Urteil des LAG Hessen vom 16.09.2010

LAG Frankfurt: arbeitsgericht, tarifvertrag, lohnerhöhung, rückwirkung, betriebsrat, vergünstigung, wiederholung, zulage, zukunft, anwendungsbereich

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
14. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
14 Sa 271/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 5 Tarifvertrag über Löhne,
Gehälter und
Ausbildungsvergütungen der
hess. Metallindustrie vom
17.11.2008
Auslegung des Tarifvertrages - "Verschieben" einer
Tariflohnerhöhung
Orientierungssatz
Auslegung der in § 5 des Tarifvertrages enthaltenen Möglichkeit, bei wirtschaftlichen
Schwierigkeiten die 2. Stufe der für den Zeitraum ab Mai 2009 vorgesehenen
Tariflohnerhöhung durch eine Betriebsvereinbarung zu "verschieben". Streitig war, ob
dies nach dem Wortlaut des Tarifvertrages auch durch eine Betriebsvereinbarung
möglich war, die erst nach dem 1. Mai 2009 im Oktober 2009 abgeschossen wurde. Der
Arbeitgeber hatte die Erhöhung nicht ausgezahlt und im Betrieb bekannt gemacht,
dass mit dem Betriebsrat verhandelt werde. Nachdem der Arbeitgeber die für eine
Rückwirkung zu beachtenden Grundsätze des Vertrauensschutzes berücksichtigt hatte,
wurde die Erhöhung erst ab dem November 2009 wirksam.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach vom
13.01.2010 – 5 Ca 362/09 abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob eine tariflich geregelte Lohnerhöhung zu einer
Lohnerhöhung führt.
Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgen Beklagte)
wurde als deutsche A im Jahre 1959 in B gegründet. Daher befand sich der
Firmensitz zunächst in B. Im Jahre 1965 wurde der Firmensitz nach C in D verlegt.
Die Beklagte ist ein Hersteller von technischen Elektronikbauteilen für
verschiedene Industriezweige.
Der Kläger und Berufungsbeklagte (im Folgenden Kläger) ist seit März 1991 für die
Beklagte als Arbeitnehmer in Vollzeit tätig.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob eine Tariferhöhung, die zwischen dem E und
der F (im Folgenden Tarifvertrag) auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist. Auf
den Inhalt des Tarifvertrages (Anlage B 6) wird Bezug genommen. Dieser
Tarifvertrag sieht eine Erhöhung der Tariflöhne in zwei Schritten vor. In einem
ersten Schritt sollte mit Wirkung ab dem 01. Februar 2009 eine Vorweganhebung
des Grundlohns in Höhe von 2,1% erfolgen, in einem zweiten Schritt eine weitere
Gehaltserhöhung mit Wirkung ab dem 01. Mai 2009. Nachdem die Beklagte an ihre
Mitarbeiter die erste Stufe der Tariflohnerhöhung weitergegeben hat, ist streitig, ob
dies auch für die zweite Stufe zu erfolgen hat.
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Mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der deutschen A, schloss der damalige
Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung unter dem 27. November 1963 ab, in dem
es unter Ziffer 1 heißt:
„Betriebsüblich ist für das kaufmännische und für das gewerbliche Personal die
Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge, die zwischen dem G. und der F für
die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen sind.“
Auf den Inhalt der Betriebsvereinbarung (Anlage B 08/ Bl. 237 ff. d. A.) wird Bezug
genommen. In einer weiteren Betriebsvereinbarung vom 14. März 1967 (Bl. 49)
heißt es unter Hinweis auf einen Nachtrag zur Betriebsvereinbarung vom 27.
November 1963:
„Betriebsüblich ist für das kaufmännische und für das gewerbliche Personal die
Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge, die zwischen dem H und der F für die
Bundesrepublik Deutschland, Bezirksleitung I abgeschlossen sind.
Im Jahre 1999 wurde die Rechtsvorgängerin deutsche A von der Beklagten
übernommen.
Im Arbeitsvertrag des Klägers, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 25 d.
