruppe von F ein Infoblatt heraus, in dem über die
aktuelle Entwicklung bei den A informiert wurde. Bezüglich der Einzelheiten des
Infoblattes wird verwiesen auf Blatt 37 der Akte.
Mit Schreiben vom 25. September 2008 kündigte die Gewerkschaft F die
Tarifvertragliche Vereinbarung Nr. 761 zum 31. Oktober 2008 unter Berufung auf
das Kündigungsrecht aus § 12 Abs. 3 dieses Tarifvertrags gegenüber dem C (Blatt
16 der Akte). Mit Schreiben vom Schreiben vom 30. September 2008 kündigte F
gegenüber der Beklagten (Blatt 18 der Akte).
Mit dem Entgelt für November 2008 zahlte die Beklagte an die Klägerin eine
anteilige Jahressonderzahlung in Höhe von 162,50 € aus. Dieser Betrag entsprach
allerdings nur einem Bruchteil der Sonderzahlung nach § 20 TVöD. Die Beklagte
wandte weiterhin die Regelung unter § 5 der Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr.
761 an.
Im April 2009 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten Ansprüche auf die
Jahressonderzahlung 2008 sowie auf die monatliche Zulage für die Monate
November und Dezember 2008 auf der Grundlage des TVöD geltend.
Mit ihrer am 22. Dezember 2009 bei Gericht eingereichter und am 30. Dezember
2009 zugestellter Klageschrift verfolgt die Klägerin die Zahlung ihrer angeblich
noch ausstehenden Vergütung gerichtlich weiter.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass sie Anspruch auf die volle
Jahressonderzahlung 2008 gemäß § 20 TVöD habe. Nachdem die Tarifvertragliche
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Jahressonderzahlung 2008 gemäß § 20 TVöD habe. Nachdem die Tarifvertragliche
Vereinbarung Nr. 761 gekündigt worden sei, könne sie als Jahressonderzahlung
2.009,87 € beanspruchen. Sie habe ferner einen Anspruch auf eine monatliche
Zulage in Höhe von jeweils 18,75 € für die Monate November und Dezember 2008
gemäß § 52 Abs. 3 TVöD. Sie hat ferner die Meinung vertreten, dass die
Tarifvertragliche Vereinbarung Nr. 761 wirksam gekündigt worden sei. Die
Gewerkschaft F habe sich zu Recht auf den unter § 12 Abs. 3 dieser Vereinbarung
vorgesehenen Kündigungsgrund stützen dürfen. Es schade nicht, dass von dem
Kündigungsrecht nicht zeitnah Gebrauch gemacht worden sei. Der
Kündigungsgrund liege vor, auf die hinter der Kündigung stehende Motivation
komme es nicht an. Das Kündigungsrecht sei weder verwirkt noch sei ein Fall
unzulässiger Rechtsausübung anzunehmen.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.847,37 € brutto zzgl. 5 Prozentpunkte
Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit 01. Dezember
2008 zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, an sie 37,50 € brutto zzgl. 5 Prozentpunkte Zinsen
über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank aus 18,75 € seit dem 01.
Dezember 2008 und aus 18,75 € seit dem 01. Januar 2009 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Ansicht vertreten, dass die Kündigung der Tarifvertraglichen
Vereinbarung Nr. 761 durch die Gewerkschaft F unwirksam sei. Sie hat gemeint,
dass es sich bei dem in § 12 Abs. 3 dieser Vereinbarung enthaltenen
Kündigungsrecht um eine außerordentliche Kündigungsmöglichkeit handele. Die
Kündigung hätte daher gemäß § 314 Abs. 3 BGB nur zeitnah innerhalb einer
angemessenen Frist ausgeübt werden können. Daran mangele es, weil die
Gewerkschaft F jedenfalls seit Sommer 2006 darüber informiert gewesen sei, dass
es einen Krankenhausneubau in I nicht geben werde. Aufgrund der
Aufsichtsratssitzung vom 21. Juni 2006 sei allen Beteiligten bekannt gewesen, dass
es zu dem Krankenhausneubau in I nicht mehr kommen werde. Es handele sich
bei dem Kündigungsrecht nach § 12 Abs. 3 der Tarifvertraglichen Vereinbarung
auch um keinen Dauertatbestand, das Kündigungsrecht sei vielmehr nur einmal
mit der Nichtaufnahme des Neubaus in I in das Krankenhausinvestitionsprogramm
entstanden. Die Gewerkschaft F habe zudem die Ausübung des Kündigungsrechts
nach mehr als zweijährigem Zuwarten verwirkt. Auch während der
Tarifvertragsverhandlungen von Juni bis September 2008 sei die vorzeitige
Kündigung der Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 761 nie ein Gesprächsthema
gewesen. Noch im Juli 2008 habe F ein Infoblatt herausgegeben, in dem darüber
informiert worden sei, dass der Sanierungstarifvertrag zum 31. Dezember 2008
ende. Erst nach Scheitern der neuerlichen Tarifvertragsverhandlungen sei von dem
Kündigungsrecht Gebrauch gemacht worden, so dass anzunehmen sei, dass der
Kündigungsgrund nach § 12 Abs. 3 der Tarifvertraglichen Vereinbarung nur
vorgeschoben worden sei. Schließlich hat die Beklagte die Ansicht vertreten, dass
selbst wenn die Kündigung wirksam wäre, die Klägerin die Jahressonderzahlung
nicht in voller Höhe geltend machen könne, da dasjenige, was die Beklagte
geleistet habe, im Hinblick auf den synallagmatischen Charakter der
Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 761 gegen gerechnet werden müsse.
Mit Urteil vom 12. Mai 2010 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Kündigung der
Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 761 gemäß § 12 Abs. 3 nicht wirksam erfolgt
sei. Das Kündigungsrecht sei zwar nicht verfristet im Sinne von § 314 Abs. 3 BGB,
da die Parteien kein außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart hätten.
Allerdings sei die Ausübung des Kündigungsrechts verwirkt gewesen. Die Beklagte
habe nach mehr als 1 ¾ Jahren seit Veröffentlichung des
Krankenhausinvestitionsprogramms darauf vertrauen dürfen, dass von dem
Kündigungsrecht kein Gebrauch mehr gemacht werde. Schließlich sei die
Kündigung nur zwei Monate vor Ablauf der vereinbarten Laufzeit des Tarifvertrages
auch rechtsmissbräuchlich.
Dieses Urteil ist der Klägerin am 25. Juni 2010 zugestellt worden. Mit bei dem
Hessischen Landesarbeitsgericht am 26. Juli 2010 eingegangenem Schriftsatz hat
sie Berufung eingelegt, die sie mit bei Gericht am 28. Juli 2010 eingegangenem
Schriftsatz auch begründet hat.
