Urteil des LAG Hamm vom 19.11.2009

LArbG Hamm (kündigung, kläger, zeitpunkt, arbeitsfähigkeit, medizinische rehabilitation, erkrankung, tätigkeit, wiederherstellung, durchführung, erhebliche bedeutung)

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 597/09
Datum:
19.11.2009
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 597/09
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Siegen, 2 Ca 734/08
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 2 AZN 102/10
Schlagworte:
Kündigung/Krankheit/Negative Zukunftsprognose//bevorstehende
Rehabilitationsmaßnahme/Erfolglosigkeit/Aussichtslosigkeit
Normen:
KSchG § 1
Leitsätze:
Hatte der seit längerer Zeit arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer
bereits vor Ausspruch der Kündigung eine Rehabilitationsmaßnahme
beantragt, nachfolgend bewilligt erhalten und durchgeführt, so
rechtfertigt allein der Umstand, dass die Maßnahme nicht zur
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers geführt hat,
nicht die Schlussfolgerung, die Maßnahme sei von vornherein
ungeeignet und aussichtslos gewesen, weswegen für ein weiteres
Abwarten kein Grund bestanden habe.
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen
vom 24.03.2009 – 2 Ca 734/08 – teilweise abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 13.05.2008 nicht beendet worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Verfahrens arbeitsvertragsgemäß als Techniker weiter zu
beschäftigen.
3. Von den Kosten des 1. Rechtszuges trägt der Kläger 1/10, die
Beklagte 9/10. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte
allein.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen, krankheitsbedingten
Kündigung vom 13.05.2008 zum 30.09.2008. Ferner begehrt der Kläger die
arbeitsvertragsgemäße Weiterbeschäftigung für die Dauer des Kündigungsrechtsstreits.
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Der im Jahre 1968 geborene, ledige Kläger ist aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages
(Bl. 11 d A.) seit März 2001 im Betrieb der Beklagten als Maschinenbautechniker gegen
ein durchschnittliches Bruttomonatsentgelt von 4.500,-- € beschäftigt. Die
Aufgabenstellung des Klägers umfasst u. a. die Schulung von eigenen Mitarbeitern
(Auszubildende, Außendienstmitarbeiter) sowie die Durchführung von Schulungen im
Rahmen einer Kunden- und Projektbetreuung. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb
mehr als 10 Arbeitnehmer.
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Mit Schreiben vom 13.05.2008 (Bl. 10 d.A.) sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger
eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.09.2008 aus. Die
angegriffene Kündigung stützt die Beklagte auf den Umstand, dass der Kläger seit dem
Monat Dezember 2006 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und – wie die Beklagte
behauptet - aufgrund der vom Kläger vorgelegten Atteste mit einer Besserung des
Gesundheitszustandes in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war. Hierzu hat die Beklagte
vorgetragen, zuletzt habe der Kläger zwar durch seinen Prozessbevollmächtigten mit
Schreiben vom 14.04.2008 angegeben, eine anstehende medizinische Rehabilitation
lasse die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit erwarten. Die weitere Mitteilung, der
Kläger strebe zur Vermeidung der Belastungen durch den weiten Weg vom Wohnort B1
zum Arbeitsplatz in W2 eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses
gegen Zahlung einer Abfindung an, lasse jedoch erkennen, dass der Kläger selbst nicht
von einer zeitnahen Genesung ausgehe. Demgegenüber hat der Kläger vorgetragen,
bereits zum Zeitpunkt der Kündigung habe eine positive Gesundheitsprognose
bestanden, was sich schon aus der im Kündigungszeitpunkt beantragten, mit Bescheid
vom 03.07.2008 bewilligten und nachfolgend durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme
ergebe.