A.), heißt es unter Absatz 4:
„Wir vereinbarten einen Bruttomonatslohn von DM 3.700,- der rückwirkend am
Ende eines jeden Monats gezahlt wird. Dieser Betrag setzt sich wie folgt
zusammen:
DM 3094,00 laut Tarif in Gruppe HL 09,
DM 606,00 freiwillige Zulage,
DM 3.700 brutto Monatslohn.
Wir behalten uns vor, die in Ihrem Entlohn enthaltene übertarifliche Zulage gegen
eine evtl. Erhöhung des Tariflohns aufzurechnen.“
Der Kläger erhielt in den Jahren seit seiner Einstellung bis zum Jahre 2005 alle
zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbarten Lohnerhöhungen zum tariflich
vereinbarten Zeitpunkt und in der tariflich vereinbarten Höhe ausgezahlt. Zuletzt
erhielt er entsprechende Schreiben unter dem 22.4.2004 (Bl. 172 d.A) und
27.3.2005 (Bl. 171 d.A.)
In den Jahren 2006 bis 2008 kam es zwischen den Parteien zu Differenzen über die
Weitergabe von Lohnerhöhungen. Die Beklagte gab diese Lohnerhöhungen zum
Teil erst nach einer beim Arbeitsgericht anhängigen Klage weiter, wobei diese
Verfahren durch Vergleich beendet wurden und im Vergleichstext jeweils nur die
Zahlung der Erhöhung enthalten ist.
Streitig ist zwischen den Parteien die Zahlung der Lohnerhöhung von 2,1% für die
Monate Mai bis Oktober 2009 in Höhe von zuletzt 66,85 Euro brutto monatlich
sowie ein um 23.40 € brutto erhöhtes Weihnachtsgeld. Für diese zweite Stufe sieht
der Tarifvertrag in § 5 eine Öffnungsklausel vor. Diese lautet wie folgt:
„Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann der Beginn der Tarifperiode
entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebes vom 01. Mai 2009 bis
längstens zum 01. Dezember 2009 verschoben werden. In diesem Falle gelten die
Lohn- und Gehaltstabellen sowie die Ausbildungsvergütungen vom 01. Februar
2009 bis zu dem in der Betriebsvereinbarung festgelegten Zeitpunkt weiter.“
Die Beklagte schloss am 09. November 2009 mit dem Gesamtbetriebsrat eine
Gesamtbetriebsvereinbarung zur Entgeltanpassung, auf die Bezug genommen
wird (Anlage B 03). Hierin ist geregelt, dass die zweite Stufe der tariflich
vorgesehenen Entgelterhöhung rückwirkend erst mit Wirkung ab dem 01. Oktober
2009 an die Mitarbeiter weitergegeben wird.
Die Beklagte gehört dem E als Mitglied ohne Tarifbindung an. Die Parteien streiten
darüber, ob die Beklagte kraft betrieblicher Übungen an den Tarifvertrag gebunden
ist.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf
Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Offenbach
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Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Offenbach
vom 27. Januar 2010Bezug genommen. Das Arbeitsgericht Offenbach hat der
Klage stattgegeben. Es hat ausgeführt, dass der Kläger einen Anspruch auf die
Tariflohnerhöhung aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung habe. Dies
ergebe sich aus der langjährigen Praxis der Beklagten bzw. deren
Rechtsvorgängerin, wonach die jeweiligen Tariflohnerhöhungen an die Mitarbeiter
weitergegeben worden sind. Hieraus lasse sich folgern, dass sich die Beklagte
gegenüber den Mitarbeitern verpflichten wollte, die jeweiligen Tariflohnerhöhungen
auch in Zukunft an den Kläger weiterzugeben. Dies folge des Weiteren auch aus
der Betriebsvereinbarung vom 27. November 1967, da dort die Betriebsüblichkeit
der Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge festgestellt werde. Diese
Betriebsvereinbarung enthalte keine eigenständige Regelung, sondern stelle
lediglich die Betriebsüblichkeit der Anwendung der Tarifverträge fest. Zudem habe
die Beklagte die jeweiligen Tariflohnerhöhungen vorbehaltlos an die Mitarbeiter
weitergegeben.