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Sie vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag und meint, dass das Arbeitsgericht zu
Recht erkannt habe, dass die Tarifvertragsparteien in § 12 Abs. 3 kein
außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart hätten. Mit dem Begriff des
„Sonderkündigungsrechts“ hätten die Parteien lediglich ein ordentliches
Kündigungsrecht während der Befristung der Vereinbarung bis zum 31. Dezember
2008 regeln wollen.
Das Arbeitsgericht habe aber zu Unrecht angenommen, dass das
Kündigungsrecht verwirkt gewesen sei. Die Klägerin trägt vor, dass die
Gewerkschaft F auch dann noch versucht habe, eine Sanierung der A unter
öffentlich-rechtlicher Trägerschaft zu erreichen, als der geplante Neubau in I nicht
mehr in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 aufgenommen
werden konnte. Ziel sei es insbesondere gewesen, die Geltung der Tarifverträge
des öffentlichen Dienstes und die Mitgliedschaft der Beklagten im C zu erhalten.
Dieses Ziel sei auch noch nach Ablauf des Jahres 2006 erreichbar gewesen. Es sei
durchaus denkbar gewesen, dass der geplante Krankenhausneubau in I in das
nächste Krankenhausinvestitionsprogramm für die Jahre 2008 bis 2012 hätte
aufgenommen werden können. Selbst der Erhalt der Kliniken bei einem
öffentlichen Träger sei noch möglich gewesen, weil die Verträge mit dem
übernehmenden Konzern O erst gegen Ende des Jahres 2007 unterzeichnet
worden seien. Hätte F die Tarifvertragliche Vereinbarung schon früher gekündigt,
hätte dies weiteren Versuchen von F geschadet. Erst mit dem Scheitern der im
Jahre 2008 geführten Tarifvertragsverhandlungen um einen neuen
Sanierungstarifvertrag sei für die Gewerkschaft der Versuch gescheitert gewesen,
mit dem Notlagentarifvertrag Arbeitsplätze zu erhalten und adäquate
Tarifbedingungen zu erreichen.
Aus diesen Gründen sei die Ausübung des Kündigungsrechts weder verwirkt noch
treuwidrig. Es stünde jeder Partei frei, die ihr zustehenden Rechte bis zur Grenze
der Verjährung oder einer Ausschlussfrist geltend zu machen. Es fehle bereits an
dem für die Verwirkung erforderlichen Zeitmoment. Denn es habe der
Gewerkschaft F offen gestanden, die Aufnahme des Projekts I in das
Krankenhausinvestitionsprogramm des Landes B in den folgenden Jahren nach
2006 zu erreichen. Nachdem festgestanden hatte, dass der Neubau in I nicht
mehr in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 aufgenommen
wurde, sei lediglich eine erste Kündigungsmöglichkeit ausgelassen worden.
Jedenfalls fehle es auch am so genanten Umstandsmoment.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die Ausübung des Kündigungsrechts
auch nicht als treuwidrig anzusehen. Unrichtig sei dabei vor allem, dass durch die
Kündigung nur die Beklagte Nachteile aus dem Notlagentarifvertrag gezogen
habe, aber keine Vorteile. Die Arbeitnehmer hätten durch die Tarifvertragliche
Vereinbarung einen wesentlichen Sanierungsbeitrag geleistet. Es sei daran zu
erinnern, dass sie eine Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnausgleich und eine
Kürzung der Leistungen nach dem TVöD haben hinnehmen müssen. Umgekehrt
habe es der Beklagten frei gestanden, nach Ausspruch der Kündigung des
Sanierungstarifvertrags ihrerseits betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen
bzw. die Arbeitszeit zu erhöhen. Dass dies die Beklagte nicht unternommen hat,
könne der Klägerseite nicht vorgehalten werden.
Die Klägerin stellt die Anträge,
1. das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2010, Az.: 4 Ca 121/09,
aufzuheben;
2. Die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.847,37 Euro brutto nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. Dezember 2008
zu zahlen.
3. die Beklagte ferner zu verurteilen, an die Klägerin 37,50 Euro brutto nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 18,75 Euro seit
dem 01. Dezember 2008 und aus weiteren 18,75 Euro seit dem 01. Januar 2009 zu
zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und vertritt weiter die Auffassung, dass
die Kündigung des Sanierungstarifvertrags unwirksam gewesen sei. Das im Streit
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die Kündigung des Sanierungstarifvertrags unwirksam gewesen sei. Das im Streit
stehende „Sonderkündigungsrecht“ gemäß § 12 Abs. 3 der Tarifvertraglichen
Vereinbarung sei der Sache nach ein außerordentliches Kündigungsrecht. Die
Parteien hätten die von ihnen geregelte Kündigungsmöglichkeit in den Tarifvertrag
als „Sonderkündigungsrecht“ aufgenommen, weil beide Seiten dieses Ereignis für
so wichtig hielten, dass der gesamte Sanierungstarifvertrag binnen Monatsfrist
sein Ende finden sollte. Der Umstand, dass die Parteien die Kündigungsfrist von
einem Monat kürzer fassten als die übliche ordentliche Kündigungsfrist von
Tarifverträgen entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG von drei Monaten, zeige, wie
wichtig der geregelte Sachverhalt den Parteien erschienen sei.
Die Aufnahme bzw. die Nichtaufnahme des Krankenhausneubaus I in das
Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes B sei auch kein
Dauerzustand, sondern ein Moment. Es könne dabei dahingestellt bleiben, ob das
Wort „wenn“ in der tariflichen Regelung temporal oder konditional zu verstehen
sei.
Das Sonderkündigungsrecht sei losgelöst von § 314 Abs. 3 BGB verwirkt. Das
Arbeitsgericht habe zu Recht erkannt, dass das Umstandsmoment nicht
angenommen werden könne. Die Beklagte habe die tarifvertraglichen Regelungen
ihrerseits vollumfänglich bis zum 31. Dezember 2008 erfüllt. Sie habe weder
betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen noch die Vergütung an die
reduzierte Wochenarbeitszeit angepasst. Sie habe dabei auch auf die
Nichtgeltendmachung des Sonderkündigungsrechts der Gewerkschaft vertraut.
Schließlich sei die Ausübung des Kündigungsrechts als Fall der unzulässigen
Rechtsausübung unwirksam gewesen. Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn
eine Partei die Vereinbarung kurz vor der zeitlichen Vollendung des
Notlagentarifvertrags unter fadenscheinigen Begründungen kurz nach Scheitern
von neuen Tarifverhandlungen kündige. Dadurch habe die Gewerkschaft F erreicht,
dass die Jahressonderzahlung, die stichtagsgebunden ist, von der Beklagten noch
zu zahlen sei, während die Beklagte ihrerseits kaum mehr Möglichkeiten gehabt
habe, z.B. betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen. Unter Berücksichtigung
der dabei einzuhaltenden Formalien wie der Durchführung eines
Interessenausgleichs, der Anzeige einer Massenentlassung bei der P etc. hätten
betriebsbedingte Kündigungen realistischer Weise nicht mehr vor Ende 2008
ausgesprochen werden können. Die Klägerseite sei hingegen in den Genuss
sämtlicher Vorteile aus dem Notlagentarifvertrag gekommen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird ergänzend
Bezug genommen auf sämtliche gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie
auf die Sitzungsniederschriften.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und begründet.
