Urteil des LAG Hessen vom 07.12.2010

LAG Frankfurt: arbeitsunfähigkeit, beendigung, urlaub, innerstaatliches recht, iao, verjährungsfrist, e contrario, abgeltung, vertrauensschutz, eugh

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
19. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
19 Sa 939/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 9 Abs 1 IAOÜbk 132, Art
7 Abs 1 EGRL 88/2003, EGRL
104/93, § 7 Abs 3 BUrlG, § 4
Abs 4 S 3 TVG
Urlaubsanspruch bei mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit
Orientierungssatz
Der gesetzliche Mindesturlaub ist ebenso wie der Schwerbehindertenurlaub aus § 125
Abs. 1 Satz1 SGB IX nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses abzugelten, wenn dieser
Urlaub nicht gewährt werden konnte, weil der Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt war.
Der Urlaubsanspruch verfällt während der Arbeitsunfähigkeit weder nach Art. 9 Abs. 1
des IAO-Übereinkommen noch nach tarifvertraglichen Ausschlussfristen. Er verjährt
regelmäßig nicht.
Vertrauensschutz ist seit Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie
93/104/EG am 23. November 1996 nicht zu gewähren.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main
vom 06. Mai 2010 – 11 Ca 10661/09 – teilweise unter Zurückweisung der Berufung
im Übrigen abgeändert und zur Klarstellung wie folgt gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 29.198,23 Euro brutto nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. Oktober 2009 zu
zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens haben die Klägerin 3% und die
Beklagte 97% zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu
tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung von Urlaubsabgeltung.
Die Klägerin war bei der beklagten Stadt in der Zeit vom 29. Juli 1969 bis 30.
September 2009 angestellt. Gemäß § 2 des Arbeitsvertrags vom 29. Juli 1969
richtete sich das Arbeitsverhältnis u.a. nach den Bestimmungen des
Bundesmanteltarifvertrags für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe
(BMT-G). Künftige Änderungen dieser Bestimmungen oder an ihre Stelle tretende
Vorschriften oder Tarifverträge sollten in ihrer jeweiligen Fassung vom Tag ihres
Inkrafttretens an für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten. Die Klägerin wurde
zunächst in die Lohngruppe 6 HLT eingruppiert. Nach dem Zusatzvertrag vom 26.
Juni 1997 wurde sie ab 1. Januar 1997 als Köchin in der Kinderkrippe A
weiterbeschäftigt, wobei sie an fünf Tagen in der Woche arbeitete, und in die
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weiterbeschäftigt, wobei sie an fünf Tagen in der Woche arbeitete, und in die
Lohngruppe 4 HLT eingruppiert. Hätte die Klägerin im Jahr 2009 noch gearbeitet,
hätte sie ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von € 2.014,74 brutto erhalten.
Ab 23. November 1997 war die Klägerin dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Durch
Abhilfebescheid des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales vom 31.
August 1999 wurde bei der Klägerin mit Wirkung ab 1. März 1999 ein Grad der
Behinderung von 50 festgestellt. Mit Bescheid vom 19. April 2007 wurde der Grad
der Behinderung auf 60 festgesetzt.
Mit Schreiben vom 9. November 2007 verlangte die Klägerin eine leidensgerechte
Beschäftigung. Nachdem die Beklagte den Einsatz der Klägerin abgelehnt hatte,
erhob die Klägerin im Juni 2008 Klage auf leidensgerechte Beschäftigung als Köchin
unter Berücksichtigung einer maximalen Hebe- und Tragelast von fünf Kilogramm.
In diesem Rechtsstreit, der beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main unter dem
Aktenzeichen 11 Ca 4123/08 geführt wurde, wurde am 25. August 2008 ein
Vergleich gemäß § 278 Abs. 6 ZPO durch Beschluss festgestellt, der im
Wesentlichen folgenden Inhalt hat:
1. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endet im Hinblick auf die lang andauernde
Erkrankung der Klägerin und zur Vermeidung des Ausspruchs einer
arbeitgeberseitigen Kündigung am 30. September 2009.
2. Die Parteien sind sich darüber einig, dass die Voraussetzungen zur
leidensgerechten Beschäftigung der Klägerin bei der Beklagten nicht vorliegen.