Das Arbeitsgericht hat ferner ausgeführt, dass eine wirksame Verschiebung der
Tariflohnerhöhung durch die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 09. November
2009 nicht erfolgt sei, da eine derartige Verschiebung nur vor Beginn der
Lohnperiode vorgenommen werden könne, nicht jedoch danach. Dies folge aus
dem Tarifwortlaut sowie aus Sinn und Zweck der Regelung.
Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 2. Februar 2010 zugestellt worden ist,
hat die Beklagte mit Schriftsatz, der am 23. Februar 2010 beim Hessischen
Landesarbeitsgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt und diese nach
rechtzeitiger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 1. Mai 2010 am 30.
April 2010 im Einzelnen begründet.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihren Vortrag aus dem ersten Rechtszug. Sie
vertritt die Auffassung, dass allein aus der bisherigen Handhabung der Weitergabe
der Tariflohnerhöhungen eine betriebliche Übung nicht abgeleitet werden könne.
Ebenso wenig könne dies aus der Gesamtbetriebsvereinbarung der Jahre 1963,
und 1967 abgeleitet werden. Die dort enthaltene Regelung sei unwirksam, da
derartige Betriebsvereinbarungen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstießen. Der
konstitutive Charakter dieser Betriebsvereinbarungen folge auch daraus, dass dort
eine rückwirkende Geltung ab dem 01. Januar 1966 geregelt sei. Auch aus Sinn
und Zweck sowie Systematik der Regelung der Betriebsvereinbarung folge, dass
diese einen konstitutiven Rechtscharakter hätten. Zudem befasse sich die
Betriebsvereinbarung nur mit der Regelung im Jahre 1967, eine betriebliche Übung
könne jedoch nach der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechtsprechung durch
eine abweichende Übung abgeändert und beseitigt werden. Auch durch die
Gesamtbetriebsvereinbarung sei die Tariferhöhung ausgeschlossen. Das
Arbeitsgericht berücksichtige nicht, dass solche Betriebsvereinbarungen auch
rückwirkend Wirksamkeit entfalten könnten. Ein Vertrauenstatbestand sei bei den
Mitarbeitern nicht entstanden, da die Mitarbeiter bereits mit Schreiben vom 28.
April 2009 (Anlage B 01) und 29. Juni 2009 (Anlage B 02) darüber informiert
worden seien, dass eine Entscheidung über die Tariflohnerhöhung erst später
erfolge und tatsächlich die Erhöhung nicht gezahlt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach vom 27 Januar 2010, Az:: 5 Ca 362/09
abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger bittet um Zurückweisung der Berufung. Er verteidigt das angefochtene
Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines Vortrages aus dem ersten
Rechtszug. Der Kläger vertritt die Auffassung, dass bereits aus den
Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967 eine betriebliche Übung
dergestalt abgeleitet werden könne, dass auf Dauer die jeweils tarifvertraglich
geregelten Tariflohnerhöhungen an die Mitarbeiter weitergegeben werden sollten.
Dies folge auch aus den vorbehaltslosen Zahlungen der Tariflohnerhöhungen in
der Vergangenheit. Zudem bestehe die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967
bis zum heutigen Zeitpunkt ungekündigt fort. Die Beklagte habe auch die
Tariflohnerhöhungen jeweils vorbehaltlos weitergegeben.
Schließlich stehe der Forderung auch nicht die Gesamtbetriebsvereinbarung vom
09. November 2009 entgegen, da der Tarifvertrag lediglich eine Verschiebung der
Tariflohnerhöhungen vorsehe, eine rückwirkende Regelung bereits entstandener
Lohnansprüche sei daher nicht zulässig.
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Wegen des weiteren Sachvortrages der Parteien wird auf den Inhalt der in der
mündlichen Verhandlung vorgetragenen Schriftsätze der Parteien, insbesondere
die Berufungsbegründung der Beklagten vom 30. April 2010 sowie ihren Schriftsatz
vom 08. September 2010 sowie die Berufungserwiderung des Klägers vom 31. Mai
2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gem. den §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 511 ZPO sowie aufgrund der Zulassung der
durch das Arbeitsgericht gem. § 64 Abs. 2 Buchstabe a statthafte Berufung ist
fristgerecht und ordnungsgemäß eingelegt worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG,
519, 520 ZPO).
