Urteil des LAG Hamm vom 26.06.2009

LArbG Hamm: ausnahmefall, im bewusstsein, daten, betriebsrat, unternehmen, telefonanlage, interessenabwägung, datum, straftat, gespräch

Landesarbeitsgericht Hamm, 13 Sa 120/09
Datum:
26.06.2009
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 Sa 120/09
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Herne, 1 Ca 2111/08
Schlagworte:
Kündigung; außerordentlich; fristlos; Telefonat; privat; unerlaubt führen
Normen:
§ 626 Abs. 1 BGB
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts
Herne vom 26.11.2008 – 1 Ca 2111/08 – abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung; der
Kläger begehrt seine Weiterbeschäftigung.
2
Der am 20.02.1977 geborene, ledige Kläger steht seit dem 01.08.1995 in den Diensten
der Beklagten, einem Unternehmen mit mehr als 1000 Arbeitnehmern, in dem ein
Betriebsrat besteht. Der Kläger arbeitete zuletzt als technischer Angestellter in der
Abteilung "TB-Normung/Service" zu einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von 2.512,28
€. Als Ersatzmitglied nahm er letztmals im Juni 2008 an einer Betriebsratssitzung teil.
3
Im Betrieb besteht eine am 11.01.1991 abgeschlossene "BETRIEBSVEREINBARUNG
- Telefonanlage und Telefondatenerfassung - ", deren Ziffer 4.3 wie folgt lautet:
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4.3 Private Telefongespräche sind im Nahbereich im Ausnahmefall zulässig.
Diese sind kostenfrei.
5
Privatgespräche, die über den Nahbereich hinausgehen, werden von der
Telefonzentrale nicht vermittelt. In diesen Fällen soll der öffentliche
Fernsprecher im Gebäude "altes Lohnbüro" benutzt werden.
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Sofern der Mitarbeiter es wünscht, können Privatgespräche im
Ausnahmefall auch über den Nahbereich hinaus geführt werden. Hierzu
wird ihm eine persönliche, vierstellige Kennziffer zugeteilt, die vor der
eigentlichen Telefonnummer zu wählen ist. Diese Telefonate sind
kostenpflichtig. Die Abrechnung erfolgt monatlich im Folgemonat mit der
Lohn- und Gehaltsabrechnung.
7
Wegen des weiteren Inhalts der Betriebsvereinbarung wird verwiesen auf die mit
Beklagtenschriftsatz vom 22.09.2008 eingereichte Kopie (Bl. 58 ff. d.A.).
8
Mit Schreiben vom 15.07.2008 wandte sich die Beklagte an den Betriebsrat u.a. mit dem
Antrag, dem Kläger außerordentlich zu kündigen. Zur Begründung wird darin u.a.
ausgeführt:
9
Herr S2 hat die Firma S1 GmbH über Jahre hinweg bewusst betrogen.
10
Am 08.07.2008 stellte Herr L2 durch die "Kostenstellen-Auswertung" der
Telefonanlage fest, dass die auf der Nebenstelle 269, Anschluss von Herrn S2,
verursachten Kosten im Juni 2008 mehr als doppelt so hoch waren, wie die Kosten
seines Vorgesetzten Herrn H4 auf der Nebenstelle 378. Besonders auffällig war
dies, da Herr S2 aufgrund seines Tarifurlaubs lediglich die ersten zwei Juni Wochen
im Hause war. Herr L2 beauftragte daher den Abteilungsvorgesetzten Herrn H4, zu
überprüfen, warum die auf der Nebenstelle 269 auflaufenden Telefonkosten im Juni
das doppelte zum Vorgesetzten und ca. das 10fache der anderen der Kostenstelle
zugeordneten Nebenstellen betragen.
11
Herr H4 erfuhr am 08.07.2008 durch Herrn S2, dass dieser über die Nebenstelle 269
seine Privatgespräche auf Firmenkosten führt.
12
Aufgrund dieser Information fand am 08.07.2008 gegen 13.30 Uhr ein Gespräch der
Herren G3 und H4 mit Herrn S2 statt. Das Betriebsratsmitglied Herr V2 wurde
ebenfalls zu dem Gespräch hinzugezogen.
