Urteil des LAG Hessen vom 05.10.2010

LAG Frankfurt: behinderung, vorstellungsgespräch, angemessene entschädigung, grobe fahrlässigkeit, ausschreibung, arbeitsgericht, offenkundig, behandlung, ausbildung, berufserfahrung

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
13. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 Sa 488/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 2 AGG, § 82 S 3 SGB
9, § 15 Abs 2 AGG, § 82 S 2
SGB 9
Benachteiligung - Entschädigung - fachliche Eignung -
Schwerbehinderung - unwirksame Dienstvereinbarung
Orientierungssatz
Grundsätzlich ist die Verletzung der Pflicht zur Einladung zu einem
Vorstellungsgespräch bei einem öffentlichen Arbeitgeber eine Tatsache, die eine
Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten läßt. Ein sich bewerbender
schwerbehinderter Mensch muß nur dann nicht eingeladen werden, wenn die fachliche
Eignung offensichtlich fehlt.
Die gerichtliche Überprüfung dieser offensichtlich fehlenden Eignung kann nicht dadurch
umgangen werden, dass sich der öffentliche Arbeitgeber auf eine Dienstvereinbarung
beruft, die bestimmt, dass die fachliche Eignung offensichtlich fehlt, wenn alle am
Einstellungsverfahren beteiligt Gewesenen einstimmig dieser Ansicht sind. Eine solche
Dienstvereinbarung verstößt ihrerseits gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs.
2 AGG. Sie unterläuft den allgemeinen Justizgewährungs-anspruch.
In aller Regel wird sich bei solchen Fallkonstellationen der öffentliche Arbeitgeber nicht
darauf berufen können, er habe bei der Anwendung der Dienstvereinbarung nicht
vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main
vom 28. Januar 2010 - 112 Ca 7932/09 - abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 2.700,00 € zu zahlen. Im Übrigen wird die
Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine Entschädigung wegen Diskriminierung.
Die A ist eine dem Bundesminister des Inneren (im folgenden BMI) unterstellte
Behörde der Beklagten. Sie schrieb am 13. März 2009 eine Stelle als Pförtner/in/
Wächter/in aus, welche mit der Entgeltgruppe 3 des Tarifvertrages für den
Öffentlichen Dienst (TVöD) bewertet wurde. Zu Aufgabengebiet und Anforderungen
heißt es dort:
Das Aufgabengebiet beinhaltet:
- Kontrolle des ein- und ausgehenden Personenverkehrs sowie des ein- und
ausfahrenden Kfz-Verkehrs einschließlich Kontrolle der entsprechenden Ausweise
sowie der Berechtigung zum Aufenthalt in der Liegenschaft
- Empfang und Anmeldung von Besuchern, Erteilen von Auskünften
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- Bestreifung des Geländes der Liegenschaft B
Anforderungen:
- Bereitschaft zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung in Form eines Regeldienstes rund
um die Uhr (Früh-, Spät- und Nachtdienst)
- gepflegtes Erscheinungsbild, überzeugendes und sicheres Auftreten sowie gute
Umgangsformen
- körperliche Eignung
- gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift
- Erfahrungen oder Ausbildung im Bereich des Wach- und Sicherheitsdienstes
vorteilhaft
- Bereitschaft zum Führen einer Schusswaffe
- Führungszeugnis ohne Eintrag (braucht in der Bewerbung noch nicht vorgelegt
werden!)
Im Rahmen der Stellenbesetzungen werden die Gleichstellungsbeauftragte und die
Vertrauensperson der Schwerbehinderten beteiligt. Schwerbehinderte werden bei
gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt, es wird ein Mindestmaß an körperlicher
Eignung verlangt.
Wegen der Einzelheiten der Ausschreibung wird auf Blatt 5, 6 d. A. verwiesen.