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg, da sie begründet ist. Zwar folgt das
Gericht den Erwägungen der erstinstanzlichen Entscheidung, wonach im Betrieb
der Beklagten eine betriebliche Übung besteht, die jeweiligen Entgelttarifverträge
der J auf die Arbeitsverhältnisse anzuwenden. Damit fällt auch der Kläger unter den
Anwendungsbereich dieser betrieblichen Übung. Entgegen der Auffassung des
Arbeitsgerichts ergibt sich jedoch aus der Auslegung des Tarifvertrages, dass
durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung, die erst nach dem 01. Mai 2009
abgeschlossen wurde, wirksam der Beginn der Tarifperiode verschoben werden
konnte. Im Einzelnen gilt Folgendes:
1. Zutreffend geht das Arbeitsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung davon aus,
dass dem Kläger grundsätzlich ein Anspruch auf eine Tariflohnerhöhung aufgrund
betrieblicher Übung zusteht.
1.1 Unter einer betrieblichen Übung wird die regelmäßige Wiederholung
bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers verstanden, aus denen die
Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf
Dauer gewährt werden. Dem Verhalten des Arbeitgebers wird eine konkludente
Willenserklärung entnommen, die vom Arbeitnehmer gem. § 151 BGB
angenommen werden kann. Folge ist ein vertragliches Schuldverhältnis, aus dem
ein einklagbarer Einspruch auf die üblich gewordene Vergünstigung erwächst. Auf
einen entsprechenden Verpflichtungswillen des Arbeitgebers kommt es nicht an
(vgl. BAG, Urteil vom 28. Mai 2008 – 10 AZR 274/07 – juris unter Randziffer 15
ebenso BAG vom 25. Juni 2006 – 10 AZR 385/05 – juris jeweils mit weiteren
Nachweisen).
1.2 Zutreffend kommt das Arbeitsgericht zu der Wertung, dass aufgrund der
regelmäßigen Zahlungen der Beklagten im Anschluss an Tariflohnerhöhungen die
zu diesem Zeitpunkt beschäftigten Arbeitnehmer davon ausgehen konnten, dass
auf ihr Arbeitsverhältnis die Tarifverträge der J angewendet werden sollen,
jedenfalls nachdem die Beklagte dies über einen längeren Zeitraum von mehr als
zehn Jahren in der Folge praktiziert hat.
Das Gericht verkennt nicht, dass die bloße langjährige Anpassung der Gehälter an
die jeweiligen tariflichen Entwicklungen sowie die Mitteilung hierüber allein keinen
Anhaltspunkt liefert, um von einer betrieblichen Übung auszugehen. Dies gilt auch
für die Einstufung in eine bestimmte Gehaltsgruppe eines Manteltarifvertrages
(vgl. BAG Urteil v. 09.02.2005 – 5 AZR 284/04 – juris unter Randziffer 18). Eine
derartige Verhaltensweise kann bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber wie
der Beklagten eine betriebliche Übung nicht begründen, da grundsätzlich davon
auszugehen ist, dass ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber sich künftig nicht der
Regelungsmacht der Verbände unterwerfen will. Entsprechend fordert das
Bundesarbeitsgericht, dass allein aus einer regelmäßigen Tariflohnerhöhung eine
Tarifbindung für die Zukunft nicht abgeleitet werden kann. Vielmehr bedarf es
zusätzlicher Anhaltspunkte neben einer regelmäßigen Erhöhung, um von einer
betrieblichen Übung auszugehen (vgl. BAG, Urteil vom 09. Februar 2005 unter
Randziffer 24).
1.3 Diese von der Rechtsprechung geforderten zusätzlichen Anhaltspunkte liegen
im Streitfall vor. Sie ergeben sich aus den Äußerungen der Beklagten im
Zusammenhang mit den Abschlüssen von Betriebsvereinbarungen. Aus den
Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967 wird deutlich, dass der
Arbeitgeber jeweils eine betriebliche Übung voraussetzt, wonach die jeweils
einschlägigen Tarifverträge auf die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer
Anwendung finden sollen.