13
Herr S2 machte in diesem Gespräch folgende Aussage:
14
Er habe seine persönliche PIN schon vor Jahren verbummelt. Sie sei ihm auch nicht
mehr bekannt. Er führe seine privaten Gespräche hauptsächlich mit einer Freundin.
Diese habe, wie er auch, keinen Festnetzanschluss, sondern lediglich ein Handy.
Diese Freundin habe er vor ca. 3 Jahren kennengelernt. Seitdem führt er regelmäßig
private Gespräche auf Firmenkosten. Vor diesem Zeitpunkt hätte es für ihn keinen
Grund für private Telefonate innerhalb der Arbeitszeit gegeben.
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Auf die Anmerkung von Herrn G3, dass er doch die Regeln der S1 GmbH kennen
würde und er wisse, dass er seine privaten Gespräche mit seiner PIN bestätigen
muss und dass die entstehenden Kosten über die Abrechnung einbehalten werden,
erwiderte Herr S2 wie folgt:
16
Er hätte seine PIN verbummelt und habe sich daher nicht getraut, die PIN erneut in
der Personalabteilung anzufragen. Er wolle den Kontakt mit der Personalabteilung
generell auf das notwendigste beschränken. Daher habe er die Gespräche ohne die
17
PIN auf Firmenkosten geführt.
18
Das Führen von Privatgesprächen auf Firmenkosten ist als Betrug zu werten. Dies
stellt somit nicht nur einen Verstoß gegen die arbeitsrechtlichen Verpflichtungen dar,
sondern hierbei handelt es sich auch um eine Straftat. Bei der Auswertung des
Ausmaßes dieser Straftat verwenden wir hier zunächst die durch die
Betriebsvereinbarung zulässigen Daten. In der Detailauswertung stehen daher die
Monate Mai und Juni 2008 zur Verfügung (siehe Anlage). In der Aufsummierung
ergibt sich folgendes Bild:
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Zeitraum
Kosten
Gesamt
Kostenanteil
Privat
Prozentualer
Anteil Privat
Dauer der
Privatgespräche in
hh:mm:sec
01.06. -13.06.2008
(Urlaub ab 16.06.2008)
10,80 € 8,34 €
77,22 %
00:46:08
01.05. – 31.05.2008
29.16 € 22.68 €
77,78 %
01:34.41
39,96 € 31,02 €
77,63 %
2:20:49
20
Gemäß Aussage von Herrn S2 werden von ihm seit ca. 3 Jahren private Telefonate
auf Firmenkosten geführt.
21
Über diese Daten hinaus bestehen noch die bei den Vorgesetzten verbleibenden
Kostenstellen-Auswertungen. Aus diesen lassen sich nur die Summen der
Nebenstellen einer Kostenstelle ersehen, (siehe Anlage). Herr S2 ist seit dem
01.10.2006 der Kostenstelle 59000 und der Nebenstelle 269 zugeordnet. Verbindet
man die Kosten mit dem oben im Durchschnitt errechneten prozentualen Anteil der
Privatgespräche, so ergibt sich für den Zeitraum 01.10.2006 bis 13.06.2008
folgendes Bild:
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Nebenstelle 269
23
Zeitraum
Kosten Gesamt
Kostenanteil Privat => 77,63 %
Okt 06
2,40 €
1,86 €
Nov 06
34,56 €
26,83 €
Dez 06
24,60 €
19,10 €
Jan. 07
12,12 €
9,41 €
Feb. 07
18,18 €
14,11 €
Mrz 07
11,76 €
9,13 €
24
Apr 07
12,30 €
9,55 €
Mai 07
9,84 €
7,64 €
Jun 07
keine Daten vorhanden
Jul 07
9,36 €
7,27 €
Aug 07
35,04 €
27,20 €
Sep 07
keine Daten vorhanden
Okt 07
keine Daten vorhanden
Nov 07
25,02 €
19,42 €
Dez 07
11,88 €
9,22 €
Jan 08
49,80 €
38,66 €
Feb 08
25,20 €
19,56 €
Mrz 08
17,22 €
13,37 €
Apr 08
20,16 €
15,65 €
Mai 08
29,16 €
22,64 €
Jun 08
10,80 €
8,38 €
359,40 €
279,00 €
Der genau durch Herrn S2 für das Unternehmen entstandene Schaden lässt sich auf
Grundlage der vorhandenen und verwertbaren Daten nicht mehr genau ermitteln.
