Urteil des LAG Hamm vom 10.06.2005

LArbG Hamm: verhältniswahl, betriebsrat, minderheitenschutz, arbeitsgericht, aufteilung, wahlvorschlag, zusammenarbeit, wiese, beratung, sicherstellung

Landesarbeitsgericht Hamm, 13 TaBV 26/05
Datum:
10.06.2005
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 TaBV 26/05
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Bochum, 1 BV 31/04
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 7 ABR 45/05 Beschwerde aufgehoben, Antrag
zurückgewiesen21.06.2006
Schlagworte:
Wahl; Freistellung; Betriebsratsmitglied; freizustellendes
Betriebsratsmitglied; Verhältniswahl; Minderheit; Schutz;
Minderheitenschutz; Anfechung
Normen:
§ 3 BetrVG; § 19 BetrVG; § 38 BetrVG
Leitsätze:
Die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder hat bei zwei
Wahlvorschlägen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in einem
Wahlgang zu erfolgen.
Rechtskraft:
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen
Tenor:
Auf die Beschwerde des Betriebsratsmitglieds B1xxxxxxxx wird der
Beschluss des Arbeitsgerichts Bochum vom 26.11.2004 - 1 BV 31/04 –
abgeändert.
Die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 18.05.2004
wird für unwirksam erklärt
G r ü n d e:
1
A.
2
Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der Wahl der freizustellenden
Betriebsratsmitglieder.
3
Der Antragsteller B1xxxxxxxx ist Mitglied des am 13.05.2004 gewählten 27 köpfigen
Betriebsrates der D1xxxxxxx T1xxxxx AG – T3-C2x, T4xxxxxxxxx I1xxxxxxxxx W6xx,
der Beteiligten zu 20). Die Wahl fußt auf einem Zuordnungstarifvertrag für die D2xxxxxx
T1xxxxx AG vom 15.05.2003 (im folgenden kurz: ZuordnungsTV). Danach wurde im
Bereich der Region West unter anderem die Technische Infrastrukturniederlassung
B3xxxx als " Betrieb im Sinne des § 1 Betriebsverfassungsgesetz" eingestuft; sie war
hervorgegangen aus den ehemaligen drei Regionalniederlassungen B3xxxx, D6xxx
4
und S9xxxx.
§ 4 Abs. 2 ZuordnungsTV lautet:
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Der Betriebsrat kann nach vorheriger Beratung mit der Leitung der
Organisationseinheit durch Beschluss für seine freigestellten Mitglieder vom Sitz
des Betriebsrats abweichende Freistellungsorte festlegen. Dabei ist die
Funktionsfähigkeit der Geschäftsführung des Betriebsrats, die Zusammenarbeit mit
der Leitung der Organisationseinheit, die Zusammenarbeit mit den weiteren am
Standort eingerichteten Betriebsräten und der erforderliche Kontakt zu den
Beschäftigten zu gewährleisten.
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Nach der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats am 18.05.2004 fand unmittelbar
anschließend eine weitere Betriebsratssitzung statt. Die diesbezüglich erlassene
Tagesordnung lautet auszugsweise wie folgt:
7
TOP 5. Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder
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TOP 5.1. Beratung mit dem Arbeitgeber über die:
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TOP 5.1.1. Besetzung der Freistellungen
10
TOP 5.1.2. Sitz des Betriebsrates
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TOP 5.1.3. Weitere Geschäftsstellen des Betriebsrates
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TOP 5.2. Beschluss über die Anzahl der Freistellungen des Betriebsrates
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TOP 5.2.1. Beschluss über den Sitz des Betriebsrates
14
TOP 5.2.2. Beschluss über weitere Geschäftsstellen des Betriebsrates
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TOP 5.3. Wahl in die Freistellung des Betriebsrates
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TOP 5.3.1. Region 1 B3xxxx
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TOP 5.3.2. Region 2 D6xxx
18
TOP 5.3.3. Region 31 S9xxxx
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In der Sitzung beschloss der vollzählig versammelte Betriebsrat, seine Organisation
dem räumlichen Bereich der drei ehemaligen Regionalniederlassungen anzupassen.