3. Die Beklagte zahlt an die Klägerin als Abfindung für den Verlust des
Arbeitsplatzes gemäß den §§ 9, 10 KSchG einen Betrag in Höhe von € 15.000,00
(in Worten: Fünfzehntausend und 00/100 Euro) brutto. Der Anspruch auf die
Abfindung ist bereits jetzt entstanden und vererblich. Die Abfindungssumme ist
zur Zahlung fällig am 30. September 2009.
4. Damit ist der vorliegende Rechtsstreit erledigt.
5. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhielt die Klägerin keine Vergütung.
Die Klägerin nahm von 1997 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30.
September 2009 keinen Urlaub.
Nachdem die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 26. November 2009
erfolglos zu Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs und des Zusatzurlaubs für
Schwerbehinderte für die Jahre 1997 bis 2009 aufgefordert hatte, erhob sie am 17.
Dezember 2009 die vorliegende Klage, die der Beklagten am 23. Dezember 2009
zugestellt worden ist.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass ihr gesetzlicher
Mindesturlaubsanspruch und der Zusatzurlaubsanspruch für Schwerbehinderte
nicht erloschen seien. Dazu hat sie behauptet, bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig erkrankt gewesen zu sein. Da eine
leidensgerechte Beschäftigung nicht möglich gewesen sei, habe sie keinen Urlaub
nehmen können. Sie hat gemeint, der Urlaubsabgeltungsanspruch sei nicht
erloschen. Die Beklagte könne sich als öffentlicher Arbeitgeber nicht auf
Vertrauensschutz berufen.
Die Klägerin hat – nach teilweiser Klagerücknahme - beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin € 29.198,24 brutto nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Oktober 2009 zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass der Urlaubsanspruch der Klägerin
für die Jahre 1997 bis 2007 am 31. März 2008 verfallen sei, weil die Klägerin im
November 2007 ihre Arbeitsbereitschaft angezeigt und leidensgerechte
Beschäftigung verlangt habe. Sie hat sich außerdem die Einrede der Verjährung
erhoben und gemeint, dass die Urlaubsabgeltungsansprüche aufgrund des ihr
zustehenden Vertrauensschutzes ausgeschlossen seien.
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Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise in Höhe von 13.948,20 brutto nebst
Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es
ausgeführt, dass die Klägerin die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs und
des Zusatzurlaubs für Schwerbehinderte aus den Jahren 2004 bis 2009 verlangen
könne. Der Urlaub aus den Jahren 1997 bis 2003 sei hingegen verfallen, weil die
Richtlinie 2003/88/EG erst ab 2. August 2004 gegolten habe. Die Klägerin sei bis
zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durchgehend arbeitsunfähig erkrankt
gewesen. Das folge daraus, dass die Voraussetzungen für eine leidensgerechte
Beschäftigung nicht vorgelegen hätten und deshalb eine Urlaubsnahme nicht
möglich gewesen sei. Der Anspruch der Klägerin sei nicht verjährt, weil der
Abgeltungsanspruch erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehe. Die
Beklagte könne sich als öffentlicher Arbeitgeber nicht auf Vertrauensschutz
berufen.