Angaben über die dem Arbeitgeber entgangene Arbeitszeit können hier leider nicht
abgeleitet werden.
25
26
Herr S2 hat die S1 GmbH gemäß seiner eigenen Aussage über einen Zeitraum von
ca. 3 Jahren betrogen. Jedes Mal, wenn Herr S2 die Ziffer "0" vor eines seiner
Privatgespräche gedrückt hat, hat er sich damit erneut dazu entschieden, gegen
seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu verstoßen und eine Straftat zu begehen. Über
Jahre hat er hierdurch die S1 GmbH geschädigt und sich selbst einen Vorteil
verschafft. Der Schaden der S1 GmbH setzt sich zusammen aus den Kosten der
Telefonate und der entgangenen Arbeitszeit.
27
Herr S2 ist seit 12 Jahren im Unternehmen beschäftigt, er ist 31 Jahre alt und hat
keinerlei Unterhaltsverpflichtungen.
28
Die Nachhaltigkeit des Betruges von Herrn S2 hat zum völligen Verlust des
Vertrauensverhältnisses geführt. Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist dem
Arbeitgeber unter diesen Voraussetzungen nicht zumutbar. Wir sehen in dem Betrug
von Herrn S2 einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist.
29
30
Unstreitig hat der Kläger in den Monaten Mai und Juni 2008 im Einzelnen folgende
Privattelefonate geführt:
31
- Mai 2008
32
Datum
Zeit
Dauer
Einheiten
Kosten
Gesprächsteilnehmer
33
08.05.2008 12:23:45 00:22:56 88 5,28 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
09.05.2008 13:21:46 00:03:10 13 0,78 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
16.05.2008 12:41:56 00:05:08 20 1,20 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
16.05.2008 13:56:20 00:32:39 126 7,56 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
19.05.2008 12:31:07 00:26:07 101 6,06 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
21.05.2008 12:43:18 00:07:41 30 1,80 Ds 7227402 Ex-Freundin des Klägers
34
- Juni 2008
35
Datum
Zeit
Dauer
Einheiten
Kosten
Gesprächsteilnehmer
36
02.06.2008 14:49:40 00:00:53 4 0,24 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
06.06.2008 11:26:05 00:24:10 84 5,04 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
06.06.2008 11:50:55 00:03:06 11 0,66 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
12.06.2008 11:54:10 00:02:46 10 0,60 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
12.06.2008 13:16:52 00:02:34 9 0,54 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
12.06.2008 13:38:00 00:02:07 8 0,48 E-Plus
2729403
private Bekannte des
Klägers
13.06.2008 10:49:17 00:08:17 4 0,24 2345465216
Ex-Freundin des Klägers
13.06.2006 14:20:21 00:02:15 9 0,54 D2 7227402
Ex-Freundin des Klägers
37
Nachdem der Betriebsrat unter dem 18.07.2008 Bedenken erhoben hatte (Bl. 86 d.A.),
38
kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 21.07.2008 (Bl. 3 d. A.) das Arbeitsverhältnis
"wegen Betruges außerordentlich/fristlos zum 21.07.2008".
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage.
39
Er hat die Auffassung vertreten, alle von ihm geführten Privattelefonate seien im
Einklang mit den Regelungen der Betriebsvereinbarung erfolgt, nämlich im Nahbereich
auf Kosten der Beklagten.
40
Im Übrigen sei seinem Vorgesetzten H4 gelegentlich bewusst gewesen, dass er privat
telefoniert habe.
41
Unabhängig davon werde kraft betrieblicher Übung im Unternehmen regelmäßig bzw.
gelegentlich privat telefoniert.
