Urteil des LAG Hessen vom 15.02.2007

LAG Frankfurt: wiedereinsetzung in den vorigen stand, arbeitsgericht, wohnung, zustellung, einspruch, inhaftierung, kündigung, antritt, eigenschaft, säumnis

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
11. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 Sa 429/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 50 ArbGG, § 59 S 1 ArbGG,
§ 178 ZPO, § 180 ZPO, §§
178ff ZPO
(Keine Säumnis bei Zustellung der Ladung an
Wohnanschrift eines mehrjährig Inhaftierten - Antrag auf
Zurückweisung in Berufungsverhandlung)
Leitsatz
1. Der Antritt einer mehrjährigen Strafhaft hebt die Wohnungseigenschaft i.S.d. §§ 178
ff. ZPO auf, selbst wenn dem Inhaftierten über Angehörige (z.B. Ehefrau) noch
Bindungen zur Wohnung bleiben und äußerlich noch der Anschein einer Wohnung des
Inhaftierten fortbesteht.
2. Der Antrag auf Zurückverweisung an das Arbeitsgericht kann noch nach Ablauf der
Berufungsbegründungsfrist in der Berufungsverhandlung gestellt werden.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main
vom 31. Januar 2006 – 10 Ca 6721/05 – aufgehoben und die Sache wird zur
weiteren Verhandlung – auch über die Kosten der Berufung – an das Arbeitsgericht
Frankfurt am Main zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen und einer weiteren
außerordentlich fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten
gegenüber dem Kläger.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Chemieindustrie.
Der am 7. Februar 1960 geborene, verheiratete Kläger ist Vater von drei Kindern.
Er wurde ab dem 15. November 1984 unter Anrechnung einer
Betriebszugehörigkeit seit dem 15. September 1981 bei der Beklagten und deren
Rechtsvorgängerin als Betriebsfachwerker beschäftigt. Zuletzt übte der Kläger bei
der Beklagten die Funktion eines Betriebsmeisters im A-Betrieb aus und verdiente
nach eigenen Angaben im Monat rund € 4.000,00 brutto.
Mit Schreiben vom 19. April 2005 (Bl. 43 d. A.) kündigte die Beklagte das
Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zunächst ordentlich zum 30. September 2005.
Mit weiterem Schreiben vom 27. Juni 2005 (Bl. 15 d. A.) kündigte die Beklagte das
Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wegen unentschuldigten Fehlens auch noch
einmal außerordentlich, fristlos und vorsorglich wiederum ordentlich zum 31.
Dezember 2005.
Am 29. Juli 2005 trat der Kläger eine voraussichtlich bis zum 23. April 2008
dauernde Haftstrafe an (Bl. 145 d. A.).
Bereits am 3. Mai 2005 hat der Kläger beim Amtsgericht Oldenburg in Holstein
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Bereits am 3. Mai 2005 hat der Kläger beim Amtsgericht Oldenburg in Holstein
unter dem Aktenzeichen 3 C 265/05 Kündigungsschutzklage gegen die zum 30.
September 2005 von der Beklagten ausgesprochene Kündigung erhoben. Mit dem
am 29. Juni 2005 eingegangenen Schriftsatz vom 28. Juni 2005 hat sich der Kläger
zudem gegen die Wirksamkeit der weiteren Kündigung der Beklagten vom 27. Juni
2005 gewandt. Bereits mit Beschluss vom 27. Juni 2005 (Bl. 19 und 20 d. A.) hat
das Amtsgericht Oldenburg in Holstein den Rechtsweg zu den ordentlichen
Gerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das örtlich und sachlich
zuständige Arbeitsgericht Frankfurt am Main verwiesen.
Gegen den im Termin zur Güteverhandlung nicht erschienenen Kläger hat das
Arbeitsgericht Frankfurt am Main mit am 23. September 2005 verkündeten
Versäumnisurteil - 10 Ca 6721/05 (Bl. 96 d. A.) - die Kündigungsschutzklage
abgewiesen. Das Versäumnisurteil wurde dem Kläger am 28. September 2005
unter der Anschrift ... in ... durch Einlegung des Schriftstücks in den zur Wohnung
gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Einrichtung zugestellt (Bl. 97 d. A.).
Am 25. November 2005 hat der Kläger gegen das Versäumnisurteil Einspruch
eingelegt und zugleich beantragt, ihm wegen der Versäumung der Einspruchsfrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er hat behauptet, weder die
Ladung zur Güteverhandlung noch das Versäumnisurteil erhalten zu haben. Erst
durch einen Anruf seines Prozessbevollmächtigten bei Gericht am 17. November
2005 habe er hiervon erfahren. Das Versäumnisurteil selbst sei dann seiner
Ehefrau nach deren Auszug am 1. September 2005 trotz Nachsendeantrag erst
im Dezember 2005 von dem Nachmieter ausgehändigt worden.
Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat ohne mündliche Verhandlung mit einem
am 31. Januar 2006 verkündeten Urteil - 10 Ca 6721/05 (Bl. 109 - 115 d. A.) - den
Einspruch des Klägers als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im
Wesentlichen ausgeführt, das Versäumnisurteil sei dem Kläger am 28. September
2005 noch unter seiner Wohnanschrift ... in ... wirksam zugestellt worden und sein
Einspruch hiergegen sei außerhalb der Wochenfrist des § 59 S. 1 ArbGG erfolgt.
Wiedereinsetzung sei dem Kläger nicht zu gewähren. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils
verwiesen. Wegen der Daten der Zustellung des Urteils an den Kläger, der
Berufungseinlegung und deren Begründung wird auf die Feststellungen im
Protokoll vom 15. Februar 2007 (Bl. 171 d. A.) verwiesen.
Der Kläger wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er ist
insbesondere der Ansicht, aufgrund seiner Inhaftierung sei eine Zustellung unter
seiner bisherigen Wohnanschrift unwirksam gewesen. Jedenfalls sei aufgrund seiner
Inhaftierung und der damit verbundenen Umstände seine fehlende Kenntnis von
der Zustellung des Versäumnisurteils unverschuldet gewesen.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10
Ca 6721/05 - aufzuheben und die Sache zur weiteren Verhandlung an das
Arbeitsgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen;
2. hilfsweise für den Fall des Unterliegens das Urteil des Arbeitsgerichts
Frankfurt am Main vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - abzuändern und nach
den Schlussanträgen erster Instanz zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien
gewechselten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main
vom 31. Januar 2006 - 10 Ca 6721/05 - ist gem. §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. c ArbGG
als Berufung in einem Rechtsstreit über die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses
statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht
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statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG; 519, 520 Abs. 1, 3 und 5
ZPO.
II.
In der Sache hat die Berufung Erfolg, weil sie bereits mit ihrem Hauptantrag
begründet ist. Zu Unrecht hat das Arbeitsgericht den Einspruch des Klägers vom
24. November 2005 gegen das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am
Main vom 23. September 2005 - 10 Ca 6721/05 - als unzulässig verworfen. Die
gesetzliche Einspruchsfrist von einer Woche hat der Kläger gewahrt, § 59 S. 1
ArbGG. Daher war das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar
2006 - 10 Ca 6721/05 - aufzuheben und die Sache auf Antrag des Klägers zur
weiteren Verhandlung an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen, § 538 Abs. 2 Nr. 2
ZPO.
1.Nach § 59 S. 1 ArbGG kann eine Partei gegen ein Versäumnisurteil, das gegen
sie ergangen ist, binnen einer Notfrist von einer Woche nach seiner Zustellung
Einspruch einlegen. Die einwöchige Einspruchsfrist beginnt mit der
ordnungsgemäßen Zustellung des Versäumnisurteils. Daran fehlt es hier. Nach
dem Antritt seiner mehrjährigen Haftstrafe ab dem 29. Juli 2005 bis voraussichtlich
23. April 2008 konnte das Versäumnisurteil dem Kläger unter seiner Wohnanschrift
... in ... nicht mehr durch Einlegen in den Briefkasten am 28. September 2005
gem. § 180 ZPO wirksam zugestellt werden. Nach überwiegender Ansicht (BFH,
Urt. v. 20. Oktober 1987 - VII R 19/87 - DB 1988, 378; OLG Hamm, Beschl. v. 11.
Februar 1977 - 14 W 78/76 - DGVZ 1978, 23; OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. Februar
1980 - 6 UF 137/79 - FamRZ 1980, 713; LG Hagen, Beschl. v. 12. November 1979 -
46 QS 251/79 - NJW 1980, 1703; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, § 178
ZPO Rn 5 “Haft”; MünchKommZPO-v.Feldmann, § 181 ZPO Rn 4; Stein/Jonas/Roth,
22. Aufl., § 178 ZPO Rn 10) hebt der Antritt einer mehrmonatigen Strafhaft die
Wohnungseigenschaft auf, selbst wenn der Zustellungsempfänger noch guten
Kontakt zu seiner Ehefrau unterhält. Auch ob daneben äußerlich noch der
Anschein einer Wohnung des Inhaftierten fortbesteht, kann ebenfalls dahinstehen.
Allein die lange Abwesenheit infolge der Strafhaft führt dazu, dass die Eigenschaft
der Heimatadresse als Wohnung im Sinne der §§ 178 ff. ZPO aufgehoben wird. Ob
eine andere Beurteilung dann geboten sein kann, wenn dem Inhaftierten über
Angehörige (z. B. die Ehefrau) noch Bindungen zur Wohnung bleiben (BGH, Urt. v.