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Grundsätzlich folgt allerdings aus der ständigen Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts, dass ein Anspruch aus betrieblicher Übung nur entstehen
kann, wenn es an einer kollektiv- oder individualrechtlichen Grundlage für die
Leistungsgewährung fehlt (BAG, Urteil vom 20. Juni 2007 – 10 AZR 410/06 – NZA
2007 Seite 1293, ferner Urteil vom 24. November 2004 – 10 AZR 202/04 – BAG-
E113 Seite 29 (39)).
Zunächst fehlt es an einer individualrechtlichen Regelung. Im Arbeitsvertrag des
Klägers ist lediglich auf eine bestimmte Eingruppierung in eine Lohngruppe
abgestellt worden, was für sich genommen einen Anspruch nicht begründen kann.
Gleiches gilt für Mitteilungen der jeweiligen Tariflohnerhöhungen, auch aus diesen
lässt sich keine zwischen den Parteien getroffene konkludente vertragliche
Vereinbarung ableiten.
Ein Anspruch folgt auch nicht direkt aus den in Bezug genommenen
Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967, insbesondere haben sie
entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten keinen konstitutiven Charakter.
Dies wird bereits aus der Betriebsvereinbarung vom 27. November 1963 deutlich.
In Ziffer 1 wird nicht konstitutiv die Anwendbarkeit von Tarifverträgen für das
Arbeitsverhältnis geregelt, sondern lediglich festgestellt, dass die Anwendung der
jeweiligen Tarifverträge betriebsüblich sei. Gleiches gilt auch für Ziffer 2 der
Betriebsvereinbarung, hier wird lediglich im Bereich der personellen
Mitbestimmung auf gesetzliche Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes
Bezug genommen wird. Auch hier wird man schwerlich einen Willen der
Betriebsparteien ableiten können, wonach bestimmte Regelungen des
Betriebsverfassungsgesetzes konstitutiv aufgrund der Betriebsvereinbarung
Gültigkeit haben sollen, vielmehr wird nur auf die gesetzliche Regelung Bezug
genommen. Nicht verkannt wird demgegenüber, dass andere Regelungen der
Betriebsvereinbarung, so unter Ziffer 3 und 4 konstitutive Regelungen enthalten.
Gleiches gilt für die Auslegung der Betriebsvereinbarung vom 14. März 1967. Auch
aus der Formulierung dieser Vereinbarung wird deutlich, dass nicht konstitutiv mit
dem Abschluss der Betriebsvereinbarung die jeweiligen Tarifverträge gelten,
sondern es wird lediglich deren betriebsübliche Anwendung festgestellt, diesmal
aufgrund des Wechsels den neuen Tarifbereich der J. Die Arbeitgeberin macht
mithin deutlich, dass sie ab dem 01. Januar 1966 diese Tarifverträge anwenden will.
Dieser Auslegung steht auch nicht entgegen, dass in § 1 der Betriebsvereinbarung
eine „rückwirkende Änderung“ sowie der Umstand erwähnt wird, dass aufgrund
des zu damaligen Zeitpunkt erst kürzlich erfolgten Umzuges in ein anderes
Tarifgebiet von einer längeren Praktizierung der entsprechenden Tarifverträge
noch keine Rede sein kann. Ausreichend ist jedoch, dass durch diese
Betriebsvereinbarungen deutlich wird, dass zusätzliche Anhaltspunkte neben den
jeweiligen Tariflohnerhöhungen bestehen, wonach der Arbeitgeber die Tarifverträge
der J künftig auf die Arbeitsverhältnisse anwenden will. Es kommt daher auch nicht
darauf an, ob die Betriebsvereinbarungen ungekündigt weiter gelten oder ob dem
Arbeitgeber die jeweiligen Betriebsvereinbarungen unbekannt waren. Deutlich wird
vielmehr, dass jeweils in der Vergangenheit seit dem Jahre 1967 nicht allein nur die
Tariferhöhungen an die Arbeitnehmer weiter gegeben wurden, sondern der
Arbeitgeber insgesamt von der Anwendbarkeit der Tarifverträge aufgrund
betrieblicher Übung ausgegangen ist. Damit steht dem Kläger grundsätzlich auch
die Tariflohnerhöhung des hier streitigen Jahres 2009 zu.
