Urteil des LAG Hamm vom 25.01.2007

LArbG Hamm: kündigung, chefarzt, behandelnder arzt, abmahnung, verletzung arbeitsvertraglicher pflichten, unterzeichnung, richterliche beurteilung, ambulante behandlung, oberarzt, arbeitsgericht

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 1561/06
Datum:
25.01.2007
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 1561/06
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Siegen, 3 Ca 513/06 O
Schlagworte:
Kündigung / verhaltensbedingte Gründe / Krankenhaus / Oberarzt /
Treuepflicht / Interessenwahrungspflicht / Rücksichtnahme /
Rufschädigung
Normen:
KSchG § 1
Leitsätze:
1. Zur Reichweite der arbeitsvertraglichen Verpflichtung zur
Interessenwahrung und Rücksichtnahme, wenn der Oberarzt einer
psychiatrischen Klinik einen vormals stationär aufgenommenen und
aufgrund eines von der Klink erstellten Fachgutachtens gerichtlich der
Betreuung nach § 1896 BGB unterstellten Patienten ambulant
weiterbehandelt und sich im Zuge eines Gesprächs mit dem
zuständigen Richter über die weitere Erforderlichkeit der Betreuung
abwertend über das von Kollegen erstellte Gutachten äußert.
2. Zur Reichweite derselben Vertragspflicht, wenn der Oberarzt ein von
einem Kollegen erstelltes Gutachten, welches die Anordnung einer
Betreuung befürwortet, ungelesen mitunterzeichnet hat, und, weil er den
Standpunkt des Gutachtens nicht teilt, anschließend bei Gericht
vorstellig wird mit der Erklärung, er sei bei der Unterzeichnung "ein
bisschen gelinkt worden".
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen
vom 01.08.2006 - 3 Ca 513/06 - wird auf Kosten der Beklagten
zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Mit seiner Klage wendet sich der im Jahre 1949 geborene und gegenüber seiner
geschiedenen Ehefrau sowie zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger, welcher
seit dem Jahre 1992 in der von der beklagten gemeinnützigen Gesellschaft betriebenen
2
seit dem Jahre 1992 in der von der beklagten gemeinnützigen Gesellschaft betriebenen
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik als Psychotherapeut und
stellvertretender Chefarzt tätig ist, gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses
durch ordentliche, arbeitgeberseitige Kündigungen vom 31.03.2006 und 26.04.2006.
Die angegriffenen Kündigungen stützt die Beklagte – kurz zusammengefasst – auf den
Vorwurf illoyalen Verhaltens. Tatsächlich habe der Kläger durch abwertende
Äußerungen gegenüber dem mit Betreuungssachen befassten Amtsgericht den Ruf des
Krankenhauses und der dort tätigen Ärzte nachhaltig gefährdet und die ohnehin
angespannte Vertrauensbeziehung zum Chefarzt endgültig zerstört. So habe der Kläger
in der Angelegenheit der vormaligen Krankhauspatientin M4xxxx in einem Telefonat mit
dem Amtsrichter S2xxxxxxxx zum Ausdruck gebracht, das seinerzeit von den Ärzten Dr.
T1xxxxxx und dem Chefarzt Dr. W2xxx unterzeichnete Gutachten über das Vorliegen
eines Betreuungsbedarfs "sei nicht ernst zu nehmen". Weiter habe der Kläger in der
Betreuungsangelegenheit der Patientin D3xxxxxx in einem Telefonat mit der
Justizangestellten F3xxxxx erklärt, er habe zwar das (von der Assistenzärztin K4xxx
erstellte und vom Chefarzt Dr. W2xxx mitverantwortete) Gutachten über eine
Betreuungsnotwendigkeit unterzeichnet, hierbei sei er jedoch "gelinkt" worden. Auf der
Grundlage des ihm vorgelegten Aktenvermerks über den Inhalt des Telefonats habe der
zuständige Amtsrichter S2xxxxxxxx den Chefarzt Dr. W2xxx entsprechend informiert und
sich über die Äußerungen des Klägers irritiert gezeigt. Verständlicherweise habe das
Verhalten des Klägers im Hause der Beklagten erhebliche Unruhe verursacht, eine
weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Kläger als Oberarzt einerseits
und dem Chefarzt Dr. W2xxx sowie den weiteren ärztlichen Mitarbeitern andererseits sei
danach ausgeschlossen. Darüber hinaus sei durch das Verhalten des Klägers die
gesamte Abteilung des Krankenhauses im Verhältnis zum Gericht in Misskredit gebracht
worden. Durch die Äußerung des Klägers sei der Eindruck entstanden, die für das
Gericht erstellten Gutachten seien fehlerhaft und für die richterliche Beurteilung nicht
brauchbar.
3
Demgegenüber hat der Kläger zu den erhobenen Vorwürfen erwidert, Anlass für seinen
Anruf beim Amtsrichter S2xxxxxxxx in der Angelegenheit der Patientin M4xxxx sei der
Umstand gewesen, dass er die betreffende Patientin nach ihrer Entlassung aus dem
Krankenhaus weiter ambulant behandelt habe. Auf entsprechende Fragestellung des
sozialpsychiatrischen Dienstes A1xxxxxxx habe er bei Gericht Rückfrage gehalten, ob
tatsächlich weiterhin an der angeordneten Betreuung in Vermögensangelegenheiten
festgehalten werden müsse, ohne dass es jedoch zu der behaupteten abfälligen
Äußerung gekommen sei. Auch soweit es das Telefongespräch mit der
Justizangestellten F3xxxxx in der Angelegenheit der Patientin D3xxxxxx betreffe, könne
ihm aus seiner Vorgehensweise kein Vorwurf gemacht werden. Richtig sei zwar, dass
die Ärztin Dr. K4xxx ein die Betreuungsanordnung befürwortendes Gutachten erstellt
habe, welches er – der Kläger – in der Eile unterzeichnet habe, ohne zuvor vom Inhalt
Kenntnis zu nehmen. Da im Kollegenkreis letztlich Übereinstimmung erzielt worden sei,
dass die Voraussetzungen für eine Betreuung nicht gegeben seien, habe er es
übernommen, Kontakt mit dem Gericht aufzunehmen und auf eine Richtigstellung
hinzuwirken. Dass er hierbei die Worte gebraucht habe, er sei "hereingelegt" bzw.
"hintergangen" worden, müsse bestritten werden. Sämtliche erhobenen Vorwürfe seien
damit unbegründet.