Das BMI wendet in seinem Geschäftsbereich die "Rahmenvereinbarung zur
Integration Schwerbehinderter und diesen gleichgestellten behinderten Menschen
im Bundesministerium des Innern und den Behörden seines Geschäftsbereichs
(einschließlich BGS)" vom 18. März 2004 an. Die Vereinbarung versteht sich nach
ihrer Überschrift als Integrationsvereinbarung im Sinne des § 83 SGB IX. Sie ist
sowohl von Vertretern des BMI wie auch von der Gleichstellungsbeauftragten, den
Vertretern von Hauptschwerbehindertenvertretung (BMI und BGS), der
Schwerbehindertenvertretung beim BMI, dem Hauptpersonalrat beim BMI, dem
Personalrat beim BMI sowie auch vom BGS-Hauptpersonalrat unterzeichnet (Bl. 44
- 55 Rückseite der Akte). Ziffer 4.2.4 Absatz 5 dieser Rahmenvereinbarung lautet
wie folgt:
"Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber sind zu Auswahlverfahren
zuzulassen, es sei denn, dass sie nach den vorgelegten Unterlagen für eine
Verwendung auf Grund bestehender Ausbildungs- oder Prüfungsvoraussetzungen
offensichtlich nicht geeignet erscheinen. Von einer Einladung zum
Auswahlverfahren ist abzusehen, wenn zwischen Zentralabteilung,
Schwerbehindertenvertretung und Gleichstellungsbeauftragter Einvernehmen
besteht, dass die Bewerberin oder der Bewerber für den freien Arbeitsplatz nicht in
Betracht kommt. Der Personalrat ist vor dieser Entscheidung anzuhören."
Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad von 60. Er bewarb sich mit
Schreiben vom 16. März 2009 auf die von der Beklagten ausgeschriebene Stelle
als Pförtner/Wächter. In seiner Bewerbung heißt es u. a.:
„Ich bin 43 Jahre alt und habe ausreichend Berufserfahrung im Fahr- und
Pfortendienst inklusive Personen- und Zugangskontrolle. Durch diese
Berufserfahrung und meine bisherigen Qualifikationen fühle ich mich bestens
geeignet, die von Ihnen ausgeschriebene Stelle ideal zu besetzen.
Bereits bei meiner Tätigkeit als Fahrer/Pförtner beim C in D, habe ich die
Hauptaufgaben in diesem Arbeitsbereich frühzeitig kennen gelernt.
Durch meine langjährige Berufserfahrung verfüge ich über umfangreiche
Kenntnisse in der Personen- und Fahrzeugkontrolle sowie in der mündlichen bzw.
telefonischen Auskunftserteilung und als Lotse bezüglich der Besuchereinweisung
vor Ort innerhalb der Liegenschaften. Aufgaben, wie die Zustellung und
Beförderung der Post, sowie der Personentransport im städtischen und ländlichen
Bereich, gehörten auch zu meinen täglichen Schwerpunktaufgaben. Ich bin im
Besitz aller Führerscheinklassen.
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Wörter, wie Diskretion, Verlässlich- und Pünktlichkeit sind keinesfalls fremd für
mich, genauso wie ein gepflegtes Äußeres und ein hohes Maß an Zuverlässigkeit
und Loyalität. Meine vorhandene Schwerbehinderung mit einem GdB von 60 würde
mich weder körperlich noch geistig für die geforderten Aufgaben in Ihrem Hause
einschränken, so dass ich gerne meine Fähig- und Fertigkeiten bei Ihnen
einbringen würde.
Der von Ihnen beschriebene Arbeitseinsatz im Schichtdienst kommt meiner
derzeitigen Lebenssituation entgegen.“
Wegen der Einzelheiten der Bewerbungsunterlagen des Klägers wird auf Bl. 7 - 21
d. A. verwiesen. Gemäß den beigefügten Bewerbungsunterlagen ist der Kläger
Elektromeister und Fahrlehrer. Mit Schreiben vom 11. Mai 2009 teilte die Beklagte
dem Kläger mit, dass sich im Auswahlverfahren für eine andere Bewerberin
entschieden hat und der Kläger daher bei der Stellenbesetzung nicht
berücksichtigt werden konnte. Eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch
erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 29. Mai 2009 forderte der Kläger die Beklagten
auf, ihn bei der Besetzung der Stelle zu berücksichtigen. Mit weiterem Schreiben
vom 18. Juni 2009 erklärte der Kläger, dass er nach wie vor an der Stelle bzw. an
einer gleichartigen Stelle im Haus der Beklagten interessiert sei. Alternativ machte
er eine Entschädigungs- bzw. Schadensersatzforderung in Höhe von 6
Monatsgehältern geltend (Bl. 24 d. A.). Hierauf reagierte die Beklagte mit
Schreiben vom 10. Juli 2009 (Bl. 39 - 41 d. A.).