So fand jeweils eine getrennte Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder für die
Regionen B3-xxxx, D6xxx und S9xxxx statt. Der jeweils einzige Wahlvorschlag für die
Bereiche B3xxxx und D6xxx mit 7 bzw. 5 Freistellungen wurde einstimmig
angenommen. Für die Region S9-xxxx mit ebenfalls 5 Freistellungen gab es zwei
Wahlvorschläge. Neben einer aus 5 Personen bestehenden Vorschlagsliste gab es eine
des antragstellenden Betriebsratsmitgliedes B1xxxxxxxx, mit der er sich selbst
vorschlug. Bei der anschließenden Wahl erhielt er drei Stimmen und wurde deshalb
nicht als freigestelltes Betriebsratsmitglied gewählt. Hinsichtlich des genauen Inhalts der
Sitzungsniederschrift wird verwiesen auf die mit Antragsschriftsatz vom 26.05.2004
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eingereichte Kopie (Bl. 14 ff. d. Akten).
Mit einem beim Arbeitsgericht am 27.05.2004 eingegangenen Antrag hat der Beteiligte
B1xxxxxxxx sich gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl gewandt. Er hat die Auffassung
vertreten, die Wahl sei insgesamt unwirksam, weil sie in einem einheitlichen Wahlgang
hätte erfolgen müssen. Durch einen "Trick" sei es erreicht worden, dass sämtliche der
Gewerkschaft ver.di angehörenden Betriebsratsmitglieder freigestellt worden seien.
Damit habe man gegen den Minderheitenschutz verstoßen.
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Der Beteiligte B1xxxxxxxx hat beantragt,
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die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 18.05.2004 für
unwirksam zu erklären.
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Der Betriebsrat hat beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Er hat die Meinung vertreten, der Antrag sei rechtsmissbräuchlich, weil das
Betriebsratsmitglied B1xxxxxxxx selbst an der Arbeitsorganisation durch eine Aufteilung
in drei Regionen mitgewirkt habe. Es sei notwendig gewesen, bereits die Wahl der
freizustellenden Betriebsratsmitglieder an der notwendigen regionalen Betreuung
auszurichten.
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Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 26.11.2004 den Wahlanfechtungsantrag als
ungegründet angesehen. Im Wesentlichen hat es ausgeführt, das Gesetz schließe bei
der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder mehrere Wahlgänge nicht aus.
Dies gelte insbesondere dann, wenn – wie hier – die besondere Betriebssituation eine
Aufteilung der Freigestellten in verschiedene Regionen sinnvoll erscheinen lasse. Der
Überzeugung seien auch alle 27 Betriebsratsmitglieder gewesen, als sie am 18.05.2004
einstimmig beschlossen hätten, sich in drei Regionen zu organisieren und die
Freistellungen entsprechend aufzuteilen. Der Minderheitenschutz sei durch die
durchgeführte Verhältniswahl voll und ganz gewährleistet worden.
27
Gegen diesen ihm am 10.01.2005 zugestellten Beschluss hat das Betriebsratsmitglied
B1xxxxxxxx am 10.02.2005 Beschwerde eingelegt und diese am 25.02.2005 begründet.
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Es weist darauf hin, dass man in der Betriebsratssitzung am 18.05.2004 keinen
Beschluss über die Abweichung von einem einheitlichen Wahlgang gefasst habe.
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Im Übrigen gehe das Gesetz davon aus, dass alle Freistellungen für den jeweiligen
Betrieb in einem einheitlichen Wahlgang zu erfolgen hätten. Namentlich bei der
Verhältniswahl sei es zur Gewährleistung des gesetzlichen Minderheitenschutzes
unzulässig, getrennte Wahlgänge durchzuführen. Vorliegend hätte man deshalb
zunächst über die Freistellungen entscheiden müssen, bevor man sodann die
Freistellungsorte bestimmt hätte. Bei einer einheitlichen Wahl sei er, B1xxxxxxxx, nach
dem d`Hondtschen Höchstzahlenwahlsystem gewählt worden.