I. Die Berufung ist zulässig. Sie begegnet hinsichtlich der Statthaftigkeit keinen
Bedenken (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 b) ArbGG). Sie ist form- und fristgerecht
eingelegt (§§ 519, 520 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 5 ZPO, 66 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.
ArbGG) worden. Das Ende der Berufungsfrist fiel auf den 25. Juli 2010, einem
Sonntag. Nach § 222 Abs. 2 ZPO wurde die Frist durch den Eingang der
Berufungsschrift bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht am darauffolgenden
Montag, den 26. Juli 2010, noch gewahrt. Die Berufung wurde auch rechtzeitig mit
bei Gericht am 28. Juli 2010 eingegangenem Schriftsatz begründet (§ 66 Abs. 1 S.
1, 2. Alt. ArbGG).
II. Die Berufung ist begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Unrecht die Klage
abgewiesen.
1. Der Anspruch auf Zahlung der Differenz zu der vollen Jahressonderzahlung in
Höhe von 1.847,37 € brutto ergibt sich aus § 20 TVöD.
a) Der TVöD ist im vorliegenden Fall kraft beiderseitiger Tarifbindung nach § 3 Abs.
1 TVG anwendbar. Die Klägerin ist Mitglied bei der Gewerkschaft F, die Beklagte
war im Jahre 2008 Mitglied in dem C.
Anspruchsberechtigt sind nach § 20 Abs. 1 TVöD alle Beschäftigten, die am 01.
Dezember in einem Arbeitsverhältnis stehen. Dies war bei der Klägerin der Fall.
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Nach § 20 Abs. 2 TVöD beträgt die Jahressonderzahlung bei Beschäftigten der
Entgeltgruppen 9 bis 12 im Tarifgebiet West 80 v.H. des dem Arbeitnehmer in dem
Zeitraum Juli bis September durchschnittlich gezahlten Entgelts. Die Klägerin war
hier in die Entgeltgruppe 9d Stufe 5 eingruppiert. Nach dem unbestritten
gebliebenen Vortrag der Klägerin betrug ihr durchschnittliches Monatsentgelt in
dem Referenzzeitraum 2.512,34 €, so dass sich eine Jahressonderzahlung in Höhe
von 2.009,87 € ergibt. Hierauf hat die Beklagte bereits 162,50 € gezahlt, die
Klägerin kann demnach noch weitere 1.847,37 € brutto verlangen.
Die Ansprüche sind auch nicht gemäß § 37 Abs. 1 TVöD verfallen. Die Beklagte hat
mit Schriftsatz vom 14. April 2010 unstreitig gestellt, dass die Ausschlussfrist
gewahrt wurde.
b) Diesem Anspruch steht auch nicht § 5 Abs. 3 der Tarifvertraglichen
Vereinbarung Nr. 761 (im Folgenden: Notlagentarifvertrag) bzw. der
Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 797 (im Folgenden: TV Nr. 797) entgegen.
aa) Der Notlagentarifvertrag verdrängte für die Dauer seiner Wirksamkeit den
TVöD. Ein Haustarifvertrag geht einem Verbandstarifvertrag grundsätzlich als
speziellere Regelung vor (
). Bedenken gegen eine solche Wirkung könnten sich
allenfalls dann herleiten lassen, wenn die vertragsschließenden
Tarifvertragsparteien nicht identisch sind. Dies war im vorliegenden Fall aber nicht
gegeben. Mit der Gewerkschaft F auf der einen und dem C auf der anderen Seite
waren die Tarifpartner bei beiden Tarifverträgen gleich. Der Notlagentarifvertrag
sah auch speziellere Regelungen vor. In § 5 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags und
gleich lautend auch bei dem TV Nr. 797 war geregelt, dass die
Jahressonderzahlung im Jahr 2008 nur 6,48 % des tariflich maßgebenden Entgelts
für die Arbeitnehmer der Entgeltgruppen 9 bis 12 betragen sollte.
bb) Der Notlagentarifvertrag entfaltete aber keine Wirkung mehr, da er zum 31.
Oktober 2008 wirksam von der Gewerkschaft F gekündigt wurde. Eine Nachwirkung
haben die Tarifvertragsparteien ausgeschlossen.
(1) Die Gewerkschaft F kann sich zu Recht auf den in § 12 Abs. 3 des
Notlagentarifvertrags geregelten Kündigungsgrund stützen. Nach dieser
Bestimmung kann der Tarifvertrag mit einer Frist von einem Monat von jeder
Partei gekündigt werden, wenn der Krankenhausneubau in I nicht in das
Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes B aufgenommen
wird. Dies war – das ist zwischen den Parteien unstreitig – nicht der Fall gewesen.
(2) Die Kündigung wurde form- und fristgerecht erklärt.
Im vorliegenden Fall ist zu beachten, dass der Notlagentarifvertrag ein
mehrgliedriger Tarifvertrag ist, an dem auf der Arbeitnehmerseite die
Gewerkschaft F und auf der Arbeitgeberseite die Rechtsvorgängerin der Beklagten
sowie der C beteiligt waren. Bei mehrgliedrigen Tarifverträgen muss die Kündigung
des Tarifvertrags jeder Partei auf der gegnerischen Seite zugehen
(). Diesem Erfordernis ist F gerecht geworden.
Mit Schreiben vom 25. September 2008 kündigte die Gewerkschaft gegenüber
dem C, mit Schreiben vom 30. September 2009, noch am gleichen Tag
zugegangen, gegenüber der Rechtsvorgängerin der Beklagten.
Die einmonatige Kündigungsfrist wurde ebenfalls gewahrt, so dass die Kündigung
Wirksamkeit zum 31. Oktober 2008 entfaltete.
(3) Das Kündigungsrecht wurde durch die Gewerkschaft F nicht gemäß § 314 Abs.
3 BGB verfristet ausgeübt. Nach § 314 Abs. 3 BGB muss der
Kündigungsberechtigte innerhalb einer angemessenen Frist ab Kenntnis des
Kündigungsgrundes die Kündigung aussprechen. Richtig ist auch, dass § 314 BGB
auf eine außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags grundsätzlich Anwendung
findet (
). Diese Vorschrift findet im
vorliegenden Fall entgegen der Ansicht der Beklagten indes keine Anwendung, weil
die Parteien in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags kein außerordentliches,
sondern ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben.
(a) Ob die Parteien in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags ein außerordentliches
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(a) Ob die Parteien in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags ein außerordentliches
oder ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben, ist eine Frage der
Auslegung dieser tariflichen Bestimmung.