Im Rahmen des Auswahlverfahrens für die streitgegenständliche zu besetzende
Stelle hat das BMI seine Zentralabteilung, die Schwerbehindertenvertretung, die
Gleichstellungsbeauftragte sowie den Personalrat beteiligt. Zwischen der
Zentralabteilung, der Schwerbehindertenvertretung, der
Gleichstellungsbeauftragten und dem örtlichen Personalrat herrschte
Einvernehmen darüber, dass der Kläger für die Stelle wegen offensichtlich
fehlender Eignung nicht in Betracht kommt. Von einer Einladung des Klägers zu
einem Vorstellungsgespräch war daher einvernehmlich gemäß der o. a. Ziffer
4.2.4 Absatz 5 der Rahmenvereinbarung vom 18. März 2004 abgesehen worden.
Mit Schreiben vom 10. September 2009, beim Arbeitsgericht am 15. September
2009 eingegangen und der Beklagten am 28. September 2009 zugestellt, hat der
Kläger Klage auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 3
Bruttomonatsgehältern erhoben.
Der Kläger ist der Ansicht gewesen, er habe sämtliche Schüsselqualifikationen wie
Berufungsausbildung, spezielle Berufspraxis usw. Diese ergebe sich aus seinem
Anschreiben und seinen Bewerbungsunterlagen. Gemäß § 82 SGB IX sei er daher
zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen gewesen. Da dies nicht geschehen sei,
besteht die Vermutung einer Diskriminierung wegen seines Behindertenstatus.
Das Einvernehmen der beteiligten Gremien über seine angeblich offensichtlich
fehlende fachliche Eignung verstoße gegen die gesetzlichen Vorgaben, über die
sich die Beklagte nicht hinwegsetzen könne.
Die Höhe seines Anspruchs bemesse sich anhand der dreifachen Summe des
Bruttogrundgehaltes der Entgeltgruppe 3 Stufe 2 TVöD. Auf diese Weise errechne
sich die Klageforderung von 5.723,28 €.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.723,28 € zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat behauptet, die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers sei im
Bewerbungsverfahren nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden. Zwar habe er in
seinem Anschreiben auf einen Grad der Behinderung von 60 hingewiesen, den
Bewerbungsunterlagen habe jedoch nur eine Kopie des
Schwerbehindertenausweises beigelegen, nach der ein Grad der Behinderung von
50 bei einer Gültigkeit bis Ende März 2007 zu erkennen war. Gleichwohl ist der
Kläger - unstreitig - im Bewerbungsverfahren als Schwerbehinderter mit einem
Grad von 50 behandelt worden. Der Sachbereich Personal, so hat die Beklagte
weiter behauptet, habe bei seiner Entscheidung im Hinblick auf
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weiter behauptet, habe bei seiner Entscheidung im Hinblick auf
Versetzungsbewerber § 19 Haushaltsgesetz 2009 sowie § 7 BGleiG beachten
müssen, da es sich bei der Wache um einen Frauen unterrepräsentierten Bereich
handele. Der Kläger sei auch deshalb nicht eingeladen worden, weil man aus
seinen Unterlagen keinen Hinweis auf die Sachkundeprüfung gemäß § 34 a GewO
entnehmen konnte.
Durch Urteil vom 28. Januar 2010 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen, im
Wesentlichen mit der Begründung, durch das Einvernehmen aller Beteiligten im
Sinne der oben zitierten Rahmenvereinbarung sei von der offensichtlich fehlenden
Eignung des Klägers für die ausgeschriebene Stelle auszugehen. Wegen der
Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen
Urteils verwiesen (Bl. 67 - 75 d. A.).