Das Urteil ist der Klägerin am 18. Juni 2010 und der Beklagten am 21. Juni 2010
zugestellt worden. Die Berufung der Klägerin ist am 22. Juni 2010 und ihre
Berufungsbegründung nach rechtzeitig beantragter Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist bis 20. September 2010 am 20. September 2010 beim
Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen. Die Berufung der Beklagten ist am
9. Juli 2010 und ihre Berufungsbegründung am 18. August 2010 beim Hessischen
Landesarbeitsgericht eingegangen.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass sie auch die Abgeltung des Urlaubs aus den
Jahren 1997 bis 2003 verlangen könne, weil vor Inkrafttreten der Richtlinie
2003/88/EG die inhaltsgleiche Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG gegolten habe. Seit
dem Ende der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie im Jahr 1996 könne sich die
Klägerin gegenüber der Beklagten unmittelbar auf Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie
bzw. der Nachfolgerichtlinie 2003/88/EG berufen. Die Anwendung der
Ausschlussfrist des § 37 TVöD sei gemeinschaftsrechtswidrig, soweit sie zum
Verfall von Urlaubsansprüchen während der Arbeitsunfähigkeit führe. Die
Ausschlussfrist könne ferner deshalb nicht eingreifen, weil der Geltendmachung
der Urlaubsansprüche mit der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ein
Erfüllungshindernis entgegengestanden habe. Das Erfüllungshindernis stehe auch
der Verjährung entgegen. Vertrauensschutz sei für die Zeit nach 1996 nicht zu
gewähren.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. Mai 2010 – 11 Ca
10661/09 – teilweise – soweit es die Klage abgewiesen hat - abzuändern und die
Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere € 15.250,04 brutto nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Oktober 2009 zu
zahlen;
2. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
1. die Berufung der Klägerin zurückzuweisen;
2. das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. Mai 2010 – 11 Ca
10661/09 – teilweise abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit die Beklagte
zur Zahlung eines € 2.324,70 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz seit dem 1. Oktober 2009 übersteigenden Betrags verurteilt
worden ist.
Die Beklagte ist der Auffassung, der Urlaubsanspruch der Klägerin für die Jahre
1997 bis 2008 sei gemäß § 37 TVöD verfallen. Der Urlaubsanspruch sei mit dem
Ende des Urlaubsjahrs fällig und vom Arbeitnehmer geltend zu machen, um den
Verfall zu verhindern. Die Anwendung der Verfallfristen sei nach ihrem Sinn und
Zweck geboten und durch die Arbeitszeitrichtlinie nicht ausgeschlossen. Die
Urlaubsansprüche für die Zeit vor 2006 seien darüber hinaus verjährt. Der
Beklagten sei Vertrauensschutz für die Zeit bis 20. Januar 2009 zu gewähren. Es
sei Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, dass der Rechtsunterworfene die für ihn
geltenden Regeln in zumutbarer Weise erkennen könne. Wenn selbst das
Bundesarbeitsgericht in seinen Entscheidungen vom 7. September 2004 – 9 AZR
587/03 – und vom 11. April 2006 – 9 AZR 523/05 – die der Richtlinie nunmehr
zugemessene Rechtsfolge nicht erkannt habe, sei das von einem
durchschnittlichen Rechtsunterworfenen nicht zu erwarten. Jedenfalls sei eine
zeitliche Befristung der Urlaubsansprüche, wie vom LAG Hamm im
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zeitliche Befristung der Urlaubsansprüche, wie vom LAG Hamm im
Vorlagebeschluss vom 15. April 2010 – 16 Sa 1176/09 – angedacht,
anzuerkennen.
Wegen des weiteren Parteivorbringens im Berufungsverfahren wird auf den Inhalt
der gewechselten Schriftsätze vom 17. und 19. August 2010 (Bl. 68 - 74 d.A.) und
vom 15. September 2010 (Bl. 89 - 95 d.A.) sowie auf die Sitzungsniederschrift vom
7. Dezember 2010 (Bl. 97 d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufungen der Parteien gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am
Main vom 6. Mai 2010 sind zulässig. Sie sind nach dem Wert des
Beschwerdegegenstand statthaft (§§ 64 Abs. 2 b, 8 Abs. 2 ArbGG). Die Parteien
haben ihre Berufungen form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 519,
520 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG).
II. Die Berufung der Klägerin ist weit überwiegend - bis auf einen Betrag von €0,01 -
begründet; die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat gemäß §
7 Abs. 4 BUrlG einen Urlaubsabgeltungsanspruch in Höhe von €29.198,23 brutto,
der ab Fälligkeit am 1. Oktober 2009 mit dem gesetzlichen Zinssatz zu verzinsen
ist. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2009 stand der
Klägerin noch ein gesetzlicher Mindesturlaubsanspruch für die Jahre 1997 bis 2009
in Höhe von 260 Tagen und ein Anspruch auf Zusatzurlaub für Schwerbehinderte
von 54 Tagen für die Jahre 1999 bis 2009 zu. Dieser Urlaubsanspruch ist aufgrund
der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG
jeweils am 31. März des Folgejahres bzw. gemäß § 26 Abs. 2a) TVöD jeweils am
31. Mai des Folgejahres verfallen. Er ist auch nicht gemäß § 37 Abs. 1 TVöD
verfallen oder gemäß §§ 195, 199 BGB verjährt. Die Beklagte kann sich schließlich
nicht auf Vertrauensschutz berufen. Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist rechtzeitig
geltend gemacht worden.
1. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2009 stand der
Klägerin noch ein Urlaubsanspruch von 314 Tagen zu, den die Beklagte gemäß § 7
Abs. 4 BUrlG abzugelten hat. Nach dieser Vorschrift ist der Urlaub abzugelten,
wenn er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht
mehr genommen werden kann. Dabei sind der gesetzliche Mindesturlaub und der
Zusatzurlaub für Schwerbehinderte - unabhängig von der Erfüllbarkeit des
Freistellungsanspruchs in einem gedachten fortbestehenden Arbeitsverhältnis –
abzugelten
a) In den Jahren 1997 bis 2009 hat die Klägerin einen Urlaubsanspruch von 314
Tagen, bestehend aus einem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch von 260 Tagen
und einem Zusatzurlaubsanspruch von 54 Tagen, erworben.
Die Klägerin, welche die Wartezeit des § 4 BUrlG erfüllt und an fünf Tagen in der
Woche gearbeitet hatte, hat in den Jahren 1997 bis 2009 jeweils einen Anspruch
auf 20 Tage gesetzlichen Mindesturlaub erworben (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG). Das gilt
auch für das Jahr des Ausscheidens, da die Klägerin nach erfüllter Wartezeit in der
zweiten Hälfte des Jahres ausgeschieden ist (§ 5 Abs. 1c) BUrlG e contrario). Damit
ist in den Jahren 1997 bis 2009 ein Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub von
260 Tagen entstanden.
Die Klägerin hat gemäß § 125 SGB IX ein Anspruch auf Zusatzurlaub von 54 Tagen
erworben. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte
Arbeitnehmer, die an fünf Tagen pro Kalenderwoche arbeiten, Anspruch auf einen
bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Der
Zusatzurlaub ist erstmals im Jahr 1999 entstanden, und zwar gemäß § 125 Abs. 2
SGB IX anteilig für die Zeit ab 1. März 1999. Damit ist im Jahr 1999 ein
Zusatzurlaubsanspruch von 4 Tagen entstanden. In den Jahren 2000 bis 2008 hat
die Klägerin jeweils einen Zusatzurlaubsanspruch von 5 Tagen erworben. Im Jahr
2009 ist ein Zusatzurlaubsanspruch von 5 Tagen entstanden. Da die Klägerin nach
erfüllter Wartezeit in der zweiten Jahreshälfte ausgeschieden ist, ist ihr Anspruch
auf Zusatzurlaub nicht anteilig zu kürzen. Für den Zusatzurlaub sind die
Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des
gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden
.
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Dem Entstehen des Urlaubsanspruchs stand nicht entgegen, dass die Klägerin seit
1997 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war. Der Anspruch auf den gesetzlichen
Mindesturlaub und der Anspruch auf den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte
entsteht auch dann, wenn der Arbeitnehmer im gesamten Bezugszeitraum oder in
Teilen davon arbeitsunfähig erkrankt ist (
.
b) Der Urlaubsanspruch ist entgegen der Ansicht der Beklagten weder teilweise
verfallen noch teilweise verjährt.
aa) Der Urlaubsanspruch für die Jahre 1997 bis 2007 ist nicht nach Art. 9 Abs. 1
des IAO-Übereinkommens Nr. 132 vom 24. Juni 1970 verfallen. Nach Art. 9 Abs. 1
des IAO-Übereinkommens Nr. 132 ist der in Art. 8 Abs. 2 des Übereinkommens
erwähnte ununterbrochene Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens ein Jahr
und der übrige Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens 18 Monate nach Ablauf
des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, zu gewähren und zu
nehmen. Die Bundesrepublik hat dem IAO-Übereinkommen zwar durch Gesetz
vom 30. April 1975 zugestimmt. Hierdurch ist das IAO-Übereinkommen Nr. 132
aber nicht innerstaatliches Recht in dem Sinne geworden, dass seine Vorschriften
normativ auf alle Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik einwirken. Nur ein die
Vorgaben des IAO-Übereinkommens ausführendes innerstaatliches Gesetz bindet
die nationalen Gerichte bei der Rechtsanwendung. Allein durch ein derartiges
Gesetz können subjektive Rechte und Pflichten einzelner begründet werden (
).