Die Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags folgt nach der ständigen
Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist
zunächst von dem Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der
Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht
eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu
berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden
hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser
Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so
Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies
zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für
Arbeitssachen weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags,
ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität
denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt
derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten,
zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (
).
Diese für die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags entwickelten
Grundsätze gelten nicht uneingeschränkt für die Auslegung bloß schuldrechtlicher
Regelungen. Diese sind, wie im normalen Vertragsrecht, gemäß den §§ 133, 157
BGB auszulegen. Maßgeblich ist also in erster Linie, wie ein objektiver Dritte die
Regelung redlicher Weise verstehen durfte. Auch bei der Auslegung einer
schuldrechtlichen Vereinbarung ist zunächst aber vom Wortlaut auszugehen, der
systematische Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Regelung sind zu
beachten. Im Übrigen bestehen zwischen beiden Arten der Auslegung nur
vereinzelt Unterschiede, so dass in jedem Falle auch die Grundsätze zur
Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags mit Berücksichtigung finden
können ().
(b) Bei der im Streit stehenden Bestimmung des § 12 Abs. 3 des
Notlagentarifvertrags handelt es sich um eine Vorschrift, die ein Kündigungsrecht
zwischen den Tarifvertragsparteien regelt. Sie wirkt daher nur schuldrechtlich
zwischen den abschließenden Vertragspartnern. Es ist daher vornehmlich nach
den Grundsätzen der Vertragsauslegung auszulegen
Ausgehend vom Wortlaut ist zunächst zu berücksichtigen, dass die
Tarifvertragsparteien in § 12 Abs. 4 des Notlagentarifvertrags unter Bezugnahme
auf § 12 Abs. 3 von einem „Sonderkündigungsrecht“ sprechen. Entgegen der
Ansicht der Beklagten kann daraus aber kein Argument für die Annahme, dass die
Parteien ein außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben, abgeleitet
werden. Denn es muss hierbei gleichfalls mit berücksichtigt werden, dass nach §
12 Abs. 2 eine feste Vertragslautzeit des Notlagentarifvertrags und ein Befristung
bis zum 31. Dezember 2008 vereinbart war. Haben die Tarifvertragsparteien eine
bestimmte Vertragslaufzeit des Tarifvertrags vereinbart, so ist die Vereinbarung –
wie auch bei einer Befristung eines Arbeitsverhältnisses – regelmäßig so
auszulegen, dass bis zu dem vereinbarten Ende der Laufzeit eine ordentliche
Kündigung ausgeschlossen sein soll, es sei denn, die Tarifvertragsparteien haben
ein vorzeitiges Kündigungsrecht vorgesehen (
). Legt man diese rechtliche
Ausgangsposition zu Grunde, so wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien mit
der Einführung von „Sonderkündigungsrechten“ eine vorzeitige Beendigung des
Tarifvertrags vor dem 31. Dezember 2008 ermöglichen wollten, sofern die in den
jeweiligen Kündigungsrechten geregelten Voraussetzungen eingetreten sind. Der
Begriff „Sonderkündigungsrecht“ weist auf eine Ausnahme bzw. auf ein
besonderes Kündigungsrecht hin. Die Abweichung oder Ausnahme besteht hier
gerade darin, dass von dem Grundsatz einer festen Vertragslaufzeit im Falle einer
Befristung abgewichen wurde. Dies wird bestätigt durch § 12 Abs. 4 der
Vereinbarung, der explizit, abgesehen von den dort aufgeführten
Kündigungsrechten, eine „vorherige“ Kündigung – gemeint ist also vor Ablauf der
Vertragslaufzeit bis 31. Dezember 2008 - ausschließt. Vor diesem Hintergrund ist
die Verwendung des Terminus „Sonderkündigungsrecht“ ohne Weiteres mit der
eingeschränkten ordentlichen Kündigungsmöglichkeit bei festen Vertragslaufzeiten
zu erklären, ohne dass der Schluss gezogen werden müsste, die Parteien hätten
mit dem Terminus „Sonderkündigungsrecht“ eine Gleichsetzung mit
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mit dem Terminus „Sonderkündigungsrecht“ eine Gleichsetzung mit
„außerordentliche Kündigung“ bezwecken wollen.
Bei der Wortlautauslegung ist des Weiteren zu beachten, dass der maßgebliche
Halbsatz in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags mit dem Wort „wenn“ eingeleitet
wird. Daraus möchte die Beklagte den Schluss ziehen, dass die
Tarifvertragsparteien das Kündigungsrecht zeitlich eingeschränkt nur für den
punktuellen Moment vorgesehen haben, dass der Krankenhausneubau I nicht in
das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes B
aufgenommen wird. Eine solche Auslegung ist aber keinesfalls zwingend
vorzunehmen. Mit der Verwendung des Wortes „wenn“ haben die Parteien
erkennbar zumindest auch eine Bedingung formuliert, nämlich die, dass das
Kündigungsrecht nur dann zum Tragen kommen soll, wenn der
Krankenhausneubau I nicht in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis
2011 des Landes B aufgenommen wird. Die Parteien haben die Wendung „wenn“
also in einem konditionalen, nicht unbedingt in einem rein temporären Sinne
verstanden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Auslegung ebenfalls nicht
weiterführend.
Nicht entscheidend kann darauf abgestellt werden, dass die Tarifvertragsparteien
eine einmonatige Kündigungsfrist vorgesehen haben. Nach § 314 Abs. 1 S. 1 BGB
kann das Dauerschuldverhältnis grundsätzlich ohne Einhaltung einer Frist aus
wichtigem Grund gekündigt werden. Der Regelfall einer außerordentlichen
Kündigung ist der, dass der Kündigungsberechtigte keine Frist einzuhalten hat.
Allerdings kann von diesem Grundsatz auch abgewichen werden. Für eine
Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist es anerkannt, dass der Arbeitgeber mit
einer „sozialen Auslauffrist“ kündigen kann (
). Ist ein wichtiger Kündigungsgrund gegeben, steht es auch einer am
Tarifvertrag beteiligten Partei frei, eine außerordentliche Kündigung nicht fristlos,
sondern mit einer ihr angemessenen erscheinenden Frist auszusprechen
(). Möglich ist es ferner, dass die
Tarifvertragsparteien in dem Tarifvertrag für bestimmte Fälle bereits
vorausschauend ein außerordentliches Kündigungsrecht geregelt haben
(
).
Demgegenüber hat der Gesetzgeber für den Ausspruch einer ordentlichen
Kündigungsmöglichkeit ausdrücklich keine Frist vorgesehen. Nach ganz h.M. ist ein
Tarifvertrag analog § 77 Abs. 5 BetrVG jedoch stets mit einer ordentlichen
Kündigungsfrist von drei Monaten kündbar, sofern nichts anderes vereinbart ist
(
). Diese Auffangvorschrift ist aber nur dann
anzuwenden, wenn der Tarifvertrag keine selbstständige autonome
Kündigungsregelung aufweist. Vorrangig ist also stets, was die
Tarifvertragsparteien vereinbart haben, wobei sie selbstverständlich darin frei sind,
eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit mit einer Frist von weniger als drei
Monaten zu vereinbaren.