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Der Beteiligte B1xxxxxxxx beantragt,
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den Beschluss des Arbeitsgerichts Bochum vom 26.11.2004 – 1 BV 31/04 -
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abzuändern und die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom
18.05.2004 für unwirksam zu erklären.
Der Betriebsrat beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Er und die anderen beteiligten Betriebsratsmitglieder sind der Auffassung, das Gesetz
enthalte nicht die Vorgabe eines einheitlichen Wahlganges. Gemäß TOP 4 der Sitzung
am 18.05.2004 habe man einstimmig über die Abweichung von einem einheitlichen
Wahlgang entschieden. Zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Betriebsrats sei
es sinnvoll gewesen, schon bei der Wahl der Freistellungen eine Aufteilung nach
Regionen vorzusehen.
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B.
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Die Beschwerde des Betriebsratsmitglieds B1xxxxxxxx ist begründet. Die am
18.05.2004 erfolgte Wahl der insgesamt 17 freizustellenden Betriebsratsmitglieder war
für unwirksam zu erklären.
37
I.
38
In entsprechender Anwendung des § 19 BetrVG kann die Wahl freizustellender
Betriebsratsmitglieder innerhalb der in § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG vorgesehenen Frist von
2 Wochen (auch) durch ein einzelnes Betriebsratsmitglied angefochten werden, wenn
gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen wurde (BAG AP Nr. 8 zu § 25 BetrVG
1972; AP Nr. 11 zu § 38 BetrVG 1972; AP Nr. 10 zu § 26 BetrVG 1972; Fitting, BetrVG,
22. Aufl., § 38 Rdnr. 105 f.).
39
Den Voraussetzungen hat der Beteiligte B1xxxxxxxx durch seinen neun Tage nach der
Betriebsratssitzung beim Arbeitsgericht am 27.05.2005 eingereichten Antrag Rechnung
getragen.
40
II.
41
Alle 17 freigestellten Betriebsratsmitglieder waren gemäß § 83 Abs. 3 ArbGG am
Verfahren zu beteiligen. Denn bei einer erfolgreichen Wahlanfechtung laufen sie Gefahr,
nicht wieder freigestellt und damit in ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Stellung
betroffen zu werden (vgl. BAG AP Nr. 1 und Nr. 10 zu § 26 BetrVG).
42
III.
43
Die Wahl vom 18.05.2004 ist unwirksam, weil gegen wesentliche Vorschriften über das
Wahlverfahren verstoßen wurde (§ 19 Abs. 1 BetrVG analog).
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Nach § 38 Abs. 2 S. 1 BetrVG hat die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder
im Regelfall nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu erfolgen. Nur wenn es
lediglich einen Wahlvorschlag gibt, ist ausnahmsweise eine Mehrheitswahl
vorzunehmen (§ 38 Abs. 2 S. 2 BetrVG), die in Form eines Wahlganges oder von
getrennten Wahlgängen durchgeführt werden kann (Fitting, a.a.O.; § 38 Rdnr. 44).
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1. In dem Zusammenhang ist vorauszuschicken, dass Freistellungen betriebsbezogen
vorgenommen werden, wie namentlich die Bezugnahme auf den Betriebsbegriff als
maßgebliche Organisationseinheit in § 38 Abs. 1 BetrVG zeigt.
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Vorliegend ist auf der Grundlage des § 3 BetrVG am 15.05.2003 ein ZuordnungsTV für
den Bereich der D1xxxxxxx T1xxxxx AG geschlossen worden, der verbindlich regelt,
dass die selbstständige Organisationseinheit Technische Infrastrukturniederlassung
(T5-NL) B3xxxx mit ihren Außenstellen einen Betrieb im Sinne des BetrVG bildet.
Dementsprechend wurde für den genannten Bereich am 13.05.2004 ein einheitlicher, 27
Mitglieder umfassender Betriebsrat gewählt.
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Haben damit die zuständigen Tarifvertragsparteien den gesetzgeberischen
Gesichtspunkten Rechnung getragen, die Bildung von Betriebsräten zu erleichtern
und/oder für eine sachgerechte Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen zu sorgen
(vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 a. E. BetrVG), ist an dieser Zielsetzung auch festzuhalten, wenn es
um die an eine
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Betriebsratsbildung anknüpfenden Maßnahmen wie die Freistellung von
Betriebsratsmitgliedern geht. Die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder hat
also auch betriebsbezogen zu erfolgen und darf nicht auf einzelne Teile begrenzt
werden, wie es vorliegend in Bezug auf die Regionen B3xxxx, D6xxx und S9xxxx
geschehen ist.