Gegen dieses dem Kläger am 04. März 2010 zugestellte Urteil hat dieser mit
einem am 01. April 2010 beim erkennenden Gericht eingegangenen Schriftsatz
Berufung eingelegt und diese mit einem am 27. April 2010 eingegangenen
Schriftsatz begründet.
Der Kläger wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er ist der
Ansicht, die Einigkeit aller Beteiligten bei der Beklagten über seine angebliche
offenkundig fehlende Eignung sei bedeutungslos. Sie enthebe die Beklagte nicht
ihrer gesetzlichen Pflicht, ihn als Schwerbehinderten zu einem
Vorstellungsgespräch einzuladen, denn er sei für die ausgeschriebene Stelle
gerade nicht offenkundig fachlich ungeeignet. Die Sachkundeprüfung für das
Bewachungsgewerbe (§ 34 a GewO) hätte er in 3 bis 4 Tagen bei der örtlichen
Industrie- und Handelskammer erwerben können. Sie sei in der Ausschreibung
auch nicht verlangt gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 28. Januar 2010 - 11 Ca
7932/09 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm 5.723,28 € zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Sie ist der Ansicht, die
Übereinkunft aller Beteiligter im BMI über die offenkundig fehlende Eignung des
Klägers sei hinzunehmen und rechtfertige die unterbliebene Einladung des Klägers
zu einem Vorstellungsgespräch. Der Behindertenstatus sei aus den Unterlagen
nicht zweifelsfrei hervorgegangen. Dem Kläger habe auch die Sachkundeprüfung
gemäß § 34 a GewO gefehlt.
Jedenfalls sei ihr, der Beklagten, bei der möglicherweise fehlerhaften Anwendung
der zitierten Rahmenvereinbarung weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit
vorzuwerfen. Allein deshalb komme eine Entschädigung nicht in Frage.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im 2. Rechtszug wird auf den
vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen so auch auf die
Niederschrift der Berufungsverhandlung vom 10. August 2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 8 Abs. 2 ArbGG; 511 ZPO an sich statthafte Berufung begegnet
hinsichtlich des Wertes des Beschwerdegegenstandes (§ 64 Abs. 2 ArbGG) keinen
Bedenken. Sie ist nach Maßgabe der im Tatbestand mitgeteilten Daten form- und
fristgerecht eingelegt sowie rechtszeitig und ordnungsgemäß begründet worden
(§§ 66 Abs. 1 ArbGG; 517, 519, 520 ZPO) und damit insgesamt zulässig.
In der Sache ist die Berufung begründet.
Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch auf eine Entschädigung wegen diskriminierender
Behandlung (§§ 15 Abs. 2 Satz 2; 7 Abs. 1 und 2; 1 AGG in Verbindung mit § 82
SGB IX).
Der Kläger hat die für seinen Klageanspruch einzuhaltenden Ausschlussfristen der
§§ 15 Abs. 4 AGG, 61 b Abs. 1 ArbGG offenkundig beachtet.
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Nach § 15 Abs. 2 AGG kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot
wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, der oder die
Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Wenn der oder
die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden
wäre, darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung 3 Monatsgehälter nicht
übersteigen.
Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AGG sind erfüllt. Der Kläger ist als Bewerber
für ein Beschäftigungsverhältnis gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG Beschäftigter im
Sinne der Norm. Er ist unstreitig schwerbehindert im Sinne des SGB IX und damit
behindert im Sinne des AGG. Nach dem Vorbringen der Parteien ist davon
auszugehen, dass die Beklagte den Kläger wegen seiner Behinderung
benachteiligt hat. Die durch die unterbliebene Einladung zu einem
Vorstellungsgespräch gemäß § 82 Satz 2 SGB IX begründete Vermutung einer
Benachteiligung des Klägers wegen der Behinderung hat die Beklagte nicht
entkräftet.
Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines im § 1 AGG genannten
Grundes - und damit auch wegen einer Behinderung - benachteiligt werden. Das
Verbot der Benachteiligung schwerbehinderter Beschäftigter regelt zudem § 81
Abs. 2 SGB IX. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine Benachteiligung vor, wenn
eine Person wegen der Behinderung eine weniger günstige Behandlung erfährt als
eine Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren
würde.