Die Vereinbarung einer Frist von einem Monat kann somit theoretisch sowohl auf
ein ordentliches als auch auf ein außerordentliches Kündigungsrecht schließen
lassen. Bei dieser Ausgangslage spricht der Wortlaut im Ergebnis aber dafür, bloß
ein ordentliches Kündigungsrecht anzunehmen. Dies folgt aus dem Regel-
Ausnahme-Charakter einer fristlosen außerordentlichen Kündigung gegenüber
einer außerordentlichen Kündigung mit einer Kündigungsfrist. Die fristlose
außerordentliche Kündigung ist, wie § 314 Abs. 1 S. 1 BGB zeigt, der Regelfall. Es
müssen bei einer außerordentlichen Kündigung gerade solche Umstände
vorliegen, die es einer Partei unzumutbar machen, die ordentliche Kündigungsfrist
– bei Tarifverträgen von drei Monaten – einzuhalten. Wenn einerseits ein solch
wichtiger Grund vorliegt und andererseits die Einhaltung einer Kündigungsfrist
geboten sein soll, handelt es sich um eine rechtlich besonders gelagerte Situation.
Solche Fälle sind wegen ihres Ausnahmecharakters nur mit Zurückhaltung
anzunehmen.
Auch eine Auslegung anhand der Systematik des Tarifvertrags spricht für die
Annahme einer ordentlichen Kündigungsmöglichkeit. Unter systematischen
Gesichtspunkten ist zu berücksichtigen, dass der Notlagentarifvertrag nicht nur
eine Kündigungsmöglichkeit vorsieht, sondern insgesamt drei. Nach § 7 Abs. 2 S. 7
der Vereinbarung besteht ein Kündigungsrecht für den Fall, dass sich Änderungen
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der Vereinbarung besteht ein Kündigungsrecht für den Fall, dass sich Änderungen
bei dem von den Tarifvertragsparteien ins Auge gefassten Personalabbau und
dem daraus resultierenden Einspareffekten ergeben sollten. Nach § 11 Abs. 2 S. 2
der Vereinbarung besteht ein Kündigungsrecht ferner für den Fall, dass
Nachverhandlungen im Anschluss an die erwartete Fusion der Krankenhäuser K
und J sowie den erwarteten Neubau in I binnen drei Monaten gescheitert sind.
Neben § 12 Abs. 3 haben die Parteien somit mehrere, für bestimmte Fälle
vorgesehene vorzeitige Beendigungsmöglichkeiten geschaffen. Es wäre
fernliegend anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien gleich mehrere
außerordentliche Kündigungsrechte vorgesehen hätten, bei denen es ihnen
grundsätzlich nicht einmal zumutbar sein soll, die ordentliche Kündigungsfrist
einzuhalten.
Des Weiteren sprich eine teleologische Auslegung für die Annahme eines
ordentlichen Kündigungsrechts. Bei der Frage nach Sinn und Zweck der Regelung
stellt sich die Frage, ob die Tarifvertragsparteien in § 12 Abs. 3 der Sache nach ein
außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart haben. Nach der Auffassung der
Beklagten handelt es sich hierbei dem „Charakter nach“ um ein außerordentliches
Kündigungsrecht. Auch dem kann nicht beigetreten werden.
Typische Gründe für eine außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags sind
schwere Pflichtverletzungen der Gegenseite, z.B. gegen die Friedens- oder
Durchführungspflicht, oder Gründe, die zur Anfechtung berechtigen (
). Der Sache
nach haben die Parteien in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags keine Verletzung
einer Pflicht der Gegenseite niedergelegt, auch wurden damit Anfechtungsgründe,
etwa wegen §§ 119, 123 BGB, nicht kodifiziert. Am ehesten lässt sich das in § 12
Abs. 3 enthaltene Kündigungsrecht dem Rechtsinstitut des Wegfalls der
Geschäftsgrundlage, nunmehr in § 313 BGB geregelt, zuordnen. Bei dem Wegfall
der Geschäftsgrundlage müssen sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags
geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben. Es handelt
sich demnach um einen Fall eines beidseitigen Motivirrtums, wobei es aber auch
ausreichend ist, wenn die Erwartungshaltung nur der einen Partei der anderen
erkennbar war. Im vorliegenden Fall trifft dies insofern zu, als alle
vertragsschließenden Tarifpartner im Jahre 2004 noch davon ausgegangen sind,
dass gemäß der alten Beschlusslage des Kreistages der Krankenhausneubau in I
kommen soll. Dieses Vorhaben war mit der Nichtaufnahme in das
Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 praktisch gescheitert. Nach wohl
überwiegender Meinung wird hinsichtlich eines Tarifvertrags § 313 BGB durch § 314
BGB verdrängt, d.h., dass der Wegfall der Geschäftsgrundlage regelmäßig durch
den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung zu sanktionieren ist
(
).
Wie bei § 313 BGB ist aber auch im Rahmen von § 314 BGB zuvorderst an eine
Vertragsanpassung zu denken. Der bei einer außerordentlichen Kündigung stets
anzuwendende ultima-ratio-Grundsatz gebietet es im Fall einer beabsichtigten
außerordentlichen Kündigung wegen veränderter Umstände stets, eine Anpassung
des Vertrags in Erwägung zu ziehen. Der Kündigungsberechtigte muss als
milderes Mittel die Möglichkeit der tarifautonomen Anpassung ausschöpfen (
). Hält man sich dies vor Augen, so spricht die Nähe des in § 12 Abs. 3
des Notlagentarifvertrags geregelten Kündigungsgrundes zum Wegfall der
Geschäftsgrundlage nur auf den ersten Blick dafür, ein außerordentliches
Kündigungsrecht anzunehmen. Denn die Vereinbarung eines außerordentlichen
Kündigungsrechts, ohne dass gleichzeitig die Verpflichtung zur Aufnahme von
Nachverhandlungen geregelt ist, würde gegen die geltenden Grundsätze bei einer
außerordentlichen Kündigung verstoßen.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass die Nichtaufnahme des
Krankenhausneubaus in I in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011
das Gewicht eines wichtigen Grundes haben soll bzw. dass bei diesem
Bedingungseintritt Umstände vorgelegen hätten, die es einer Seite unzumutbar
erscheinen ließen, die ordentliche Kündigungsfrist abzuwarten. Richtig ist zwar,
dass die Aufnahme des Bauprojekts in I ein Motiv des Notlagentarifvertrags war.