2. Entgegen der Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts ergibt jedoch die Auslegung
des Tarifvertrages, dass durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung, die auch erst zu
einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen wird, eine Verschiebung des Beginns der
Tarifperiode möglich ist.
2.1 Von seinem rechtlichen Ausgangspunkt her gibt das Arbeitsgericht zutreffend
die Kriterien für die Auslegung von Tarifverträgen wieder. Danach ist zunächst vom
Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen
ist, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist
der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den
tariflichen Vorschriften seinen Niederschlag gefunden hat. Dabei ist auf den
tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, da nur so Sinn und Zweck der
Tarifnorm erfasst werden können. Ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge
sind weitere Kriterien zu berücksichtigen wie die Entstehungsgeschichte des
Tarifvertrages, die praktische Tarifübung und die Praktikabilität der
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Tarifvertrages, die praktische Tarifübung und die Praktikabilität der
Auslegungsergebnisse. Insgesamt gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug,
die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch
brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG, Urteil vom 11. Februar 2009 – 10 AZR
264/08 – juris).
2.2 Zutreffend geht das Arbeitsgericht bei der Auslegung des Tarifvertrages
zunächst vom Wortlaut aus, wobei an das Wort „verschieben“ anzuknüpfen ist.
Anders als das Arbeitsgericht lässt jedoch der Wortlaut die Möglichkeit offen, auch
zu einem späteren Zeitpunkt über das Verschieben einer Lohnerhöhung jedenfalls
dann zu entscheiden, wenn diese noch nicht an die Begünstigten weitergegeben
worden ist. Dies setzt eine Rückwirkung der hierzu erforderlichen
Betriebsvereinbarung voraus, die jedoch grundsätzlich rechtlich möglich ist, soweit
nicht seitens der Beteiligten bereits ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde.
Ein solcher liegt im Streitfall nicht vor, da die Beklagte durch verschiedene
Schreiben deutlich gemacht hat, dass sie die Weitergabe der Tariflohnerhöhung an
den Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung knüpfen will. Auf die
Überlegungen des Arbeitsgerichts zur Rückabwicklung bereits erfolgter Zahlungen
können dahingestellt bleiben, da jedenfalls die Beklagte für die hier streitigen
Monate keine Zahlungen geleistet hat, sodass auch insoweit ein
Vertrauenstatbestand nicht entstehen konnte. Der Tarifvertrag selbst schließt die
Möglichkeit einer nachträglichen Betriebsvereinbarung nach dem 01. Mai nicht
aus. Jedenfalls hat die Beklagte vor dem Mai 2009 sowohl gegenüber dem
Betriebsrat als auch gegenüber der Belegschaft ausreichend deutlich gemacht,
dass sie die Tariflohnerhöhung zunächst nicht an die Arbeitnehmer weitergeben
will, sondern eine entsprechende Vereinbarung über eine Verschiebung mit dem
Betriebsrat treffen will. Nachdem auch den Tarifvertragsparteien die
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur möglichen Rückwirkung von
Betriebsvereinbarungen bekannt ist (vgl. BAG, Urteil vom 19. September 1995 – 1
AZR 208/05 – juris), dies jedenfalls dann, wenn die Grundsätze des
Vertrauensschutzes beachtet werden, war es den Betriebsparteien möglich, unter
Beachtung der Grenzen einer möglichen Rückwirkung auch im November eine
wirksame Vereinbarung über ein späteres Inkrafttreten der Lohnerhöhung
abzuschließen.
3. Insgesamt erweist sich damit die Berufung als begründet. Der Kläger hat als
unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Aufgrund der grundsätzlichen Fragen zur Auslegung des Tarifvertrages sowie
entsprechender, auch in anderen Tarifverträgen enthaltenen Regelungen zum
Hinausschieben möglicher Lohnerhöhungen durch Betriebsvereinbarung war die
Revision zuzulassen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.