4
Im Übrigen hält der Kläger die ausgesprochenen Kündigungen auch unter
Berücksichtigung der Vorschriften des Schwerbehindertenrechts für unwirksam. Hierzu
verweist er auf die Tatsache, dass er bereits unter dem 18.10.2004 einen
5
Verschlimmerungsantrag gestellt hatte, worauf durch Bescheid vom 10.05.2006
rückwirkend ab Antragstellung der Grad der Behinderung in Höhe von 50 festgestellt
wurde. Damit sei die Kündigung vom 31.03.2006 ohnehin unwirksam. Entsprechendes
gelte auch für die Folgekündigung vom 26.04.2006. Im Hinblick auf das laufende
Anerkennungsverfahren hatte die Beklagte hierzu unter dem 23.03.2006 vorsorglich die
behördliche Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses beantragt. Über
diesen Antrag entschied das Integrationsamt unter dem 31.03.2006 durch Negativattest
mit der Begründung, im Entscheidungszeitpunkt sei der Kläger noch nicht als
schwerbehinderter Mensch anerkannt. Nach Eingang des Bescheides und erneuter
Zustimmung der Mitarbeitervertretung sprach die Beklagte die weitere Kündigung vom
26.04.2006 aus.
Durch Urteil vom 01.08.2006 (Bl. 155 ff. d.A.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht
antragsgemäß festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende
Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung der Beklagten vom 31.03.2006 noch durch
die Kündigung vom 26.04.2006 beendet worden ist. Zur Begründung ist im
Wesentlichen ausgeführt worden, zwar habe der Kläger in der
Betreuungsangelegenheit M4xxxx seine arbeitsvertraglichen Pflichten dadurch verletzt,
dass er ohne Rücksprache mit seinem Vorgesetzten Dr. W2xxx Kontakt zum Amtsrichter
S2xxxxxxxx aufgenommen habe. Auch wenn der Kläger aufgrund eigener Sachkunde
zu der Auffassung gelangt sei, dass ein Bedürfnis für die Anordnung einer Betreuung
nicht oder nicht mehr gegeben sei, habe er bei seiner Vorgehensweise Rücksicht auf
die Notwendigkeit nehmen müssen, im Verhältnis zu dem mit
Betreuungsangelegenheiten befassten Gericht ein geschlossenes und einheitliches Bild
der Klinik nach außen zu vermitteln. Schon das eigenmächtige Vorgehen des Klägers
müsse unter diesen Umständen als pflichtwidrig angesehen werden. Sofern der Kläger
tatsächlich geäußert haben sollte, das betreffende Gutachten sei nicht ernst zu nehmen,
verleihe dies der Pflichtverletzung gegebenenfalls zusätzliches Gewicht, ohne
andererseits – auch im Zusammenwirken mit dem weiteren Kündigungsvorwurf – eine
Kündigung ohne vorangehende Abmahnung rechtfertigen zu können. Entsprechendes
gelte für das Telefonat zwischen dem Kläger und der Justizangestellten F3xxxxx in der
Betreuungsangelegenheit D3xxxxxx. Auch wenn zu Gunsten der Beklagten als wahr
unterstellt werde, dass der Kläger – abweichend von seinem Vorbringen – eigenmächtig
Kontakt mit dem Gericht aufgenommen und hierbei – wie die Beklagte behauptet –
geäußert habe. er sei von seiner Kollegin "gelinkt" worden, liege hierin allein eine
erneute Pflichtverletzung mit zusätzlichem Gewicht. Das Fehlverhalten des Klägers
wiege indessen nicht so schwer, das vom Erfordernis einer einschlägigen Abmahnung
abgesehen werden könne. Ersichtlich habe der Kläger das Wohl seiner Patienten vor
Augen gehabt, für welche sich die Anordnung einer Betreuung als
freiheitsbeschränkende Maßnahme darstelle, die nicht ohne Grund vom
Vormundschaftsgericht angeordnet werden könne. Wenn der Kläger in den
Betreuungsangelegenheiten M4xxxx und D3xxxxxx aus vertretbaren Gründen zu der
Überzeugung gelangt sei, dass eine Betreuung nicht erforderlich sei, habe er damit im
Interesse seiner Patienten gehandelt. Dann erscheine es aber als überzogene
Schlussfolgerung, von einer nicht mehr wieder gut zu machenden Erschütterung der
Vertrauensbeziehung auszugehen.
6
Mit seiner rechtzeitig eingelegt und begründeten Berufung wendet sich die Beklagte
unter Wiederholung und Vertiefung des erstinstanzlichen Vorbringens gegen den
Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils, die vom Arbeitsgericht gewürdigten Vorfälle
7
stünden der weiteren Zusammenarbeit der Parteien nicht entgegen. Tatsächlich sei es
dem Kläger bei seinen Telefonaten mit dem Amtsrichter S2xxxxxxxx nicht um das Wohl
seiner Patienten gegangen, vielmehr habe sich der Kläger mit seiner Vorgehensweise
Rechte angemaßt, welche ihm nicht zustünden. Ersichtlich habe der Kläger erneut eine
Konfrontation mit dem Chefarzt Dr. W2xxx gesucht. In Anbetracht der Tatsache, dass der
Kläger mit dem Fall der Patientin M4xxxx im Zeitpunkt der stationären Behandlung gar
nicht befasst gewesen sei, sondern erst nachträglich die ambulante Behandlung der
Patientin übernommen habe, stehe es dem Kläger nicht zu, das seinerzeit erstellte
Gutachten als unrichtig bzw. "nicht ernst zu nehmen" abzuqualifizieren. Soweit sich der
Gesundheitszustand der Patientin M4xxxx tatsächlich geändert habe und aus diesem
Grunde eine neue gutachterliche Stellungnahme erforderlich geworden sei, sei es die
Pflicht des Klägers gewesen, dies mit seinem Kollegen Dr. T1xxxxxx und dem Chefarzt
Dr. W2xxx zu erörtern. Demgegenüber werde durch die Vorgehensweise des Klägers
die fachliche Autorität und das Ansehen des Krankenhauses insgesamt beeinträchtigt.
Im Falle der Patientin D3xxxxxx habe der Kläger mit seiner Äußerung, er sei von seiner
Kollegin Frau K4xxx "gelinkt" worden, den Eindruck erweckt, diese habe ihn durch
vorsätzliche Irreführung zur Unterzeichnung des Gutachtens veranlasst. Als Oberarzt in
verantwortlicher Position müsse der Kläger aber wissen, dass eine solche Äußerung
gegenüber einer Behörde oder einem Gericht zwangsläufig zu der Frage führten,
welche Zustände in der psychiatrischen Klinik der Beklagten herrschten und was man
zukünftig von Gutachten aus dieser Klinik zu halten habe. Ein solches Verhalten sei
unverzeihlich und stelle einen so erheblichen Vertrauensbruch dar, dass allein durch
eine Abmahnung die zerstörte Vertrauensbeziehung nicht wieder hergestellt werden
könne. Bereits in der Vergangenheit habe er Kläger es wiederholt unternommen, gegen
den Chefarzt und dessen ebenfalls als Oberärztin im Krankenhaus tätige Ehefrau zu
opponieren und diese in Misskredit zu bringen, indem etwa der Umfang der in Anspruch
genommenen Bereitschaftsdienste hinterfragt worden sei. Auch das Verhalten des
Klägers nach Ausspruch der Kündigung belege ausweislich der vorgelegten
Telefonnotizen die mangelnde Fähigkeit des Klägers, sein Verhalten zu steuern.