Nach den allgemeinen Regeln der Darlegungs- und Beweislast muss der
schwerbehinderte Bewerber, der eine Entschädigungszahlung wegen Verstoßes
gegen das Diskriminierungsverbot geltend macht, darlegen, dass er beim
Auswahl- bzw. Einstellungsverfahren wegen seiner Behinderung benachteiligt
worden ist. Seiner Darlegungs- und Beweispflicht genügt der schwerbehinderte
Bewerber gemäß § 22 AGG, wenn er im Streitfall Indizien beweist, die eine
Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen. Solche
Indizientatsachen, die eine Benachteiligung in diesem Sinne vermuten lassen,
können auch Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 81 Abs. 1, 82 SGB
IX sein. Das Gericht muss die Überzeugung einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen der Behinderung und dem Nachteil
gewinnen (BAG vom 15. Februar 2009, BAGE 113, 361; BAG vom 05. Februar
2004, BAGE 109, 265; Düwell, BB 2006, 1741; Grobys, NZA 2006, 898). In diesem
Fall trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die
Bestimmungen zum Schutze vor Benachteiligung vorgelegen hat. Hierzu hat sie
Umstände darzulegen, welche den Schluss zulassen, dass die Behinderung in dem
Motivbündel, das die Entscheidung beeinflusst hat, nicht als negatives Merkmal
enthalten war (BAG vom 18. November 2008, NZA 2009, 729; BAG vom 16.
September 2008, AP Nr. 15 zu § 81 SGB IX; Bundesverfassungsgericht vom 16.
September 1993, BVerfGE 89, 276; Hessisches Landesarbeitsgericht vom 28.
August 2009, 19/3 Sa 1636/08, zitiert nach juris).
Nach diesen Grundsätzen ist von einer Benachteiligung wegen Behinderung
auszugehen. Die Beklagte hat entgegen ihrer Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX
den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Das begründet die
Vermutung, dass die Beklagte den Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt
hat. Diese Vermutung hat die Beklagte nicht entkräftet (BAG vom 12. September
2006, BAGE 119, 262).
Nach § 82 Satz 2 SGB IX haben Öffentliche Arbeitgeber, zu denen die Beklagte als
Gebietskörperschaft zählt, sich bewerbende schwerbehinderte Menschen zu einem
Vorstellungsgespräch einzuladen. Diese Pflicht besteht nur dann nicht, wenn dem
schwerbehinderten Menschen die fachliche Eignung offensichtlich fehlt (§ 82 Satz 3
SGB IX). Ein schwerbehinderter Bewerber muss bei einem Öffentlichen Arbeitgeber
die Chance eines Vorstellungsgesprächs bekommen, wenn seine fachliche Eignung
zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst wenn sich der
Öffentliche Arbeitgeber auf Grund der Bewerbungsunterlagen schon die Meinung
gebildet hat, ein oder mehrere Bewerber seien so gut geeignet, dass der
schwerbehinderte Bewerber nicht mehr in die nähere Auswahl kommt, muss er
den Bewerber nach dem Gesetzesziel einladen. Der schwerbehinderte Bewerber
soll den Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen
können. Wird ihm diese Möglichkeit genommen, liegt darin eine weniger günstige
Behandlung als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen
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Behandlung als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen
gegenüber anderen nicht behinderten Bewerbern für erforderlich hält. Der damit
verbundene Ausschluss aus dem weiteren Bewerbungsverfahren stellt sich als eine
Benachteiligung dar, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der
Behinderung steht (BAG vom 12. September 2006, a. a. O.; BAG vom 16.
September 2008, a. a. O.; BAG vom 21. Juli 2009, NZA 2009, 1087;
Bissels/Lützeler, BB 2010, 1725 m. w. N.; Hessisches Landesarbeitsgericht vom
28. August 2009, a. a. O. und vom 11. März 2009 - 2/1 Sa 554/08 -, zitiert nach
juris).