Die Tarifvertragsparteien waren um eine Sanierung des Geschäftsbetriebs bemüht
und hatten als einen Schritt zur Sanierung auch einen Krankenhausneubau in I in
ihre Erwägungen mit einbezogen. Der Krankenhausneubau in I war aber nur ein
Motiv unter mehreren. Es war nämlich daneben geplant, die Kliniken in K und J zu
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Motiv unter mehreren. Es war nämlich daneben geplant, die Kliniken in K und J zu
fusionieren sowie, wie § 7 Abs. 2 der Vereinbarung zeigt, aus den hieraus
resultierenden Synergieeffekten Einsparungen zu erzielen. Das Gesamtpaket der
Sanierungsbeiträge geht aber noch weiter: § 2 des Notlagentarifvertrags sieht
Einsparungen bei den Leistungen bei der Zusatzversorgung vor, § 3 regelt
Einschnitte bei den Krankengeldbezügen, § 4 sieht eine Verkürzung der Arbeitszeit
ohne Lohnausgleich vor und § 5 schließlich Kürzungen bei der
Jahressonderleistung. Im Gegenzug zu den Entgeltkürzungen verpflichtete sich die
Arbeitgeberseite, gemäß § 6 keine Neu- oder Umstrukturierungen vorzunehmen,
ferner sagte sie zu, Mitglied im E zu bleiben (§ 8 des Notlagentarifvertrags) sowie
für die Dauer der Laufzeit des Tarifvertrags auf betriebsbedingte Kündigungen zu
verzichten (§ 7 Abs. 1 des Notlagentarifvertrags). Die Tarifvertragspartner haben
mit anderen Worten ein Maßnahmebündel mit dem Ziel der wirtschaftlichen
Erholung der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschnürt; wenn nun aber ein
Aspekt hiervon nicht wie erwartet umgesetzt werden konnte, so erschließt es sich
nicht ohne Weiteres, warum die restlichen verabredeten Maßnahmen nicht weiter
umgesetzt werden sollten. Die übrigen Regelungen geben auch ohne das neue
Bauprojekt in I einen Sinn und sind nicht von diesem logisch abhängig. Angesichts
dieser Umstände ist es nicht nachzuvollziehen, weshalb die Nichtaufnahme des
Projekts in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 dem gesamten
Tarifvertrag sozusagen den Boden entzogen haben soll. Dass dem nicht so ist,
wird durch die sich anschließende tatsächliche Entwicklung bestätigt. Spätestens
Ende 2006 war es mit Sicherheit feststellbar, dass I nicht in das
Krankenhausinvestitionsprogramm des Landes B 2007 bis 2011 aufgenommen
wird. Dies nahmen aber weder die Arbeitnehmer- noch die Arbeitgeberseite zum
Anlass, im Jahre 2007 die Kündigung des Tarifvertrags auszusprechen. Beide
Seiten sahen folglich in dem Notlagentarifvertrag eine von dem Bauprojekt in I
unabhängige und noch sinnvolle Regelung.
Danach sprechen sowohl eine Wortlaut- als auch eine systematische und
teleologische Auslegung von § 12 Abs. 3 der Vereinbarung für die Annahme eines
bloß ordentlichen Kündigungsrechts. Selbst wenn man dies anders sehen wollte,
wäre zu bedenken, dass bei Zweifeln von einem ordentlichen Kündigungsrecht
auszugehen ist. Es ist nämlich anerkannt, dass der Kündigende bei dem
Ausspruch einer Kündigung unter Einhaltung einer Frist im Interesse der
Rechtssicherheit eindeutig zum Ausdruck bringen muss, ob er eine
außerordentliche Kündigung mit einer Auslauffrist oder eine ordentliche Kündigung
aussprechen will (
). Unterlässt er dies, so
ist zu Gunsten des Kündigungsempfängers von lediglich einer ordentlichen
Kündigung auszugehen. Überträgt man diesen Gedanken auf den vorliegenden
Sachverhalt, so wäre im Zweifel davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien
das weniger weitgehende Recht einer nur ordentlichen Kündigung vorgesehen
haben. Hätten die Parteien ein außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart
wissen wollen, so hätten sie dies, etwa durch einen entsprechenden Zusatz, auch
unmissverständlich zum Ausdruck bringen können.
(4) Die Kündigung der Gewerkschaft F ist auch nicht verwirkt (§ 242 BGB).
(a) Die Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung auf Grund
widersprüchlichen Verhaltens. Der Verstoß gegen Treu und Glauben besteht in der
Illoyalität der verspäteten Geltendmachung des Anspruchs. Ein Recht ist verwirkt,
wenn der Berechtigte es längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in der
Lage wäre (sog. Zeitmoment), und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das
gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat,
dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen wird (sog.
Umstandsmoment) (
). § 242 BGB dient insoweit dem Vertrauensschutz
des Anspruchsgegners. Dieser muss aber auch schutzwürdig sein. Das bedeutet,
dass er Anlass gehabt haben muss, auf die Nichtausübung des an sich
bestehenden Rechts zu vertrauen. Wegen des geschaffenen
Vertrauenstatbestandes muss die verspätete Geltendmachung als eine mit Treu
und Glauben unvereinbare Härte erscheinen (
). Maßgeblich ist stets eine
Abwägung im Einzelfall. Der Annahme des Umstandsmoments ist aber
grundsätzlich mit Zurückhaltung zu begegnen. Der bloße Zeitablauf bzw. das
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grundsätzlich mit Zurückhaltung zu begegnen. Der bloße Zeitablauf bzw. das
Schweigen des Berechtigten kann grundsätzlich noch keinen
Vertrauenstatbestand begründen (
).
(b) Gemessen an diesen Voraussetzungen kann die Verwirkung des
Kündigungsrechts der Gewerkschaft F nicht angenommen werden. Es mag zu
Gunsten der Beklagten unterstellt werden, dass das sog. Zeitmoment im
vorliegenden Fall anzunehmen ist. Denn es fehlt jedenfalls an dem gleichfalls
erforderlichen Umstandsmoment.
Bejaht wird das Umstandsmoment in aller Regel, wenn der andere Vertragsteil im
Hinblick auf die Nichtgeltendmachung des Rechts Vermögensdispositionen
getroffen hat (
. Solche sind hier seitens der
Beklagten aber nicht vorgetragen. Die bloße Durchführung des Tarifvertrags stellt
keine solche Disposition dar. Das Unterlassen von betriebsbedingten Gründen
kann schwerlich darauf zurückgeführt werden, dass die Gewerkschaft F nicht
zeitnah im Jahre 2007 die Kündigung nach § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags
ausgesprochen hat. Denn wenn es der Beklagten tatsächlich darauf angekommen
wäre, betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen, hätte es ihr freigestanden,
von dem auch ihr zustehenden Kündigungsrecht nach § 12 Abs. 3 des
Tarifvertrags Gebrauch zu machen.