42
Darüber hinaus sei die außerordentliche Kündigung verfristet, weil man mehr als drei
Jahre davon Kenntnis gehabt habe, dass er im Nahbereich gelegentlich privat telefoniert
habe.
43
Letztlich werde die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates bestritten.
44
Der Kläger hat beantragt,
45
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der
Beklagten vom 21.07.2008 weder fristlos noch fristgerecht aufgelöst worden ist
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sowie die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis
zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiter zu
beschäftigen.
47
Die Beklagte hat beantragt,
48
die Klage abzuweisen.
49
Sie hat behauptet, der Kläger habe über einen Zeitraum von ca. drei Jahren nicht
gesondert gekennzeichnete Privatgespräche geführt – mit nachweisbaren
Gesamtkosten in Höhe von mehreren 100 €.
50
Von Telefonaten im Nahbereich könne keine Rede sein, weil es sich fast ausnahmslos
nicht um solche im Festnetz gehandelt habe. Wegen der Häufigkeit könne auch von
keinem Ausnahmefall ausgegangen werden.
51
Die Nachhaltigkeit des begangenen fortgesetzten Betruges habe zum völligen Verlust
des Vertrauensverhältnisses geführt.
52
Als Kündigungsberechtigter habe der Prokurist L2 erstmals am 08.07.2008 vom
Sachverhalt erfahren.
53
Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden.
54
Mit Urteil vom 26.11.2008 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Zur
55
Begründung der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung hat es entscheidend
darauf abgestellt, dass im Rahmen der Interessenabwägung zu Gunsten des Klägers zu
berücksichtigen sei, dass er auf Befragen zugestanden habe, in den zurückliegenden
ca. drei Jahren Privatgespräche auf Kosten der Beklagten geführt zu haben. Zur
Abwendung einer Wiederholungsgefahr habe die Beklagte die Möglichkeit, ab sofort
alle Gespräche zeitnah auszuwerten. Im Übrigen spreche die lange
Betriebszugehörigkeit für den Kläger.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Berufung.
56
Sie weist darauf hin, dass es bei ihr gängige Praxis und allen bekannt sei, dass auf
Kosten des Arbeitgebers Privatgespräche nur ausnahmsweise in das örtliche Festnetz
geführt werden dürften. Alle anderen kostenintensiveren Telefonate müssten die
Arbeitnehmer selbst bezahlen; dies werde durch die Eingabe der persönlichen
Kennziffer gewährleistet.
57
Namentlich bei Telefonaten in Mobilfunknetze gebe es keinen gebührenrechtlich
privilegierten Nahbereich, so dass immer die Kennziffer eingegeben werden müsse.
58
Im Bewusstsein des Verstoßes gegen diese Vorgaben habe der Kläger über lange Zeit
zu Lasten von ihr, der Beklagten, Privattelefonate geführt.
59
Im Übrigen liege auch kein Ausnahmefall vor.
60
Bei der Interessenabwägung sei zu Lasten des Klägers sein komplettes
Telefonverhalten in den zurückliegenden Jahren zu berücksichtigen. Es handele sich
dabei um ein fortgesetztes Fehlverhalten mit erheblichen Kosten für den Arbeitgeber.
61
Die Beklagte beantragt,
62
das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 26.11.2008 – 1 Ca 2111/08 - abzuändern
und die Klage abzuweisen.
63
Der Kläger beantragt,
64
die Berufung zurückzuweisen.
65
Er weist darauf hin, er habe angesichts der unklaren Regelung in der
Betriebsvereinbarung in dem Glauben gehandelt, nichts Unrechtes zu tun, da er im
Nahbereich telefoniert habe. Im Übrigen nehme er Bezug auf sein erstinstanzliches
Vorbringen.
66
Wegen des weiteren Vorbringens beider Parteien wird auf die gewechselten
Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.
67
Entscheidungsgründe
68
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.
69
Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts ist die erkennende Kammer namentlich unter
dem Eindruck der mündlichen Verhandlung am 26.06.2009 zu dem Ergebnis gelangt,
70
dass die streitbefangene außerordentliche Kündigung vom 21.07.2008 wirksam ist und
dementsprechend auch kein Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung mehr
besteht.