Ob ein Bewerber offensichtlich nicht die notwendige fachliche Eignung hat, ist
anhand eines Vergleichs des für die zu besetzende Stelle bestehenden
Anforderungs- mit der Leistungsprofil des behinderten Bewerbes zu ermitteln. Die
fachliche Eignung fehlt, wenn der Bewerber über die für die zu besetzende Stelle
bestehenden Ausbildungs- oder Prüfungsvoraussetzungen oder sonstige
Voraussetzungen, wie z. B. die nach der Stelle geforderten ausreichenden
praktischen Erfahrungen nicht verfügt (BAG vom 16. September 2008, a. a. O.;
BAG vom 12. September 2006, a. a. O.; Neumann in Neumann/Pahlen/Majerski-
Pahlen, SGB IX, 10. Auflage, § 82 Randziffer 6). Im Hinblick auf das geforderte
Anforderungsprofil ist der Öffentliche Arbeitgeber gehalten, dieses ausschließlich
nach objektiven Kriterien, d. h. unter Berücksichtigung der Anforderungen der
auszuübenden Tätigkeit, festzulegen. Gleiches muss in Bezug auf die geforderten
praktischen Fähigkeiten und Kenntnisse gelten, sofern sie für die auszuübende
Tätigkeit notwendig sind. Zwar muss der schwerbehinderte Bewerber bei der
angestrebten Einstellung nicht bereits alle geforderten Kenntnisse und
Erfahrungen besitzen, um den Arbeitsplatz ausfüllen zu können. Der
Stellenbewerber muss allerdings in der Lage sein, sich fehlende Kenntnisse und
Erfahrungen in einer zumutbaren Einarbeitungszeit anzueignen.
Unter Beachtung dieser Grundsätze bestand im vorliegenden Fall eine Pflicht, den
Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Dem Kläger fehlte nicht
offensichtlich die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle.
Nach der Ausschreibung verlangte die Stelle keine spezielle Berufungsausbildung.
Die geforderte Bereitschaft zu flexibler Arbeitszeitgestaltung hat der Kläger in
seiner Bewerbung signalisiert. Die sonstigen Anforderungen (gepflegtes
Erscheinungsbild, körperliche Eignung, gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift,
Bereitschaft zum Tragen einer Schusswaffe) dürfen beim Kläger als vorhanden
vorausgesetzt werden. Jedenfalls hat weder die Beklagte noch der Kläger etwas
vorgetragen, was daran zweifeln lassen könnte. Erfahrungen oder Ausbildung im
Bereich des Wach- und Sicherheitsdienstes waren nach der Ausschreibung nicht
verlangt, sondern nur "vorteilhaft". Der Kläger konnte diesbezüglich sogar
Erfahrungen vorweisen. Nach seinen Bewerbungsunterlagen hat er bereits als
Fahrer/Pförtner gearbeitet und Erfahrungen gesammelt im Bereich der Personen-
und Fahrzeugkontrolle sowie der Auskunftserteilung und der Einweisung von
Besuchern. Auf die fehlende Sachkundeprüfung im Sinne von § 34 a GewO kann
sich die Beklagte nicht berufen. Diese war in der Ausschreibung nicht verlangt und
ist nach unwidersprochenem Vortrag des Klägers in 3 bis 4 Tagen zu erwerben.
Unter Berücksichtigung der beruflichen Qualifikation des Klägers als Elektromeister
und Fahrlehrer kann nach der Überzeugung der Kammer daher keinesfalls eine
offensichtlich fehlende fachliche Eignung des Klägers im Sinne von § 82 Satz 3
SGB IX angenommen werden.
Der Kläger hätte also zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen.
Der Verstoß gegen diese Pflicht begründet im vorliegenden Fall die Vermutung
einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Das gilt insbesondere deshalb, weil
diese Verfahrensvorschrift eine zentrale Rolle für die Chancen des
schwerbehinderten Bewerbers spielt. Der schwerbehinderte Bewerber soll, wie
oben bereits ausgeführt, den Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner
Eignung überzeugen können.