Auch mit dem Flugblatt von Juli 2008 ist kein relevanter Vertrauenstatbestand
geschaffen worden. Darin informierte die Gewerkschaft F über den Stand der
seitens der Arbeitgeberin mitgeteilten Planungen, die auch ein Outsourcing und
Umstrukturierungsmaßnahmen beinhalteten. Es wurde ferner mitgeteilt, dass die
Beklagtenseite zum 31. Dezember 2008 aus dem C austreten wolle und dass der
verabredete Notlagentarifvertrag Ende des Jahres auslaufen werde. Richtig ist hier
zwar, dass F damals davon ausging, dass der Tarifvertrag bis Ende des Jahres
2008 laufen werde. Damit war aber noch nicht gesagt, dass sich dies nicht auch
ändern könne und dass der Tarifvertrag nicht vorzeitig gekündigt werde. Zu einer
vorzeitigen Kündigung des Notlagentarifvertrags verhält sich das Flugblatt weder in
die eine noch in die andere Richtung. Überdies handelt es sich erkennbar um eine
Mitteilung gerichtet an die Belegschaft. Die Arbeitgeberin war hier nicht der
Adressat der zusammen gestellten Informationen, so dass diese aus dem Inhalt
des Flugblattes auch keinen für sie relevanten Vertrauenstatbestand herleiten
kann.
Es ist darüber hinaus zu bedenken, dass sich zwischen der Geschäftsführung und
der Gewerkschaft F spätestens im Jahre 2008 handgreifliche
Meinungsverschiedenheiten herausgebildet haben. Der Gewerkschaft F ging es
u.a. darum, dass die Rechtsvorgängerin der Beklagten Mitglied im C bleibt, damit
die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes weiter Anwendung fänden. Dies ist auch
in § 8 des Notlagentarifvertrags, der ein Verbot des Austritts aus dem
Arbeitgeberverband bis zum Ende der Laufzeit des Tarifvertrags vorsah,
hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen. Dieses Ziel wurde aus Sicht der
Arbeitnehmer verfehlt. Es stand vielmehr zum Jahreswechsel 2008/2009 eine
Privatisierung mit voraussichtlich schlechteren Arbeitsbedingungen an. Bei diesem
Konfliktpotential musste die Arbeitgeberin damit rechnen, dass die Gewerkschaft F
die ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausnutzt, um den Druck in Richtung eines
Nachfolgenotlagentarifvertrags zu erhöhen. Dies steht einem vermeintlichen
Vertrauenstatbestand, dass bis Ende 2008 alles beim Alten bliebe, entgegen.
Überdies ist zu Gunsten der Gewerkschaft F auch zu berücksichtigen, dass diese
im Interesse der Arbeitnehmer eine Vielzahl von Aspekten zu beachten hatte,
wenn es um die Frage ging, ob und wann von dem Kündigungsrecht in § 12 Abs. 3
des Notlagentarifvertrags Gebrauch gemacht werden sollte. Der Vertreter der
Klägerin hat mit Schriftsatz vom 10. November 2010 umfangreich dazu
vorgetragen, dass F bis zuletzt verschiedene Möglichkeiten ausgelotet hat, um die
von ihr verfolgten Ziele zumindest annährend zu erreichen. Es erscheint plausibel
und gut nachzuvollziehen, dass F davon Abstand genommen hat, bereits Anfang
2007 von dem Kündigungsrecht in § 12 Abs. 3 des Notlagentarifvertrags Gebrauch
zu machen, weil dies eine Privatisierung voraussichtlich beschleunigt hätte und
einer Sanierung der Kliniken kontraproduktiv verlaufen wäre. Nach dem
unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klägerin wurden die Verträge mit O erst
Ende 2007 unterschrieben, so dass zumindest bis zu diesem Zeitpunkt andere
Restrukturierungsmaßnahmen als eine Privatisierung und ein Outsourcing noch
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Restrukturierungsmaßnahmen als eine Privatisierung und ein Outsourcing noch
nicht gänzlich ausgeschlossen waren. Diese äußeren Aspekte waren auch der
Rechtsvorgängerin der Beklagten bekannt. Angesichts dieser Entwicklung waren
Umstände, die auf eine einvernehmliche Durchführung des Notlagentarifvertrags
bis zum vorgesehenen Ende 2008 schließen lassen konnten, nicht ersichtlich.
Die Beklagte kann auch nicht erfolgreich darauf verweisen, dass die Kündigung für
sie eine unzumutbare Härte darstellen würde, weil sie kurz vor Ablauf der
vereinbarten Laufzeit erfolgte und die Rechtsvorgängerin der Beklagten ihrerseits
den durch den Tarifvertrag geschuldeten Teil erbracht habe. Angesichts der relativ
kurzen Kündigungsfrist von nur einem Monat musste die Beklagtenseite jederzeit
mit einer kurzfristigen Beendigung des Tarifvertrags rechnen. Nicht
nachzuvollziehen ist, wenn sie meint, dass sie einerseits zu Gunsten der
Arbeitnehmer auf den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen verzichtet habe,
andererseits die Arbeitnehmer im Hinblick auf die Stichtagsregelung in den
Genuss der vollen Jahressonderzahlung kämen. Voraussetzung der
Stichtagsregelung in § 20 Abs. 1 TVöD ist in der Tat lediglich, dass die
Arbeitnehmer am 01. Dezember in einem Arbeitsverhältnis stehen und dass der
TVöD Anwendung findet. Aufgrund der Kündigung zum 31. Oktober 2008 lagen
diese Voraussetzungen vor. Es stand der Rechtsvorgängerin der Beklagten aber
ab dem 01. November 2008 gleichfalls frei, die ihr durch den Notlagentarifvertrag
zunächst vorenthaltenen Rechte geltend zu machen. Der Umstand, dass
betriebsbedingte Kündigungen nicht zum 31. Dezember 2008 wegen eventueller
Interessenausgleichsverhandlungen oder der Anhörung des Betriebsrats nicht
hätten durchgesetzt werden können, mag richtig sein, fällt aber in den
Risikobereich der Arbeitgeberin. Überdies übersieht die Beklagte auch, dass sie
betriebsbedingte Kündigungen zeitlich früher hätte aussprechen können, weil
jedenfalls mit den Vorbereitungsmaßnahmen entsprechend früher hätte begonnen
werden können. Bereits wegen des Bestehens der Möglichkeit,
Umstrukturierungen anzustoßen oder betriebsbedingte Kündigungen
auszusprechen, ist es im Ergebnis fernliegend anzunehmen, dass sich der
Ausspruch der Kündigung für die Arbeitgeberseite als eine unzumutbare Härte
darstellte. Sofern die Beklagte betont, durch die Kündigung deshalb benachteiligt
worden zu sein, dass sie sich an die Vereinbarung gehalten hat und die
Arbeitnehmer in den Genuss der damit verbundenen Vorteile, also insbesondere
im Hinblick auf den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, gekommen sind,
übersieht sie zudem, dass die Vereinbarung ebenfalls eine Vielzahl von finanziellen
Nachteilen für die Arbeitnehmer beinhaltete. Sie hat demnach durchaus auch
ihrerseits Vorteile aus dem Tarifvertrag gezogen.
Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass es hinsichtlich der Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber durchaus Konstellationen geben kann,
in denen das Recht zum Ausspruch einer ordentlichen Kündigung verwirkt sein
kann. Insbesondere ist es nicht zulässig, dass der Arbeitgeber einen
Kündigungsgrund „auf Vorrat“ bereithält, um ihn bei passender Gelegenheit
einzusetzen und ein beanstandungsfrei fortgesetztes Arbeitsverhältnis zu einem
beliebigen Zeitpunkt zu kündigen (
).
Diese Argumentation ist auf die hier vorliegende Konstellation der Kündigung eines
Tarifvertrags jedoch nicht zu übertragen. Denn erstens wurden das Verbot des
Haltens eines Kündigungsgrundes „auf Vorrat“ und die deshalb mögliche
Verwirkung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers maßgeblich mit Art. 12 GG
begründet, der einen Mindestgrundrechtsschutz vor willkürlichem und
sachfremdem Verlust des Arbeitsverhältnisses sicherstellen muss (
). Diese
Grundrechtsbestimmung streitet im vorliegenden Fall aber nicht zu Gunsten der
Beklagten. Zweitens muss auf der Ebene des kollektiven Arbeitsrechts
angemessen Berücksichtigung finden, dass eine Tarifvertragspartei bei der Frage,
ob sie einen Tarifvertrag kündigt oder nicht, eine Vielzahl von
Abwägungsentscheidungen zu treffen hat. Es muss aus Gewerkschaftssicht
zunächst das für die Beschäftigten beste Ziel herausgearbeitet werden, es
müssen Alternativen überprüft werden, der Wille der unmittelbar betroffenen
Belegschaft bei einem Haustarifvertrag muss ggf. bei einer
Mitgliederversammlung eingeholt werden, unter Umständen mag auch eine Rolle
spielen, wie der Druck auf die Arbeitgeberseite anlässlich laufender Verhandlungen
erhöht werden kann. Aufgrund der Komplexität eines solchen
Willensbildungsprozesses sind an die Verwirkung des Kündigungsrechts eines
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Willensbildungsprozesses sind an die Verwirkung des Kündigungsrechts eines
Tarifvertrags strenge und jedenfalls strengere Anforderungen zu stellen, als an die
Verwirkung eines Kündigungsgrundes in einem Zwei-Personen-Verhältnis zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Schließlich war die Rechtsprechung in der
Vergangenheit auch stets zurückhaltend, was die Annahme der Verwirkung eines
Kündigungsrechts des Arbeitgebers angeht. In dem oben zitierten Fall des BAG
sah es das Gericht z.B. noch nicht als treuwidrig an, wenn der Arbeitgeber
kündigte, obwohl ihm der wesentliche Kündigungssachverhalt schon seit ca. zwei
Jahren bekannt gewesen war
(5) Die Gewerkschaft F hat auch nicht auf ihr Kündigungsrecht nach § 12 Abs. 3
des Notlagentarifvertrags verzichtet. Ein Verzicht auf ein Kündigungsrecht ist
grundsätzlich möglich. Er kann ausdrücklich oder auch durch konkludentes
Verhalten erklärt werden. Allerdings sind im Interesse der Rechtssicherheit strenge
Anforderungen an einen solch stillschweigenden Verzicht zu stellen, denn ein
entsprechender rechtsgeschäftlicher Wille kann nur bei besonderen Umständen
angenommen werden ().
Auch ein stillschweigender Verzicht kann zu Gunsten der Beklagten hier nicht
angenommen werden. Wie bereits oben dargelegt, fehlt es an geeigneten
Umständen, aus denen die Beklagte redlicher Weise entnehmen durfte, dass die
Gewerkschaft F das einmal nach § 12 Abs. 3 der Vereinbarung entstandene Recht
nicht mehr ausüben wird.
(6) Die Ausübung des Kündigungsrechts stellt sich vorliegend auch nicht aus
anderen Gründen als rechtsmissbräuchlich dar (§ 242 BGB). Ein
rechtsmissbräuchliches Verhalten kann über die Fälle der Verwirkung hinaus auch
dann anzunehmen sein, wenn die Rechtsausübung der Art oder der
Begleitumstände nach ungehörig ist oder an ihr kein schutzwürdiges Interesse
besteht, weil ihr einziger möglicher Effekt in einer Benachteiligung der Gegenseite
besteht ().
Hier kommt dem Umstand, dass die Kündigung nur zwei Monate vor dem
vereinbarten Ende der Laufzeit ausgesprochen wurde, keine maßgebliche
Bedeutung zu. Nachdem die Voraussetzungen für eine Kündigung auf der
Grundlage des § 12 Abs. 3 objektiv vorgelegen haben, musste die
Rechtsvorgängerin der Beklagten, wie oben ausgeführt, stets mit einer Kündigung
rechnen. Erfolgt die Kündigung dann, ist dies keine „Kündigung zur Unzeit“.
Es mag schließlich sein, dass die Gewerkschaft F als Teil eines Motivbündels auch
deswegen kündigte, weil ein Anschlussnotlagentarifvertrag im Jahre 2008 nicht
zustande kam. Dies macht die Ausübung des objektiv bestehenden
Kündigungsrechts indes noch nicht rechtsmissbräuchlich. Die Gewerkschaft hatte
in der damaligen Situation auch abzuschätzen, wie sie die Interessen der
Arbeitnehmer am besten vertreten kann. Mit der Kündigung erreichte sie das für
die Arbeitnehmer günstige Ergebnis, dass der Belegschaft die
Jahressonderzahlung zu zahlen ist. Schon allein dies lässt die Ausübung des
Kündigungsrechts nicht als willkürlich oder schikanös erscheinen.
2. Die Klägerin kann auch für die Monate November und Dezember 2008 eine
Zulage in Höhe von jeweils 18,75 € gemäß § 52 Abs. 3 TVöD BT-K verlangen.
Gemäß dieser Vorschrift erhalten Beschäftigte, die in eine der Entgeltgruppen 5
bis 15 eingruppiert sind, zuzüglich zu dem Tabellenentgelt gemäß § 15 Abs. 1 eine
Zulage in Höhe von 25 €. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin unstreitig
vor. Da sie nicht in Vollzeit arbeitet, erhält sie die Zulage nur anteilig (§§ 52 Abs. 3
S. 2 TVöD BT-K i.V.m. 24 Abs. 2 TVöD).
3. Der Zinsanspruch resultiert aus den §§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1
BGB.
III. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte hat
als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision ist nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen. Zum einen ist von der
vorzeitigen Kündigung des Tarifvertrags eine Vielzahl weiterer Arbeitsverhältnisse
bei der Beklagten betroffen. Zum anderen erscheint die Frage, wann von einer
Verwirkung des Kündigungsrechts eines Tarifvertrags auszugehen ist, noch nicht
hinreichend geklärt.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.