I.
71
Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG hatte der Kläger, nachdem er im Juni 2008 letztmals als
nachgerücktes Ersatzmitglied an einer Betriebsratssitzung teilgenommen hatte, im
Kündigungszeitpunkt nachwirkenden Kündigungsschutz, sein Arbeitsverhältnis konnte
also nur unter den Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB beendet werden.
72
Danach kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung
gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter
Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen
beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
73
In dem Zusammenhang ist in der Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass private
Telefonate, die unerlaubt über die betriebliche Fernsprechanlage auf Kosten des
Arbeitgebers geführt werden, grundsätzlich den Ausspruch einer fristlosen Kündigung
rechtfertigen können (z.B. BAG, 04.03.2004 – 2 AZR 147/03 – AP BetrVG 1972 § 103
;
10 Sa 1921/07, jeweils m.w.N.).
74
Die Voraussetzungen sind hier erfüllt.
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1. Unstreitig hat der Kläger im Mai 2008 an fünf Tagen über insgesamt annähernd 100
Minuten und in seinen zwei Arbeitswochen im Juni 2008 an vier Tagen über insgesamt
mehr als 46 Minuten Privattelefonate geführt. Dabei erfolgte die Anwahl jeweils mit der
"O" zur Klassifizierung als Dienstgespräch, was zur Folge hatte, dass bei der Beklagten
insgesamt Kosten in Höhe von 31,02 € entstanden sind.
76
Dabei hat er sich - klar erkennbar - nicht im Rahmen der Betriebsvereinbarung zur
"Telefonanlage und Telefondatenerfassung" vom 11.01.1991 (Im Folgenden kurz: BV)
gehalten.
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a) Nach Ziffer 4.3 Abs. 1 der BV, die zu einem Zeitpunkt abgeschlossen wurde, als in
Deutschland Mobiltelefone noch nicht verbreitet waren, sind Privattelefonate kostenfrei
nur dann zugelassen, wenn sie sich auf den Nahbereich erstrecken und einen
Ausnahmefall bilden.
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Gemäß Ziffer 4.3 Abs. 2 der BV ist für über den Nahbereich hinausgehende
Privatgespräche der Weg zum öffentlichen Fernsprecher gewiesen; sie haben also auf
Kosten des Arbeitnehmers zu erfolgen.
79
Schließlich ist in Ziffer 4.3 Abs. 3 der BV für Privatgespräche über den Nahbereich
hinaus – allerdings nur im Ausnahmefall – die Möglichkeit eröffnet, unter Benutzung
einer vierstelligen Kennziffer auf eigene Kosten die Telefonanlage der Beklagten zu
benutzen.
80
Aus der Gesamtschau der Bestimmungen wird unmissverständlich deutlich, dass die
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Betriebspartner – ausgehend vom damals allein bestehenden Festnetztelefonverkehr –
sowohl von der Entfernung (Nahbereich) als auch von den Anlässen (Ausnahmefall) her
nur sehr restriktiv das Telefonieren auf Kosten des Arbeitgebers zulassen wollten.
b) Der in der BV verwandte Begriff des Nahbereichs bezog sich erkennbar nur auf eine
für Festnetzanschlüsse geläufige Tarifzone – in Abgrenzung z.B. zum Fernbereich.
Demgegenüber gibt es bei Telefonaten in ein Mobilfunknetz keinen gebührenrelevanten
Nahbereich; es macht hier keinen Unterschied, an welchem Ort sich der
Gesprächsempfänger aufhält.
82
Wenn der Kläger sich hingegen auf den Standpunkt stellt, er sei immer auch von
Gesprächen im Nahbereich ausgegangen, obwohl er – mit einer Ausnahme –
Mobiltelefonnummern angewählt hat, ist dies nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass
er selbst seit mehreren Jahren ein Mobiltelefon hat und deshalb mit dem Tarifsystem
eigentlich vertraut sein müsste, sehr zweifelhaft. Hinzu kommt, dass er während der
Befragung in der mündlichen Verhandlung am 26.06.2009 jedenfalls für die sechs
Telefonate mit einer privaten Bekannten zwischen dem 02. und 12.06.2008 nicht sagen
konnte, ob diese Gespräche alle im Nahbereich, wie er ihn versteht, stattgefunden
haben.