8
Die Beklagte beantragt,
9
das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 01.08.2006 abzuändern und
die Klage abzuweisen.
10
Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
12
Er verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung in der Sache als zutreffend und tritt
insbesondere dem Standpunkt bei, unter den vorliegenden Umständen habe dem
Kläger zunächst eine Abmahnung erteilt werden müssen.
13
Im Übrigen scheiterten die ausgesprochene Kündigungen auch schon an den
Vorschriften des Schwerbehindertenrechts. Dies gelte zunächst für die Kündigung vom
31.03.2006, welche die Beklagte – trotz Kenntnis vom Verschlimmerungsantrag des
Klägers – ohne Beteiligung des Integrationsamtes ausgesprochen habe. Richtig sei
zwar, dass der Bescheid über die Feststellung eines GdB von 50 erst nach Ausspruch
der Kündigung ergangen sei. Hierauf komme es indessen nicht an, maßgeblich sei
vielmehr die Rückwirkung des Bescheides zum 18.10.2004.
14
Auch die weitere Kündigung vom 26.04.2006 sei ersichtlich ohne Zustimmung des
Integrationsamtes ausgesprochen worden. Zwar habe das Integrationsamt ein sog.
Negativattest erteilt. Dieser Bescheid müsse indessen als offensichtlich rechtswidrig
und damit als nichtig angesehen werden, da die Voraussetzungen für den
Ausnahmetatbestand des § 90 Abs. 2 a SGB IX unzweifelhaft nicht erfüllt seien. Allein
die Tatsache, dass im Zeitpunkt des arbeitgeberseitigen Zustimmungsantrags das
weiträumig zuvor eingeleitete Anerkennungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei,
schließe – abweichend vom Standpunkt des Integrationsamtes – den gesetzlichen
Sonderkündigungsschutz nicht aus. Im Übrigen müsse davon ausgegangen werden,
dass der Beklagten im Zeitpunkt ihres Zustimmungsantrages vom 23.03.2006 bereits
der Umstand bekannt gewesen sei, dass das Versorgungsamt im
Anerkennungsverfahren bereits zuvor - unter dem 03.03.2006 - einen
Vergleichsvorschlag unterbreitet habe, nach welchem der GdB des Klägers 50 betrage.
Mit diesem Vergleichsvorschlag habe sich der Kläger bereits am 22.03.2006 telefonisch
einverstanden erklärt. Unter diesen Umständen könne sich die Beklagte auf das
ergangene Negativattest nicht berufen, gegen welches im übrigen nach erfolglosem
Widerspruch bereits Anfechtungsklage erhoben sei.
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Das Landesarbeitsgericht hat Beweis erhoben über die Behauptung der Beklagten zum
Inhalt des Telefonats zwischen dem Kläger und der Justizangestellten F3xxxxx durch
deren uneidliche Vernehmung. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
die Sitzungsniederschrift vom 25.01.2007 (Bl. 226 ff. d.A.) Bezug genommen.
16
Entscheidungsgründe
17
Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
18
I
19
Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung der
Beklagten vom 31.03.2006 nicht beendet worden. Die Wirksamkeit der Kündigung
scheitert bereits an den Vorschriften des Schwerbehindertenrechts.
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1. Unstreitig ist der Kläger – rückwirkend mit Wirkung vom zum 18.10.2004 – als
Schwerbehinderter anerkannt worden. Da der Anerkennungsbescheid allein
deklaratorische Bedeutung besitzt, stand dem Kläger objektiv im Zeitpunkt der
Kündigung der Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX zu.
21
2. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Ausnahmevorschrift des § 90 Abs. 2 a
SGB IX. Nach dieser Vorschrift finden zwar die Regeln über den
Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte unter den dort genannten
Voraussetzungen keine Anwendung. Die genannte Ausnahmevorschrift greift hier
jedoch nicht ein.
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Mit der neu in das Gesetz eingefügten Regelung soll der als missbräuchlich
angesehenen Praxis begegnet werden, dass ein Arbeitnehmer, welcher von der
Kündigungsabsicht des Arbeitgebers – etwa im Zuge der Betriebsratsanhörung –
Kenntnis erlangt hat, noch kurz vor Zugang der Kündigung beim Versorgungsamt einen
(möglicherweise aussichtslosen) Anerkennungs- oder Verschlimmerungsantrag stellt,
um so taktische Vorteile im Kündigungsschutzprozess zu erlangen. Dementsprechend
23
steht dem Arbeitnehmer nach der im Schrifttum wohl überwiegend vertretenen
Auffassung (vgl. die Nachweise bei KR-Etzel, 8. Aufl. 2007, §§ 85 – 90 SGB IX Rz 53 e;)
kein Sonderkündigungsschutz zu, wenn bei Zugang der Kündigung die in § 69 Abs. 1 S.
2 SGB IX in Bezug genommene Frist von drei bzw. sieben Wochen, binnen derer das
Versorgungsamt eine Entscheidung über den Anerkennungsantrag zu treffen hat, noch
nicht abgelaufen ist (A. A. LAG Düsseldorf, Urt. v. 29.03.2006 – 17 Sa 1321/05 – DB 06,
2244). Hat der Arbeitnehmer seinen Anerkennungs- oder Verschlimmerungsantrag
demgegenüber so rechtzeitig gestellt, dass das Versorgungsamt innerhalb der
genannten Fristen eine Entscheidung hätte treffen können, so steht dem Arbeitnehmer
der Sonderkündigungsschutz zu, wenn dem Antrag rückwirkend entsprochen wird (KR-
Etzel a. a. O. Rz 53 h). Die vom Arbeitnehmer und Antragsteller nicht zu vertretende
längere Dauer des Anerkennungsverfahrens rechtfertigt nach Gesetzeswortlauf und
Gesetzeszweck nicht den Verlust des Sonderkündigungsschutzes, welcher an den
objektiven Tatbestand der Behinderung mit einem GdB von mindestens 50 anknüpft und
nicht etwa – wie die Gleichstellung durch das Arbeitsamt – erst durch behördliche
Entscheidung zuerkannt wird.