Der Vermutung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen
Schwerbehinderteneigenschaft und Nachteil steht im Übrigen weder die Erfüllung
der Schwerbehindertenquote noch die Einhaltung der Verfahrensvorschrift nach §
91 Abs. 1 Satz 2 SGB IX entgegen.
Die Beklagte hat die Vermutung der Benachteiligung des Klägers wegen seiner
Behinderung nicht entkräftet. Sie kann sich hierzu insbesondere nicht unter
Verweis auf ihre Rahmenvereinbarung vom 18. März 2004 darauf berufen, alle am
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Verweis auf ihre Rahmenvereinbarung vom 18. März 2004 darauf berufen, alle am
Einstellungsverfahren Beteiligten seien einstimmig der Ansicht gewesen, der
Kläger sei offensichtlich fachlich nicht geeignet.
Diese Rahmenvereinbarung ist insoweit unwirksam. Sie verstößt ihrerseits gegen
das Benachteiligungsverbot der § 7 Abs 2 AGG (vgl. dazu Walker, NZA 2009, 5).
Mit ihr wird versucht, den Rechtsschutz schwerbehinderter Bewerber in
unzulässiger Weise zu beschneiden. Über die behauptete "Einstimmigkeit" der
Entscheidung soll der Eindruck erweckt werden, eine gerichtliche Überprüfung der
Voraussetzung offensichtlich fehlender fachlicher Eignung sei nicht mehr möglich.
Dies unterläuft den allgemeinen Justizgewährungsanspruch, der Verfassungsrang
hat (abgeleitet aus dem Rechtstaatsprinzip in Verbindung mit den
Einzelgrundrechten, Art 2 Abs. 1 Grundgesetz; vergl. BVerfGE 107, 395, 406 ff;
BVerfGE 88, 118, 123; BVerfGE 97, 169, 185; BVerfG NJW 2009, 572; Enders in
Epping/Hillgruber, Beck OK-GG, Art. 19 Randziffer 57 m. w. N.). Der Allgemeine
Justizgewährungsanspruch garantiert die vorbehaltlose Gewährung von
Rechtschutz auch im zivilrechtlichen Bereich. Dem Kläger kann deshalb nicht durch
irgendwelche Übereinkünfte der Beklagtenseite oder kollektiv-rechtliche
Regelungen das Recht genommen werden, das Verhalten der Beklagten gerichtlich
überprüfen zu lassen.
Die Beklagte kann sich zu ihrer Entlastung auch nicht auf § 15 Abs. 3 AGG berufen.
Danach ist ein Arbeitgeber bei der Anwendung kollektiv-rechtlicher Vereinbarungen
nur dann zu einer Entschädigung verpflichtet, wenn er vorsätzlich oder grob
fahrlässig handelt. Die hier fraglichen Rahmenvereinbarung vom 18. März 2004 ist
eine Dienstvereinbarung und somit eine kollektiv-rechtliche Vereinbarung im Sinne
von § 15 Abs. 3 AGG. Begründung für die Haftungsprivilegierung bei kollektiv-
rechtlichen Vereinbarungen ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache
16/1780, Seite 38) die vermutete "höhere Richtigkeitsgewähr" kollektiv-rechtlicher
Regelungen. Schon dies wird in der Literatur in Fragen gestellt (Walker, NZA 2009,
5; Däubler/Bertzbach/Deinert, AGG, 2. Auflage 2008, § 15 Randziffer 89).
Bedenken bestehen auch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den EU-Richtlinien und
den Forderungen des EuGH nach einer verschuldensunabhängigen Haftung
(Walker a. a. O.; Däubler/Bertzbach/Deinert, a. a. O., Randziffer 93; Kamanabrou,
RdA 2006, 321; Deinert, DB 2007, 398; für eine deshalb einschränkende Auslegung
Krebber, EuZA 2009, 200).