bb) Der Urlaubsanspruch für die Jahre 1997 bis 2008 ist nicht jeweils am 31. März
des Folgejahres gemäß § 7 Abs. 3 bzw. am 31. Mai des Folgejahres gemäß § 26
Abs. 2a TVöD verfallen, weil die Klägerin durch ihre seit dem 23. November 1997
bestehende, bis zum Ende des Arbeitsverhältnis andauernde Arbeitsunfähigkeit
gehindert war, ihren Urlaub in Anspruch zu nehmen.
(1) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in der Folge der
Entscheidung Schultz-Hoff des Europäischen Gerichtshofs vom 20. Januar 2009
verfällt der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch nicht
nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten
Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben war und sein
Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses fortgedauert hat, so
dass er seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte. Das
folgt im Arbeitsverhältnis der Parteien direkt aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG
bzw. der gleichlautenden Vorschrift der Vorgängerrichtlinie 93/104/EG, die
gegenüber der Beklagten als Untergliederung des Staates unmittelbar gelten bzw.
gegolten haben
Mitgliedsstaaten dürfen nach der verbindlichen Auslegung des Art. 7 Abs. 1 der
Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 weder durch Gesetz noch durch Tarifvertrag vorsehen,
dass der Mindestjahresurlaubsanspruch erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum
Ende des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist
Diese Auslegung gilt
ebenfalls für die gleichlautende Vorgängerrichtlinie 93/104 EG des Rates vom 23.
November 1993
Der Zusatzurlaub für Schwerbehinderte ist an das rechtliche
Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs gebunden (
.
Die Regelung in Art. 9 Abs.1 des IAO-Übereinkommens Nr. 132 vom 24. Juni 1970
gebietet keine Einschränkung dieser Grundsätze (a.A. LAG Hamm 15. April 2010 –
16 Sa 1176/09 – EuGH-Vorlagebeschluss). Aus dem Wortlaut der Richtlinie ergibt
sich nicht, dass der Richtliniengeber die Begrenzung des Urlaubsanspruchs
übernehmen wollte. Der Sinn und Zweck erfordert ebenfalls nicht zwingend eine
Begrenzung. Der Europäische Gerichtshof, der das IAO-Übereinkommen Nr. 132
vom 24. Juni 1970 in seiner Entscheidung vom 20. Januar 2009 erwähnt hat, hat
eine zeitliche Begrenzung für das Ansammeln von Urlaubsansprüchen nicht
vorgesehen. Er hat ausgeführt, dass der Urlaub seine Bedeutung nicht verliert,
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vorgesehen. Er hat ausgeführt, dass der Urlaub seine Bedeutung nicht verliert,
wenn er zu einer späteren Zeit genommen wird 2009
).
(2) Die Klägerin war von 1997 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses
durchgehend aufgrund arbeitsunfähig erkrankt, so dass sie daran gehindert war,
Urlaub zu nehmen. Davon ist aufgrund des Vergleichs der Parteien im
Vorverfahren auszugehen. Die Klägerin hat der Beklagten zwar am 9. November
2007 ihre Arbeitsfähigkeit auf der Grundlage einer betriebsärztlichen Abklärung der
Einsatzfähigkeit angezeigt und eine leidensgerechte Beschäftigung ohne Heben
und Tragen von Gewichten mit mehr als 5 kg verlangt. Nach § 81 Abs. 4 SGB Satz
IX ist der Arbeitgeber zur leidensgerechten Beschäftigung ggfs. nach
Umgestaltung des Arbeitsplatzes verpflichtet. Das gilt aber nicht, wenn diese
unmöglich oder unzumutbar ist. So verhält es sich hier. Aufgrund des Vergleichs
der Parteien steht fest, dass der Beklagten eine leidensgerechte Beschäftigung
der Klägerin nicht möglich war. Die Klägerin konnte damit aufgrund ihrer
Erkrankung keine Arbeitsleistung erbringen. Da sich Urlaub und Arbeitsunfähigkeit
gegenseitig ausschließen
), war der Urlaubsanspruch bis
zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2009 nicht erfüllbar
und die Klägerin an der Urlaubsnahme gehindert. Das hat die Beklagte im
Berufungsverfahren nicht mehr in Abrede gestellt.