Unstreitig hatte der Kläger seinen Verschlimmerungsantrag nicht erst zeitlich kurz vor
Ausspruch der Kündigung, sondern bereits lange Zeit zuvor – nämlich bereits am
18.10.2004 – gestellt. Aufgrund des rückwirkenden Bescheides des Versorgungsamtes
vom 10.05.2006 stand dem Kläger damit der Sonderkündigungsschutz für
Schwerbehinderte zu.
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3. Unstreitig war der Beklagten bei Ausspruch der Kündigung die Tatsache bekannt,
dass der Kläger einen entsprechenden Verschlimmerungsantrag gestellt hatte. Ein
Verlust des Sonderkündigungsschutzes infolge unterlassener oder verspäteter
Mitteilung an den Arbeitgeber scheidet danach aus.
25
4. Soweit die Beklagte vorsorglich beim Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung
beantragt und hierauf ein behördliches Negativattest erhalten hat, ist dies allein für die
nachfolgend ausgesprochene Kündigung vom 26.04.2006 von Belang. Das
Negativattest ist der Beklagten erst am 05.04.2006 – also nach Ausspruch und Zugang
der Kündigung vom 31.03.2006 – zugestellt worden.
26
II
27
Auch die vorsorglich ausgesprochene weitere Kündigung vom 26.04.2006 hat das
zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht beendet.
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1. Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Beklagte allerdings die Regeln des
Sonderkündigungsschutzes nach § 85 ff. SGB IX gewahrt. Auf den Zustimmungsantrag
der Beklagten hin ist ein behördliches Negativattest erteilt worden, welches rechtlich
einer behördlichen Zustimmung zur Kündigung gleichkommt.
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a) Den Bedenken des Klägers, dieses Negativattest sei offensichtlich rechtswidrig erteilt
worden und aus diesem Grunde nichtig, vermag die Kammer im Ergebnis nicht zu
folgen.
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Zwar bestehen in der Tat rechtliche Bedenken gegen den Standpunkt des
Integrationsamtes und des Widerspruchsausschusses, einer sachlichen Entscheidung
über den Zustimmungsantrag des Arbeitgebers bedürfe es nicht, wenn im
31
Entscheidungszeitpunkt die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht
nachgewiesen bzw. festgestellt sei (so auch KR-Etzel a. a. O. Rz 55 m. w. N.). Nicht
anders als nach altem Recht, nach welchem noch ein unmittelbar vor Ausspruch der
Kündigung gestellter Anerkennungsantrag geeignet war, den Sonderkündigungsschutz
nach den Vorschriften des SGB IX zu begründen, verbleibt es – wie vorstehend
ausgeführt worden ist - auch nach der Neufassung des Gesetzes gemäß § 90 Abs. 2 a
SGB IX und der hierin vorgesehenen Einschränkung des Sonderkündigungsschutzes
für die Fälle der verzögerten Antragstellung bei dem Grundsatz, dass die Rechtsstellung
des Schwerbehinderten an die objektive Tatsache der Behinderung anknüpft und eine
Ausnahme vom Sonderkündigungsschutz nur für den Fall der verspäteten
Antragstellung oder fehlender Mitwirkung des Antragstellers eingreift. Der Standpunkt
des Integrationsamtes, während eines laufenden Anerkennungsverfahrens sei für eine
sachliche Entscheidung über den Zustimmungsantrag des Arbeitgebers kein Raum, da
die Schwerbehinderteneigenschaft jedenfalls noch nicht nachgewiesen sei, entzieht
dem Schwerbehinderten damit – über die Reichweite der gesetzlichen Neuregelung
hinaus – den vorgesehenen Sonderkündigungsschutz, welcher durch das behördliche
Zustimmungsverfahren gewährleistet ist. Soweit im Widerspruchsbescheid hilfsweise
Ausführungen dazu enthalten sind, dass auf der Grundlage des vorliegenden
Sachverhalts ohnehin die Zustimmung zu erteilen gewesen wäre, mag dieser
Standpunkt in der Sache zutreffen, rechtfertigt es aber nicht, anstelle der beantragten
Zustimmung ohne Sachprüfung ein Negativattest zu erteilen. Dies gilt im Übrigen auch
im Interesse des Arbeitgebers. Sollte das ohne Sachprüfung ergangene Negativattest
aus den hier dargestellten Gründen im Rechtsmittelzuge aufgehoben werden, würde es
überhaupt an der erforderlichen behördlichen Zustimmung zur Kündigung fehlen. Auf
die Frage der sozialen Rechtfertigung der Kündigung käme es dann nicht mehr an.
b) Die vorstehend aufgeführten rechtlichen Bedenken gegen die Erteilung eines
Negativattestes in Fällen der vorliegenden Art genügen indessen nicht zur Annahme
einer Nichtigkeit des Bescheides. Die angesprochenen rechtlichen Mängel können nicht
als derart offenkundig angesehen werden, dass sich jedem Beurteiler die
Rechtswidrigkeit des Bescheides geradezu aufdrängt (so auch KR-Etzel a. a. O. Rz 58).
Dementsprechend muss es der Überprüfung im verwaltungsrechtlichen Verfahren
vorbehalten bleiben, inwiefern unter Berücksichtigung der Regelung des § 90 Abs. 2 a
SGB IX ein entsprechender Bescheid erteilt werden durfte.
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2. Die ausgesprochen Kündigung erweist sich aber als sozial ungerechtfertigt im Sinne
des § 1 Satz 2 KSchG.
33
Auch wenn man – abweichend vom Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils – den
Kündigungsvorwurf in der Sache D3xxxxxx für geeignet hält, eine verhaltensbedingten
Kündigung ohne vorangehende Abmahnung trotz der langjährigen
Betriebszugehörigkeit des Klägers zu rechtfertigen, hat die hierzu durchgeführte
Beweisaufnahme den Sachvortrag der Beklagten nicht in vollem Umfang bestätigt. Das
Verhalten des Klägers muss zwar in mehrfacher Hinsicht als pflichtwidrig angesehen
werden. Der entscheidende Vorwurf, der Kläger habe den Eindruck erweckt, er sei im
Zusammenhang mit der vertretungsweisen Unterzeichnung des Gutachtens in Sachen
D3xxxxxx vorsätzlich getäuscht worden, trifft nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
nicht zu. Allein die übrigen vertragswidrigen Verhaltensweisen des Klägers genügen
demgegenüber weder jeweils für sich allein genommen noch in ihrer Gesamtheit zur
Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung ohne vorangehende Abmahnung.