83
c) Losgelöst davon kann jedenfalls nicht ernsthaft bestritten werden, dass sich der
Kläger angesichts der Häufigkeit und Länge der im Zeitraum von gut fünf Wochen ab
08.05.2008 geführten Telefonate nicht jeweils auf einen Ausnahmefall im Sinne der
Ziffer 4.3 Abs. 1 der BV berufen kann.
84
Begrifflich liegt eine Ausnahme nur dann vor, wenn in einem Sonderfall von der
ansonsten geltenden Regel abgewichen wird. Hiervon kann im Falle des Klägers
ersichtlich nicht ausgegangen werden.
85
Wenn er im Mai 2008 an fünf Tagen, davon am 16.05.2008 in kurzer Zeit zweimal über
mehr als fünf bzw. 32 Minuten, Privatgespräche führte, dokumentiert dies eine gewisse
Regelmäßigkeit, kann also angesichts der Häufigkeit und Dauer nicht ernsthaft jeweils
als Ausnahmefall eingestuft werden. Noch offensichtlicher wird dies für die ersten
beiden Wochen im Juni 2008, wo er an zwei Tagen jeweils zwei und an einem Tag
sogar drei Telefonate geführt hat, in einem Fall sogar über 24 Minuten.
86
Nach alledem hat der Kläger nachgewiesenermaßen über mehrere Wochen jeweils
zunächst unter Anwahl der "0", wodurch ihm in jedem Einzelfall die Klassifizierung als
Dienstgespräch vor Augen geführt wurde, insgesamt 14 Privatgespräche über eine
Gesamtdauer von fast 2,5 Stunden geführt und dadurch bei der Beklagten Kosten in
Höhe von insgesamt 31,02 € verursacht.
87
d) Den Verweis auf die Billigung der Privattelefonate durch die Vorgesetzten, also ab
Oktober 2006 durch Herrn H4, konnte der Kläger nicht einlassungsfähig spezifizieren.
Statt allgemein darauf zu verweisen, dem Vorgesetzten sei "gelegentlich bewusst
gewesen, dass der Kläger privat telefoniert", hätte im Einzelnen dargelegt werden
müssen, aufgrund welcher Verhaltensweise des Vorgesetzten H4 der Kläger davon
ausgehen konnte, die Telefonate im Mai/Juni 2008 seien arbeitgeberseits gebilligt
worden.
88
Entsprechendes gilt für den – auch noch widersprüchlichen – Vortrag, im Betrieb der
89
Beklagten werde "regelmäßig" bzw. "gelegentlich" kraft betrieblicher Übung privat
telefoniert.
Durch das danach feststehende betrügerische Verhalten hat der Kläger an sich einen
wichtigen Grund für die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschaffen.
90
2. Die weiter vorzunehmende Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller
besonderen Umstände des Einzelfalles führt entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts
zu keinem anderen Ergebnis, weil das Beendigungsinteresse der Beklagten das
Bestandsinteresse des Klägers überwiegt (vgl. z.B. BAG, 27.04.2006 – 2 AZR 415/05 –
AP BGB § 626 Nr. 203).
91
Allerdings kommt der Tatsache, dass der Kläger seit Beginn seiner Ausbildung am
01.08.1995 bis zum Ausspruch der außerordentlichen Kündigung über fast 13 Jahre
dem Betrieb der Beklagten angehört hat, zu seinen Gunsten eine beträchtliche
Bedeutung zu. Es ist auch zu berücksichtigen, dass es der am 20.02.1977 geborene,
ledige Kläger angesichts der Umstände seines Ausscheidens nicht leicht haben wird,
eine adäquate Folgebeschäftigung zu finden.