cc) Der Urlaubsanspruch für die Jahre 1997 bis 2008 ist nicht gemäß § 37 Abs.1
TVöD verfallen. Nach dieser Regelung, die aufgrund einzelvertraglicher
Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet, verfallen Ansprüche aus
dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs
Monate nach Fälligkeit von der/dem Beschäftigten schriftlich geltend gemacht
werden. Diese Regelung erfasst nicht Urlaubsansprüche im bestehenden
Arbeitsverhältnis während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (
war die Anwendung tarifvertraglicher Ausschlussfristen auf Urlaubs-
und Urlaubsabgeltungsansprüche wegen deren besonderen Zeitregimes
ausgeschlossen. Der gesetzliche Mindesturlaub und sein Ersatz, der
Abgeltungsanspruch, seien nach §§ 1, 3 Abs. 1 iVm § 13 Abs.1 Satz 3 BUrlG
unabdingbar
.
Nach der Korrektur seiner Rechtsprechung in der Folge der Entscheidung Schultz-
Hoff des EuGH vom 20. Januar 2009
hat
das Bundesarbeitsgericht zur Frage, ob tarifvertragliche Ausschlussfristen auf
Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsansprüche anzuwenden sind, wenn der
Urlaubsanspruch wegen einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit nicht nach § 7 Abs. 3
BUrlG befristet ist, noch nicht Stellung genommen. Für den
Urlaubsabgeltungsanspruch wird die Anwendbarkeit der tarifvertraglichen
Ausschlussfristen bejaht (
Für Urlaubsansprüche im bestehenden Arbeitsverhältnis bei andauernder
Arbeitsunfähigkeit ist mangels Erfüllbarkeit des Anspruchs kein Verfall der
Urlaubsansprüche anzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben selbst formuliert,
die Ansprüche seien “geltend” zu machen. Das besagt nichts anderes, als dass
die Gegenseite aufzufordern ist, den nach Grund und Höhe zu kennzeichnenden
Anspruch zu erfüllen. Eine solche Aufforderung ist nicht sinnvoll, wenn der
Arbeitgeber mangels Erfüllbarkeit nicht zur Leistung verpflichtet ist (vgl.
1013). Eine Geltendmachung gebietet nicht der
Sinn und Zweck der tarifvertraglichen Ausschlussfristen. Ist ein Arbeitnehmer
dauerhaft erkrankt, ist für den Arbeitgeber erkennbar, in welchem Umfang
Urlaubsansprüche entstehen.
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dd) Der Urlaubsanspruch aus den Jahren 1997 bis 2005 ist entgegen der Ansicht
der Beklagten nicht gemäß §§ 195, 199 BGB verjährt. Die Verjährungsfrist hat
mangels Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs nicht jeweils mit dem Schluss des
Urlaubsjahres begonnen.
(1) Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre. Sie
beginnt nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der
Anspruch entstanden ist. Ein Anspruch ist nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB
entstanden, sobald er erstmals vom Gläubiger geltend gemacht und mit einer
Klage durchgesetzt werden kann. Dies setzt grundsätzlich die Fälligkeit des
Anspruchs voraus, da erst von diesem Zeitpunkt an der Gläubiger mit Erfolg die
Leistung fordern und gegebenenfalls den Ablauf der Verjährungsfrist durch
Klageerhebung unterbinden kann
. Die Maßgeblichkeit des Fälligkeitszeitpunkts folgt aus der Erwägung,
dass zu Lasten des Berechtigten die Verjährungsfrist nicht beginnen kann, solange
er nicht in der Lage ist, den Anspruch geltend zu machen und gegebenenfalls eine
bereits laufende Verjährung durch Klageerhebung zu unterbrechen
. Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs kann - jedenfalls bei Schadensersatzansprüchen - für den
Beginn der Verjährungsfrist die Möglichkeit, Feststellungsklage zu erheben,
genügen .