Dies mag dahinstehen, denn die Beklagte hat grob fahrlässig gehandelt. Grob
fahrlässig handelt im vorliegenden Zusammenhang, wenn sich die Tatsache einer
Benachteiligung bei Anwendung der Vereinbarung hätte aufdrängen müssen und
der Betreffende dies bei Umsetzung der Vereinbarung grob sorgfaltswidrig außer
Acht gelassen hat (Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, 2. Aufl. 2008, Randziffer 40;
Nebeling/Miller, RdA 2007, 298). So ist das hier. Die Beklagte durfte nicht auf die
"höhere Richtigkeitsgewähr" der Rahmenvereinbarung vom 18. März 2004
vertrauen. Sie hat selbst an ihr mitgewirkt und trägt deshalb die Verantwortung für
die fragliche Passage, die versucht, Verfassungsgarantien zu beschneiden. Die
Beklagte wird hier vertreten durch das BMI, dem Ministerium, das für
Verfassungsfragen zuständig ist (§ 26 Abs. 2 GeschO-BT). Das BMI muss wissen,
dass kollektiv-rechtliche Vereinbarungen, die den Zugang zu den Gerichten
beschneiden, nach unbezweifelter Ansicht verfassungswidrig sind. Eine Exkulpation
gerade der Beklagten ist nur schwer vorstellbar. Die Beklagte macht es sich zu
leicht, wenn sie zu ihrer Verteidigung darauf hinweist, dass sie im vorliegenden
Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht obsiegt hat. Daraus folgt nicht die
"Vertretbarkeit" ihrer Ansicht und daraus folgend ein minderer Grad von
Fahrlässigkeit. Das Arbeitsgericht hat sich zu § 15 Abs. 3 AGG nämlich überhaupt
nicht verhalten.
Eine Entschädigung von 2700.-€ ist unter Berücksichtigung der Umstände des
Einzelfalls angemessen. Sie liegt bei rund der Hälfte der begehrten Entschädigung
Nach § 15 Abs. 2 AGG muss die Entschädigung angemessen sein. Das bestimmt
sich nach Art und Schwere der Benachteiligung, der Dauer und ihrer Folgen, dem
Anlass und dem Beweggrund des Handels, dem Grad der Verantwortlichkeit des
Arbeitgebers, etwa geleisteter Wiedergutmachung oder erhaltener Genugtuung
und dem Vorliegen eines Wiederholungsfalls (BAG vom 22. Januar 2009, NZA
2009, 945; Däubler/Bertzbach/Deinert, a. a. O., § 15 Randziffer 66 ff). Ferner ist der
Sanktionszweck der Norm zu berücksichtigen. Die Entschädigung muss geeignet
sein, eine abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber zu haben und in
jedem Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen
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jedem Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen
(ebenso die Gesetzbegründung, BT-Drucksache 16/1760, Seite 38; BAG vom 05.
Februar 2004, AP Nr. 23 zu § 611 a BGB; Bauer/Göpfert/Krieger, a. a. O., § 15
Randziffer 36). Bei einer Nichteinstellung darf die Entschädigung 3 Monatsgehälter
nicht überschreiten, wenn der oder die Beschäftigte auch bei
benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
In Ansehung dieser Gesichtspunkte hält die erkennende Kammer es für
angemessen, den gesetzlichen Rahmen etwa zur Hälfte auszuschöpfen und dem
Kläger einer Entschädigung in Höhe von 2700.-€ zuzusprechen. Die
Rechtsverletzung der Beklagten ist zwar krass. Der Versuch, dem Kläger durch
eine kollektive Regelung von der gerichtlichen Wahrnehmung seiner Rechte
abzuhalten, benachteiligt den Kläger in besonders schwerer Weise. Der
Beweggrund der Beklagten liegt offenbar in dem Wunsch nach "ungestörter"
Bewerberauswahl und der Vermeidung größeren Aufwandes an Zeit und Geld.
Andererseits liegt – soweit erkennbar- kein Wiederholungsfall vor. Angesichts des
Alters und der Ausbildung des Klägers erscheint es auch nicht unwahrscheinlich,
dass er alsbald eine anderweitige Beschäftigung findet.
Ob die Berechnung der Entschädigungsforderung aus der Stufe 2 der
Entgeltgruppe 3 TVöD oder nur aus der Stufe 1 der Entgeltgruppe 3 errechnet
werden muss, mag bei der gefundenen Entschädigung dahinstehen.
Die Parteien haben die Kosten des Rechtsstreits nach Maßgabe ihres jeweiligen
Unterliegens zu tragen (§ 92 Abs. 1 ZPO).
Die Zulassung der Revision folgt aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Nach Ansicht der
Berufungskammer haben die aufgeworfenen Rechtsfragen grundsätzliche
Bedeutung.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.