34
a) In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil ist das Verhalten des Klägers
im Fall der Patientin M4xxxx nicht geeignet, eine kündigungsrelevante Pflichtverletzung
zu begründen, welche ohne einschlägige Abmahnung die Beendigung des
Arbeitsverhältnisses rechtfertigt.
35
(1) Zutreffend hat das Arbeitsgericht hierzu ausgeführt, die dem Kläger zur Last gelegte -
und als wahr unterstellte - telefonische Äußerung gegenüber dem Richter S2xxxxxxxx,
das von Dr. T1xxxxxx und dem Chefarzt Dr. W2xxx verantwortete Gutachten "sei nicht
ernst zu nehmen" stelle einen erheblichen Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen
Pflichten dar.
36
Allerdings kann ein pflichtwidriges Handeln nicht schon darin gesehen werden, dass
der Kläger in dem fraglichen Telefonat zum Ausdruck gebracht hat, abweichend vom
Standpunkt des dem Gericht vorliegenden Gutachtens und der hierauf gestützten
gerichtlichen Entscheidung bestehe aus seiner ärztlichen Sicht gegenwärtig keine
Notwendigkeit einer Betreuungsverfügung. Das dem Gericht vorliegende Gutachten
knüpfte an eine Beurteilung der Patientin im Zeitpunkt der stationären Behandlung an,
welche am 10.08.2005 endete. In der Folgezeit wurde die Patientin sodann vom Kläger
ambulant behandelt. Dementsprechend betraf das fragliche Telefonat die Frage der
aktuellen Betreuungsbedürftigkeit der Patientin, wobei Anlass für das Tätigwerden des
Klägers die Anfrage des sozialpsychologischen Dienstes vom 25.10.2005 hinsichtlich
der Notwendigkeit der Betreuung war. Der Kläger ist danach nicht – wie die Beklagte
meint – aus eigener Initiative mit dem Ziel aktiv geworden, die Fachkompetenz der
übrigen am Krankenhaus tätigen Ärzte zu diskreditieren, vielmehr bestand durchaus ein
sachlicher Anlass, die Betreuungsbedürftigkeit der Patientin M4xxxx zu hinterfragen.
37
Soweit demgegenüber im arbeitsgerichtlichen Urteil der Standpunkt zum Ausdruck
kommt, der Kläger habe es vorrangig dem Chefarzt überlassen müssen, das von ihm –
dem Chefarzt - verantwortete Gutachten zu überprüfen und ggfls. gegenüber dem
Gericht tätig zu werden, wird dies nach Auffassung der Kammer der eigenständigen
Verantwortung des Klägers als ambulant behandelndem Arzt nicht gerecht. Zwar ist der
Kläger in seiner Funktion als angestellter Oberarzt gegenüber dem Krankenhaus als
Arbeitgeber nicht allein zur ordnungsgemäßen Arbeitsleistung, sondern – auf der
Grundlage arbeitsvertraglicher Nebenpflichten - auch zur Rücksichtnahme auf die
Interessen des Krankenhauses verpflichtet. Soweit also das Krankenhaus bzw. die dort
tätigen Ärzte mit der Erstellung von Gutachten für das Gericht in
Betreuungsangelegenheiten befasst sind, ergeben sich für den Kläger ohne weiteres
hierauf bezogene Interessenwahrungs- und Rücksichtnahmepflichten. Andererseits war
der Kläger – ersichtlich zulässigerweise – auch im Bereich der ambulanten Behandlung
von Patienten tätig. Hieraus ergab sich für ihn die Verpflichtung, sich im Rahmen der
übernommenen Behandlung in geeigneter Form für die Belange seiner Patienten
einzusetzen. Im Einzelfall konnte sich hierbei auch eine fachliche
Meinungsverschiedenheit zu einer gutachterlichen Beurteilung durch das Krankenhaus
ergeben. Die arbeitsvertragliche Nebenpflicht zur Rücksichtnahme auf die Belange des
Krankenhauses bzw. der dort mit Gutachten befassten Ärzte kann aber die persönliche
Verantwortung des Klägers als behandelnder Arzt nicht verdrängen. Dementsprechend
konnte im vorliegenden Zusammenhang vom Kläger allein gefordert werden, dass er bei
einer Kontaktaufnahme mit dem Gericht den Besonderheiten seiner Stellung als
Oberarzt des Krankenhauses und als ambulant behandelnder Arzt Rechnung zu tragen
hatte. Nicht hingegen kann aus der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht zur
Rücksichtnahme und Interessenwahrung abgeleitet werden, dass dem Kläger eine
38
eigenständige Kontaktaufnahme zum Gericht mit dem Ziel, eine Aufhebung der
Betreuungsverfügung zu erreichen, von vornherein verboten war. Auch aus der Sicht
des angesprochenen Richters war ohne Zweifel nachzuvollziehen, dass allein in einer
sachlichen Äußerung eines abweichenden fachlichen Standpunkts kein Angriff auf die
Fachkompetenz des Erstbeurteilers zu sehen ist. Das gilt unter den vorliegenden
Umständen um so mehr, als sich das von Herrn Dr. T1xxxxxx und dem Chefarzt Dr.
W2xxx erstellte Gutachten auf Erkenntnisse zum Zeitpunkt der stationären Behandlung
der Patientin M4xxxx bezog, wohingegen sich der Anruf des Kläges auf die aktuelle
Einschätzung des Betreuungsbedarfs bezog.
(2) Ein pflichtwidriges Handeln des Klägers kann danach nur darin gesehen werden,
dass sich der Kläger in diesem Zusammenhang – über eine zulässige Darstellung eines
sachlich abweichenden Standpunktes hinaus - abfällig über das dem Gericht
vorliegende Gutachten geäußert hat.