(2) Nach diesen Grundsätzen sind die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den
Jahren 1997 bis 2005 nicht verjährt.
Der Urlaubsanspruch entsteht zwar nach vollendeter Wartezeit jeweils mit Beginn
des Urlaubsjahrs, unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer zu Beginn des Jahres
arbeitsfähig ist
. Während der Arbeitsunfähigkeit
kann jedoch der Arbeitnehmer die Erfüllung des Urlaubsanspruchs nicht verlangen
und der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch nicht erfüllen. Damit fehlt es an der
Fälligkeit, die das Entstehen eines Anspruch im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB
regelmäßig voraussetzt. Der Arbeitnehmer hat entgegen der Ansicht des LAG
Düsseldorf (
) regelmäßig nicht die Möglichkeit, eine
Feststellungsklage zu erheben. Solange nicht feststeht, ob der Arbeitnehmer
während des Bestands des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig wird, kann der
Arbeitnehmer nicht mit Erfolg auf Feststellung eines Urlaubs- oder eines
Urlaubsabgeltungsanspruchs klagen. Zudem wird es am Feststellungsinteresse
fehlen.
Im Streitfall kann die Frage, ob die Verjährungsfrist des § 195 BGB auf
Urlaubsansprüche anzuwenden sind und ob die Möglichkeit, Feststellungsklage zu
erheben, für den Beginn der Verjährungsfrist ausreicht, dahinstehen. Erst mit
Abschluss des Vergleichs vom 25. August 2008 stand, dass die Klägerin bis zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr arbeitsfähig werden würde. Hätte
die Verjährungsfrist zu diesem Zeitpunkt begonnen, wäre sie bei Klageerhebung
nicht abgelaufen.
c) Der Beklagen ist kein Vertrauensschutz zu gewähren. Als Untergliederung des
Mitgliedsstaats Bundesrepublik Deutschland ist die Beklagte unmittelbar an die
Arbeitszeitrichtlinie gebunden. Selbst wenn die Beklagte nicht als Untergliederung
des Mitgliedsstaates anzusehen wäre oder Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie für
unbestimmt oder bedingt gehalten würde, wäre ihr mögliches Vertrauen auf den
Fortbestand der früheren Rechtssprechung seit dem 24. November 1996 nicht
mehr schutzwürdig (
2. Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2009 ist ein
Urlaubsabgeltungsanspruch als reiner Geldanspruch entstanden, der ab 1.
Oktober 2009 mit dem gesetzlichen Zinssatz zu verzinsen ist.
a) Für die Berechnung dieser finanziellen Vergütung ist das gewöhnliche
Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers, das während der dem bezahlten Jahresurlaub
entsprechenden Ruhezeit weiterzuzahlen ist, maßgebend
. Der Anspruch beläuft sich auf € 29.198,23 brutto (€ 2.014,74
brutto x 3 Monate / 13 Wochen / 5 Arbeitstage x 314 Urlaubstage).
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Das Arbeitsgericht hatte der Klage in Höhe von € 13.948,20 brutto stattgegeben,
so dass noch ein weiterer Betrag in Höhe von € 15.250,03 brutto zuzusprechen
war.
b) Der Zinsanspruch beruht auf §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB.
3. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist nicht erloschen.
a) Der Anspruch ist nicht deshalb nicht erloschen, weil der Urlaubsanspruch bis
zum Ende des Übertragungszeitraums nicht erfüllbar gewesen wäre. Das
Bundesarbeitsgericht hat die Surrogatstheorie für den Fall der Arbeitsunfähigkeit
bis zum Ende des Übertragungszeitraums mit Urteil vom 24. März 2009
aufgegeben
b) Die Klägerin hat die Ausschlussfrist des § 37 Abs. 1 TVöD für die
Geltendmachung des Urlaubsabgeltungsanspruchs eingehalten. Der
Urlaubsabgeltungsanspruch ist als Geldanspruch mit Beendigung des
Arbeitsverhältnisses entstanden. Sie hat den Anspruch mit Schreiben vom 26.
November 2009 und damit innerhalb der Frist geltend gemacht.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2, 97 Abs. 1,
92 Abs. 2 ZPO.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.