24. November 1977 - III ZR 1/76 - NJW 1978, 1858; LAG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 26.
November 1997 - 4 Ta 203/209/97 - MDR 1998, 924, 925; Hüßtege, in:
Thomas/Putzo, 27. Aufl., § 178 Rn 7; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 26. Aufl., § 178
Rn 6), muss nach Auffassung des Berufungsgerichts im Streitfall nicht entschieden
werden. Dies kann jedenfalls dann nicht (mehr) gelten, wenn die Inhaftierung, wie
im Fall des Klägers, für voraussichtlich fast drei Jahre erfolgt. Da maßgeblich die
von vornherein absehbare gesamte Dauer des Zwangsaufenthalts in der
Haftanstalt ist (Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 178 ZPO Rn 10), verliert angesichts
einer so langen Zeitdauer der Inhaftierte seine bisherige Wohnung. Es ist dann in
der Regel nicht mehr gewährleistet, dass er während der Dauer seiner
mehrjährigen Inhaftierung überhaupt oder zumindest zeitnah Kenntnis von dem
zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder
Rechtsverfolgung darauf einrichten kann (BGH, Urt. v. 24. November 1977 - III ZR
1/76 - NJW 1978, 1858). Die Sicherstellung und Verwirklichung des rechtlichen
Gehörs, die auch durch die Vorschriften über die Zustellung gewährleistet werden
soll, begegnet bei einer derartigen Zwangsabwesenheit durchgreifenden
Bedenken, Art. 103 Abs. 1 GG. Vorliegend sind auch keine Anhaltspunkte
ersichtlich, warum aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls trotz
mehrjähriger Inhaftierung gleichwohl von einer wirksamen Ersatzzustellung des
Versäumnisurteils unter der Wohnanschrift des Kläger auszugehen sein könnte, §
180 ZPO.
Demnach hat der Kläger mit seinem Einspruch vom 24. November 2005 gegen
das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. September
2005 - 10 Ca 6721/05 - die einwöchige Einspruchsfrist des § 59 Satz 1 ArbGG
gewahrt. Über den gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung hat das
Berufungsgericht deshalb nicht entscheiden müssen.
2.Nach § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO darf das Berufungsgericht die Sache, soweit ihre
weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils
und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, wenn
durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen ist und eine
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durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen ist und eine
Partei die Zurückweisung beantragt.
a) Zunächst findet die Vorschrift des § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auch im
Berufungsverfahren vor den Landesarbeitsgerichten trotz § 68 ArbGG Anwendung,
wonach die Zurückverweisung wegen eines Mangels im Verfahren des
Arbeitsgerichts unzulässig ist (BCF/Friedrich, ArbGG, 4. Aufl., § 68 Rn 3; ErfK/Koch,
6. Aufl., § 68 ArbGG Rn 4; Germelmann/Matthes/Prütting/ Müller-Glöge, ArbGG, 5.
Aufl., § 68 Rn 8).
b) Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gem. § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
liegen vor. Durch das angefochtene Urteil ist der Einspruch des Klägers vom 24.
November 2005 gegen das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am
Main vom 23. September 2005 - 10 Ca 6721/05 - als unzulässig verworfen. Auch
hat der Kläger die Zurückverweisung beantragt. Ein solcher Antrag muss nicht
bereits in der Berufungsbegründung gestellt werden, sondern er kann noch nach
Ablauf der Berufungsbegründungsfrist in der Berufungsverhandlung nachgeholt
werden (OLG Saarbrücken, Urt. vom 19. Februar 2003 - 1 U 653/02 - 155 - NJW-RR
2003, 573, 574, unter B.I). Die weitere Verhandlung der Sache ist schließlich
erforderlich, da eine materielle Überprüfung in erster Instanz noch überhaupt nicht
stattgefunden hat (Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 5. Aufl., §
68 Rn 11). Entscheidungsreife liegt außerdem auch nicht vor, so dass weder der
arbeitsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 S. 1 ArbGG) noch die
Prozessökonomie dafür sprechen, dass das Berufungsgericht in der Sache selbst
abschließend entscheidet.
In diesem Zusammenhang bestand auch keine gesetzlich begründete
Veranlassung, der Beklagten über die mündlichen Erörterungen in der
Berufungsverhandlung hinaus den von ihr beantragten Schriftsatznachlass zu
gewähren.
3.Da der Kläger mit seinem Hauptantrag obsiegt, hat das Berufungsgericht über
den Hilfsantrag des Klägers nicht entscheiden müssen.
III.
Die Kostenentscheidung bleibt aufgrund der Zurückverweisung dem Arbeitsgericht
vorbehalten (Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 26. Aufl., § 538 Rn 58). Eine Anordnung
des Berufungsgerichts über die Nichterhebung von Kosten wegen unrichtiger
Sachbehandlung gem. § 21 Abs. 1 S. 1 GKG scheidet dabei aus. Die
Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor. Es geht nicht um eine fehlerhafte
Handlungsweise des Arbeitsgerichts, sondern um eine unterschiedliche
Rechtsauffassung zu der Frage, unter welchen Umständen die bisherige Wohnung
bei längerer Abwesenheit wegen Inhaftierung die Eigenschaft einer Wohnung im
Sinne des §§ 178 ff. ZPO verliert.
Für die Zulassung der Revision ist kein gesetzlicher Grund ersichtlich, § 72 Abs. 2
ArbGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.