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In Anbetracht der Tatsache, dass es für die Frage der aktuellen Notwendigkeit einer
Betreuung ersichtlich gar nicht darauf ankam, ob die vorangehende Begutachtung aus
der Zeit des stationären Krankenhausaufenthaltes als zutreffend anzusehen war,
erschließt es sich nicht von selbst, aus welchem Grunde gleichwohl für die
Gesprächsbeteiligten Anlass bestand, sich über die Aussagekraft des früheren
Gutachtens zu äußern. Ohne nähere Kenntnis des vollständigen Gesprächsverlaufs ist
dementsprechend nicht nachvollziehen, wie es zu der – als wahr unterstellten –
Äußerung des Klägers gekommen ist, das betreffende Gutachten "sei nicht ernst zu
nehmen". Dass der Kläger völlig grundlos und ohne inneren Zusammenhang mit dem
aktuell vorgetragenen Anliegen das dem Gericht vorliegende Gutachten bzw. deren
Verfasser abqualifiziert hat, etwa um gezielt das Ansehen der Ärzte und des
Krankenhauses herabzuwürdigen, kann damit nicht zu Lasten des Klägers unterstellt
werden. Geht man demgegenüber von der nicht fernliegenden Möglichkeit aus, im Zuge
des Telefonats sei dem vom Kläger vorgetragenen Anliegen und seiner aktuellen
medizinischen Beurteilung der Einwand entgegengehalten worden, immerhin sei doch
im Rahmen des Betreuungsverfahrens ein Gutachten des Krankenhauses eingeholt
worden, über welches sich das Gericht nicht einfach hinwegsetzen könne, so zielte die
fragliche Äußerung des Klägers dem Zusammenhang nach darauf ab, die Bedeutung
des Gutachtens für die gewünschte aktuelle Beurteilung der Betreuungsbedürftigkeit zu
relativieren. Auch wenn die dem Kläger zur Last gelegte Äußerung damit einen groben
sprachlichen Missgriff und damit zugleich eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung
darstellt, wird immerhin doch deutlich, dass Ziel des Klägers nicht ein Angriff auf
Fachkompetenz und Ehre von Kollegen und Vorgesetzten war, sondern der Versuch,
die Bedeutung des dem Gericht vorliegenden Gutachtens für die – nach Ansicht des
Klägers – geänderte Sachlage zu relativieren. Allein der Umstand, dass der Kläger –
wie er betont - "im Interesse der Patientin" gehandelt hat, lässt zwar die Pflichtwidrigkeit
seines Handelns nicht entfallen, zumal die Wahrnehmung der Patienteninteressen in
keiner Weise abwertende Äußerungen über das vom Krankenhaus erstellte Gutachten
erforderte. Gleichwohl ist im Ergebnis dem Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils
beizutreten, dass der so umschriebenen Pflichtverletzung des Klägers jedenfalls für sich
genommen kein derart schweres Gewicht zukommt, dass allein aufgrund dieser – als
wahr unterstellten - Äußerung des Klägers im Falle M4xxxx der Ausspruch einer
Kündigung ohne vorangehende einschlägige Abmahnung als sozial gerechtfertigt
angesehen werden kann.
40
b) Soweit es den weiteren Vorwurf betrifft, der Kläger habe im Fall der Patientin
41
D3xxxxxx gegenüber der Justizangestellten F3xxxxx geäußert, er sei bei der
Unterzeichnung des für das Gericht bestimmten Gutachtens "gelinkt" worden, kommt
nach Auffassung der Kammer dieser Äußerung durchaus eine kündigungsrelevante
Bedeutung zu.
(1) Nach herkömmlichem Sprachverständnis wird mit einer solchen Äußerung nämlich
zum Ausdruck gebracht, man sei durch eine vorsätzliche Täuschung zu einem
bestimmten Verhalten veranlasst worden. Soweit also der Kläger mit seiner Äußerung
den Eindruck erweckt hat, ihm sei das fragliche Gutachten "untergeschoben" worden,
um ihn – den Kläger – zur Unterzeichnung in Unkenntnis der Tatsache zu veranlassen,
dass hiermit eine Betreuung der Patientin D3xxxxxx befürwortet wurde, obgleich er – der
Kläger – sich zuvor ausdrücklich dagegen ausgesprochen habe, läge hierin eine
schwere Anschuldigung im Sinne eines möglicherweise sogar strafrechtlich relevanten
Verhaltens. Da das Gutachten dem Zweck diente, eine gerichtliche Entscheidung
vorzubereiten, durch welche das Selbstbestimmungsrecht der Patientin in
Vermögensangelegenheiten eingeschränkt werden sollte, bedeutete das
"Unterschieben" des Gutachtens zugleich auch, dass dem Gericht eine unrichtige
Tatsachengrundlage vorgespiegelt und so die Gefahr begründet wurde, dass das
Gericht zu Unrecht die Voraussetzung einer Betreuung bejahte. Dass ein solcher, nach
außen getragener schwerwiegender Vorwurf geeignet war, das Ansehen des
Krankenhauses sowie der an der Erstellung des Gutachtens beteiligten Personen
nachhaltig zu beeinträchtigen, leuchtet unmittelbar ein. Anders als im Fall der Patientin
M4xxxx ging es nicht etwa um die Offenlegung abweichender fachlicher Standpunkte in
der Frage der Betreuungsbedürftigkeit und auch nicht allein um eine ungeschickte
Aufdeckung interner Organisationsmängel oder Verantwortungsdefizite in dem Sinne,
dass aufgrund von Missverständnissen o.ä. ein erstelltes Gutachten zurückgezogen
werden sollte. Der Vorwurf, er sei "gelinkt" worden, reicht damit über einen bloßen
sprachlichen Missgriff weit hinaus und ist damit nicht allein im Sinne eines
abmahnfähigen Pflichtenverstoßes zu würdigen. In Anbetracht der erkennbar
schädigenden Wirkung des - auch aus Sicht des Klägers unzutreffenden – Vorwurfs
einer bewussten Täuschung ist die dem Kläger zur Last gelegte Äußerung ohne
weiteres geeignet, auch ohne vorangehende Abmahnung eine Beendigung des
Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.
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Auch nach seinem eigenen Vorbringen ist der Kläger nicht etwa davon ausgegangen,
das von ihm – ungelesen – unterzeichnete Gutachten sei ihm in Kenntnis seines
fehlenden Einverständnisses vorgelegt worden. Zur Unterzeichnung des Gutachtens ist
es vielmehr gekommen, weil der Kläger im Sekretariat unter Hinweis auf die
Eilbedürftigkeit der Angelegenheit hierzu aufgefordert worden war und sodann in
Vertretung des Chefarztes seine Unterschrift leistete. Dass eine solche Vorgehensweise
mit der ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht in Einklang steht, bedarf keiner Vertiefung.
Hierauf ist nachfolgend weiter einzugehen. Im vorliegenden Zusammenhang ist
jedenfalls festzuhalten, dass auch nach der eigenen Darstellung des Klägers keine
Rede davon sein kann, er sei durch eine bewusste Täuschung zur Unterzeichnung des
Gutachtens veranlasst worden.
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(2) Die auf der Grundlage dieser rechtlichen Bewertung durchgeführte Beweisaufnahme
hat indessen die dem Kläger zur Last gelegte Äußerung nur mit Einschränkungen
bestätigt. Im Ergebnis wird hierdurch das Gewicht der Pflichtverletzung deutlich
abgemildert.