92
Entscheidend gegen ihn fällt aber ins Gewicht, dass er bis zuletzt immer nur das
eingeräumt hat, was er nicht mehr ernsthaft bestreiten konnte. Er ließ insoweit wenig
Bereitschaft erkennen, das Unrecht seines Handelns zu erkennen und dafür einzutreten,
um eine tragbare Zukunftsperspektive für das Beschäftigungsverhältnis zu schaffen.
93
Namentlich die intensive Befragung in der mündlichen Verhandlung am 26.06.2009 hat
bei der erkennenden Kammer zu der festen Überzeugung geführt, dass eine
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses der Parteien nicht mehr in Betracht kommt.
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So hat es ein gewisses Erstaunen hervorgerufen, dass der jetzt 32jährige Kläger, ein
ausgebildeter technischer Angestellter, der seit Jahren selbst ein Mobiltelefon besitzt
und deshalb eigentlich mit den Gegebenheiten vertraut sein müsste, mit Vehemenz die
These vertreten hat, auch bei Anrufen vom Fest- in das Mobilnetz gebe es einen
Nahbereich im Sinne der Ziffer 4.3 Abs. 1 der BV. Zugleich musste er allerdings auf
Nachfrage einräumen, nicht zu wissen, ob die private Bekannte sich bei den
Telefonaten im Juni 2008 jeweils nach seinem Verständnis im Nahbereich aufgehalten
hat.
95
Noch viel weniger einsichtig war der Kläger, als es um die Bestimmung des
Ausnahmefalles im Sinne der Ziffer 4.3 Abs. 1 der BV ging. Nach seiner festen
Überzeugung handelte es sich bei allen im Mai und Juni 2008 insgesamt 14 geführten
Telefonaten um Ausnahmefälle, ohne plausibel zu erklären, warum es sich jeweils vom
Anlass und der Länge der Telefonate her um Sonderfälle gehandelt haben soll, für die
die Beklagte kostenmäßig einzutreten hatte.
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Aus alledem wird deutlich, dass dem Kläger nicht mehr das für die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses unverzichtbare Vertrauen entgegengebracht werden kann,
gerichtet auf einen ehrlichen und loyalen Umgang mit den Vermögensinteressen der
Beklagten als seiner Arbeitgeberin.
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In dem Zusammenhang soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass der Kläger zu seinem
ihm nicht mehr konkret nachweisbaren Telefonverhalten in der Zeit vor Mai 2008 zu
98
keiner Zeit eindeutig Stellung bezogen hat, um so die Grundlage für eine
vertrauensvolle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu schaffen.
Ohne der Angabe im Anhörungsschreiben an den Betriebsrat vom 15.07.2008, wonach
er am 08.07.2008 eingeräumt haben soll, "regelmäßig" privat telefoniert zu haben,
ausdrücklich zu widersprechen, lässt er im Schriftsatz vom 03.11.2008 differenzierend
vortragen, er habe "gelegentlich und nur äußerst kurz", "äußerst gelegentlich und
selten" bzw. "in äußerst seltenen Fällen" privat telefoniert. In der mündlichen
Verhandlung am 26.06.2009 hat er dann persönlich erklärt, seit ca. Mitte des Jahres
2005 habe er "gelegentlich" seine damalige Freundin angerufen.
99
II.
100
Die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ist entgegen der Ansicht des Klägers gewahrt,
weil der Prokurist L2 der Beklagten als Kündigungsberechtigter – unwidersprochen –
erst am 08.07.2008 von dem kündigungsrelevanten Sachverhalt Kenntnis erlangt hat.
101
III.
102
Es liegt auch eine ordnungsgemäße vorherige Anhörung des Betriebsrates nach § 102
Abs. 1 BetrVG vor. Denn ausweislich des 3 1/2seitigen Schreibens vom 15.07.2008
wurde das Gremium über die Gründe für die beabsichtigte außerordentliche Kündigung
vollumfänglich informiert. Konkrete Einwände des Klägers sind dazu nicht erfolgt.
103
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
104
Gründe für die Zulassung der Revision sind angesichts der Einzelfallerwägungen nicht
gegeben.
105