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2. Nach § 38 Abs. 2 S. 1 BetrVG hätten "die", also alle freizustellenden
Betriebsratsmitglieder bei zwei eingereichten Wahlvorschlägen nach den Grundsätzen
der Verhältniswahl in einem Wahlgang gewählt werden müssen (vgl. DKK/B6xx,
BetrVG, 9. Aufl., § 38 Rdnr. 42 a. E.; Fitting, a.a.O., § 38 Rdnr. 41; GK-
BetrVG/Wiese/Weber, Bd. I, 7. Aufl., § 38 Rdnr. 49 mit Verweis u.a. auf § 27 Rdnr. 19).
Nur so wäre dem gesetzgeberischen Willen, auch bei
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Freistellungen den Minderheitenschutz in Gestalt mehrerer (kleiner) Wahllisten stärker
zu berücksichtigen, ausreichend Rechnung getragen worden; die Arbeitnehmer einer
Minderheitengruppe haben nämlich ein erhebliches Interesse daran, auch unter den
freigestellten Betriebsratsmitgliedern eine Person ihres Vertrauens zu finden (BT-
Drucksache 11/2503, S. 24; BAG AP Nr. 8 zu § 25 BetrVG 1972; AP Nr. 15 zu § 38
BetrVG 1972).
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Bei Durchführung einer Verhältniswahl wäre in Anlehnung an die Regelungen in § 5
und § 15 WO das d´Hondtsche Höchstzahlensystem zur Anwendung gekommen (BAG
AP Nr. 11 zu § 38 BetrVG 1972; Fitting, a.a.O., § 38 Rdnr. 42) – mit der Folge, dass auf
den zweiten Wahlvorschlag "U1xxxx B1xxxxxxxx", der bei der nur auf die Region
S9xxxx bezogenen Wahl drei Stimmen erhalten hatte, (mit sehr großer
Wahrscheinlichkeit) auch eine Freistellung entfallen wäre. Nur damit wäre auch dem
Minderheitenschutz, wie er in § 38 Abs. 2 S. 6 BetrVG ausdrücklich erwähnt wird,
Genüge getan worden.
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3. Den vom Betriebsrat vorgebrachten Gesichtspunkten, durch getrennte Wahlen habe
man die notwendige regionale Betreuung und die Funktionsfähigkeit des Betriebsrats
sicherstellen wollen, hätte man durch die in § 4 Abs. 2 ZuordnungsTV vorgesehene
Möglichkeit, abweichende Freistellungsorte festzulegen, um unter anderem den
erforderlichen Kontakt zu den Beschäftigten zu gewährleisten, gebührend Rechnung
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trägen können.
Im Übrigen ist es, wie die Bestimmung des § 38 Abs. 1 S. 5 BetrVG zeigt, nur möglich,
hinsichtlich der Anzahl und des Umfangs der Freistellungen vom Gesetz abweichende
Vereinbarungen in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung zu treffen.
Demgegenüber ist das Verfahren zur Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder
nach
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§ 38 Abs. 2 S. 1 BetrVG von Gesetzes wegen einer Änderung nicht zugänglich
(DKK/Berg, a.a.O., § 38 Rdnr. 29; ErfK/Eisemann, 5. Aufl., § 38 BetrVG Rdnr. 5; Fitting,
a.a.O., § 38 Rdnr. 29; GK-BetrVG/Wiese/ Weber, a.a.O., § 38 Rdnr. 41).
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Vor dem Hintergrund ist die am 18.05.2004 durchgeführte Wahl unwirksam.
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Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 92 Abs. 1 S. 1, S. 2 ArbGG i. V. m. § 72 Abs.2 Nr.
1 ArbGG zuzulassen, weil die entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzliche
Bedeutung hat.
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Dr. Müller Sprenger Hofmann
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