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Die als Zeugin vernommene Justizangestellte F3xxxxx hat zwar bestätigt, der Kläger
habe zur Erläuterung seines Wunsches, mit dem zuständigen Richter zu sprechen,
erklärt, er sei von der Assistenzärztin "ein bisschen gelinkt worden". Auf die Frage, wie
sie diese Äußerung verstanden habe, hat die Zeugin erklärt, der Kläger habe offenbar
das betreffende Gutachten unterzeichnet, ohne von seinem Inhalt Kenntnis genommen
zu haben.
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An der Richtigkeit der Darstellung der Zeugin hat die Kammer keinen Zweifel. Nach
ihrer Aussage hat die Zeugin nämlich den exakten Wortlaut seinerzeit in einem
Aktenvermerk festgehalten, und zwar deshalb, weil ihr die Äußerung als ungewöhnlich
erschien und sie sich zu einer Formulierung mit eigenen Worten außerstande sah.
Sowohl diese überlegte Vorgehensweise wie auch der persönliche Eindruck, den die
Kammer von der Zeugin bei ihrer Vernehmung gewonnen hat, sprechen dafür, dass sich
der Sachverhalt exakt so zugetragen hat, wie dies von der Zeugin berichtet worden ist.
Dementsprechend hat die Kammer auch keine Bedenken, die weitere Erklärung der
Zeugin zum Bedeutungsgehalt der Erklärung des Klägers als zutreffend anzusehen.
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Damit ergibt sich aber, dass der Kläger mit seiner – zweifellos zumindest mehrdeutigen
und missverständlichen – Äußerung, er sei "ein bisschen gelinkt worden", nach dem
Verständnis der Gesprächspartnerin nicht etwa die Behauptung aufgestellt hat, ihm sei
das Gutachten mit Täuschungsabsicht untergeschoben worden, für die Zeugin F3xxxxx
war vielmehr klar, dass der Kläger selbst – durch Unterzeichnung eines nicht gelesenen
Gutachtens – einen Fehler gemacht und mit dem zuständigen Richter hierüber ein
Gespräch führen wollte. Aufgrund der wörtlichen Wiedergabe der verwendeten
Äußerung des Klägers in einem Aktenvermerk, insbesondere der Einschränkung, der
Kläger sei "ein bisschen" gelinkt worden, war damit auch für den zuständigen Richter
als Adressaten des Vermerks die Interpretationsbedürftigkeit der verwendeten
Formulierung deutlich. Nicht etwa hat sich das Risiko verwirklicht, dass die
missverständliche Äußerung des Klägers bei der Justizangestellten F3xxxxx und
sodann auch beim zuständigen Richter den Eindruck erweckt hat, der Kläger mache
geltend, ihm sei das Gutachten untergeschoben worden.
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(3) Richtig ist allerdings, dass auch die solchermaßen eingeschränkte Äußerung des
Klägers – unabhängig vom tatsächlichen Verständnis durch die Justizangestellte
F3xxxxx – jedenfalls die Gefahr von Missverständnissen in sich trug und auch
tatsächlich zu Irritationen geführt hat. Zugleich wurde durch das Verhalten des Klägers
ohne Not der Ruf des Krankenhauses beeinträchtigt. Um die beabsichtigte Klarstellung
zu erreichen, dass er (der Kläger) eine Betreuung der Patientin - abweichend vom
Ergebnis des vertretungsweise unterzeichneten Gutachtens – persönlich nicht
befürworte, wäre unschwer auch eine schonendere Vorgehensweise möglich gewesen.
So hätte der Kläger sich ohne weiteres darauf berufen können, nach erneutem
Überdenken der Angelegenheit könne er an dem zuvor gebildeten Standpunkt nicht
festhalten. Auch eine Erklärung in dem Sinne, er habe seine Unterschrift unter Zeitdruck
und ohne ausreichende Kenntnisnahme der Einzelheiten des Gutachtens geleistet,
hätte zweifellos geringere Irritationen ausgelöst als die verwendete Formulierung, er sei
"ein bisschen gelinkt" worden. Mit der verwendeten Formulierung wurde zwar einerseits
von dem nicht zu verantwortendem Umstand abgelenkt, dass das für das Gericht
bestimmte Gutachten von einem verantwortlichen Arzt "blind" unterzeichnet worden war.
Andererseits wurde aber durch die vom Kläger verwendete Formulierung nicht auf
irgendeinen mehr oder minder plausiblen Organisationsmangel verwiesen, vielmehr
wurde ohne Not der Eindruck irregulärer Verhaltensweisen verantwortlicher Personen
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erweckt und so das Ansehen des Hauses weit mehr beeinträchtigt, als dies mit einer
sonstwie begründeten persönlichen "Distanzierung" von einem dem Gericht vorgelegten
Gutachten verbunden gewesen wäre.
Hieraus ergibt sich zwar, dass dem Kläger der Vorwurf einer erheblichen
arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung nicht erspart bleiben kann. Im Ergebnis ist
gleichwohl der Einschätzung des Arbeitsgerichts zu folgen, dass in Anbetracht der
konkreten Umstände des Falles der Ausspruch einer Kündigung ohne vorangehende
Abmahnung ausscheiden muss. Mit seiner Äußerung hat der Kläger nicht gezielt den
Ruf des Krankenhauses schädigen und die Autorität des Vorgesetzten untergraben
wollen, vielmehr ist dem Kläger in Bezug auf seine Äußerung allein vorzuwerfen, dass
er durch eine unbedachte und im Umgang mit Gerichten unangemessene
Ausdrucksweise den Ruf des Krankenhauses und das Vertrauen in die Zuverlässigkeit
gutachterlicher Beurteilungen gefährdet hat. Einer solchen Pflichtverletzung ist jedoch
grundsätzlich zunächst mit einer vorangehenden Abmahnung zu begegnen. Dass die
betreffende Äußerung des Klägers tatsächlich einen entsprechenden Schaden
herbeigeführt habe, trägt die Beklagte selbst nicht vor. Im Gegenteil ergibt sich aus der
Tatsache, dass der zuständige Richter vertrauensvoll Rücksprache mit dem Chefarzt Dr.
W2xxx genommen hat und im Ergebnis die von diesem befürwortete Betreuung sodann
tatsächlich vom Gericht angeordnet worden ist, dafür, dass es zu einer nachhaltigen
Rufschädigung des Krankenhauses nicht gekommen ist.
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c) Soweit die Beklagte eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten – unabhängig vom
konkreten Gehalt der Äußerung des Klägers – auch darin sehen will, dass der Kläger
eigenmächtig und ohne das von ihm behauptete Einverständnis des Chefarztes bei
Gericht vorstellig geworden ist, um im Gespräch mit dem zuständigen Richter seinen
abweichenden Standpunkt in der Sache zum Ausdruck zu bringen und sich von seiner
Unterschriftsleistung zu distanzieren, trifft es zwar zu, dass der Kläger nicht ohne
Abstimmung mit dem Chefarzt Kontakt mit dem Gericht aufnehmen durfte. Immerhin
hatte nämlich der Kläger zunächst durch seine Unterschrift den Eindruck eines
Einverständnisse geschaffen. Durch eine nachträgliche Distanzierung des Klägers vom
zuvor unterzeichneten Gutachten waren erkennbar die Belange des Krankenhauses
unmittelbar berührt. Andererseits folgt aus dem Umstand, dass der Kläger das
Gutachten als Vertreter des Chefarztes unterzeichnet hatte, nicht etwa, dass
abschließend der Chefarzt die Entscheidung zu treffen hatte, ob das Gutachten in der
vorliegenden Form – also mit der Unterschrift des Klägers – beim Gericht als
Entscheidungsgrundlage verblieb. Die Unterzeichnung des Gutachtens durch den
Kläger als Vertreter des Chefarztes bedeutet vielmehr, dass der Kläger – aufgrund der
ihm übertragenen Vertretungsbefugnis – selbst die Verantwortung für das Gutachten
übernahm. Anders als bei einer Unterzeichnung mit dem Zusatz "im Auftrag", bei
welchem der Unterzeichner erkennbar zum Ausdruck bringt, gemäß einer Weisung des
Vorgesetzten zu handeln, gibt der Vertreter eine eigene Erklärung ab und übernimmt für
den Inhalt der Erklärung entsprechende Verantwortung. Erkennt der Vertreter einen
Irrtum, kann er sich nicht etwa darauf zurückziehen, ihn als Vertreter treffe keine
Verantwortung. Im Gegenteil folgt aus der Eigenverantwortung des handelnden
Vertreters, dass er – notfalls auch gegen den Willen des von ihm vertretenen
Vorgesetzten – die von ihm verantwortete Unterschrift "zurücknehmen" kann. So, wie
die Pflicht zur Kenntnisnahme vom Inhalt des Gutachtens vor Unterschriftsleistung den
Kläger persönlich traf und so, wie der Kläger gegebenenfalls persönlich für eine
leichtfertige Beurteilung zur Rechenschaft gezogen werden könnte, muss auch dem
Kläger als Unterzeichner des Gutachtens das Recht zugestanden werden, aufgrund
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nachträglicher Bedenken von der übernommenen Verantwortung abzurücken.
Damit könnte dem Kläger im vorliegenden Zusammenhang aber allein der Vorwurf
gemacht werden, er habe es versäumt, dem Chefarzt Gelegenheit zu geben, seinerseits
das vom Kläger unterzeichnete Gutachten vom Gericht zurückzufordern, um sodann
selbst durch eigene Unterschrift die Verantwortung für das Gutachten zu übernehmen.
Nach dem Vortrag der Beklagten trifft zwar die Darstellung des Klägers nicht zu, in einer
gemeinsamen Besprechung sei Übereinstimmung erzielt worden, dass der Kläger in der
vorliegenden Angelegenheit Kontakt mit dem Gericht aufnehmen solle. Weiter heißt es
im Beklagtenvortrag; der Chefarzt Dr. W2xxx habe in der Sache an seinem Standpunkt
zur Betreuungsbedürftigkeit der Patientin D3xxxxxx festgehalten. Über die Möglichkeit,
dass der Chefarzt Dr. W2xxx selbst mit dem Gericht Kontakt aufnehmen sollte, um etwa
das vorliegende Gutachten zurückzufordern, nachdem der Kläger sich von seiner
Unterschriftsleistung distanzierte, ist hierbei aber ersichtlich nicht gesprochen worden.
Dann kann aber auch dann, wenn man ein eigenmächtiges Handeln des Klägers
unterstellt, dem Kläger allein zum Vorwurf gemacht werden, dass er die konkrete
Vorgehensweise mit dem Chefarzt Dr. W2xxx nicht abgestimmt hat. Nicht hingegen hat
der Kläger mit seinem Anruf beim Gericht den Versuch unternommen, ein vom Chefarzt
– durch dessen Unterschriftsleistung verantwortetes – Gutachten zu entwerten oder
abzuschwächen.
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d) Soweit es die bereits angesprochene Pflichtverletzung betrifft, welche darin liegt,
dass der Kläger ein Gutachten in einer Betreuungssache ungelesen unterzeichnet hat,
kann dies die ausgesprochene Kündigung schon deshalb nicht rechtfertigen, da die
Beklagte selbst insoweit keinen Vorwurf gegen den Kläger erhebt.
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e) Die früheren, bereits abgemahnten Pflichtverletzungen des Klägers können als
eigenständiger Kündigungsgrund nicht mehr herangezogen werden. Ebenso wenig sind
sie geeignet, den vorstehend dargestellten Pflichtverletzungen das Gewicht eines
Kündigungsgrundes zu verleihen, da sie vollkommen andere Pflichtenkreise betreffen.
Soweit die Beklagte schließlich vertragswidrige und rufschädigende Verhaltensweisen
des Klägers aus der Zeit nach Ausspruch der Kündigung behauptet, kommt es hierauf
für die Beurteilung der angegriffenen Kündigungen aus Rechtsgründen nicht an.
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f) Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass das vom Kläger gezeigte Verhalten
aus den dargestellten Gründen durchaus als vorwerfbarer Verstoß gegen die
arbeitsvertragliche Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die schutzwürdigen Belange
des Arbeitgebers anzusehen ist. Dementsprechend wäre eine entsprechend konkret
gefasste Abmahnung nicht zu beanstanden, Demgegenüber kommt den dargestellten
Pflichtverletzungen – wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat – kein solches
Gewicht zu, dass ohne vorangehende einschlägige Abmahnung das langjährig
bestehende Arbeitsverhältnis mit dem Kläger beendet werden kann. Dafür, dass der
Kläger ohnehin zu einem vertragsgerechten Verhalten nicht bereit oder in der Lage sei,
bietet der vorgetragene Sachverhalt keine ausreichenden Anhaltspunkte. Im Gegenteil
ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger das vorliegenden Verfahren als
deutliche Warnung verstehen wird und sowohl innerbetrieblich wie auch beim Kontakt
mit Gerichten und Behörden darauf bedacht sein wird, auch bei
Meinungsverschiedenheiten oder in Konfliktfällen das Ansehens des Krankenhauses
und der dort tätigen Ärzte nicht zu beschädigen.
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III
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Die Kosten der erfolglosen Berufung hat die Beklagte zu tragen.
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IV
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 ArbGG liegen nicht
vor.
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Dr. Dudenbostel
Kullik
Kretzer
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En.
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