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Durch Urteil vom 24.03.2009 (Bl. 235 d.A.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht nach
Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens (Bl. 139 ff. d.A.) die Klage
abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, die gegenüber
dem Kläger ausgesprochene Kündigung sei unter dem Gesichtspunkt der lang
andauernden Erkrankung bei vollständig ungewisser Genesung begründet. Wie das
eingeholte Sachverständigengutachten ergeben habe, sei im Zeitpunkt der Kündigung
davon auszugehen gewesen, dass der Kläger auch künftig seine arbeitsvertraglichen
Pflichten im Rahmen der beschriebenen Tätigkeiten krankheitsbedingt nicht ausfüllen
könne, vielmehr sei bei Fortsetzung der Tätigkeit eine Verschlimmerung der
bestehenden psychischen Erkrankung zu erwarten gewesen. Soweit sich der Kläger
demgegenüber auf eine positive Gesundheitsprognose berufe, fehle es hieran an
ausreichenden Anhaltspunkten, allein die Benennung der behandelnden Ärzte sei
hierfür nicht genügend, da der Kläger nicht einmal angegeben habe, welcher Mediziner
mit welcher konkreten Begründung irgendeine positive Gesundheitsprognose
abgegeben haben solle. Auch dem Sachverständigen habe der Kläger keine derartigen,
seine Darstellung stützenden Unterlagen vorgelegt. Allein der Umstand, dass der Kläger
Ende Oktober 2008 aus der zwischenzeitlich durchgeführten Reha-Maßnahme "auf
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seinen Wunsch" hin als arbeitsfähig entlassen worden sei, rechtfertige keine andere
Beurteilung. Abgesehen davon, dass es auf eine nachträgliche Änderung des
Sachverhalts nach Ausspruch der Kündigung nicht ankomme, müsse auf der Grundlage
des Sachverständigengutachtens davon ausgegangen werden, dass der Kläger
jedenfalls für die ihm übertragene Aufgabenstellung nicht als arbeitsfähig angesehen
werden könne. Nach alledem sei im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit des Klägers völlig ungewiss gewesen, im Gegenteil drohe nach dem
Sachverständigengutachten bei Fortführung der bisherigen stressbelasteten
Beschäftigung eine zunehmende Chronifizierung und Verschlimmerung der
psychischen Erkrankung mit Angst- und Somatisierungsstörungen sowie Panikattacken.
Unter Berücksichtigung dieses Umstandes müsse die gebotene Interessenabwägung zu
Lasten des Klägers ausgehen. Nachdem die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung
auch den Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt habe, seien gegen die Wirksamkeit der
Kündigung keine Bedenken zu erheben. Dementsprechend scheide auch der verfolgte
Anspruch auf Weiterbeschäftigung und Erteilung eines Zwischenzeugnisses aus.
Mit seiner rechtszeitig eingelegten und begründeten Berufung verfolgt der Kläger das
erstinstanzlich verfolgte Kündigungsfeststellungs- und Weiterbeschäftigungsbegehren
unverändert weiter und tritt insbesondere den arbeitsgerichtlichen Ausführungen zur
Frage der negativen Zukunftsprognose entgegen. Tatsächlich habe die Beklagte zu
keinem Zeitpunkt eine Prognoseentscheidung getroffen und zuletzt sich auch nicht mehr
um eine weitere Klärung des klägerseitigen Gesundheitszustandes bemüht, sondern als
Reaktion auf das klägerseitige Schreiben vom 14.04.2008 von einem weiteren
Abwarten des Genesungsprozesses und der bevorstehenden Reha- Maßnahme
abgesehen und sich für eine zeitnahe Entlassung des Klägers entschieden.
Abweichend vom Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils werde durch das
eingeholte Sachverständigengutachten die behauptete negative Zukunftsprognose auch
keinesfalls überzeugend belegt. Wie dem Gutachten selbst zu entnehmen sei, seien die
dem Sachverständigen zugänglichen Fremdbefunde unvollständig gewesen, was auf
ein dem Kläger nicht zuzurechnendes Missverständnis zurückgehe. Aufgrund dessen
habe er es versäumt, dem Sachverständigen die vollständigen Arztberichte über die
vorangehenden Behandlungsmaßnahmen aus dem Zeitraum ab Ende 2007 bis zum
Kündigungsausspruch zugängig zu machen. Schon die Unvollständigkeit der vom
Sachverständigen ausgewerteten Unterlagen führe aber zu dem Ergebnis, dass sich die
von der Beklagten behauptete negative Zukunftsprognose mit dem gerichtlich
eingeholten Gutachten nicht belegen lasse. Dagegen, dass bereits im Zeitpunkt der
Kündigung eine Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit definitiv ausgeschlossen oder
vollständig ungewiss gewesen sei, spreche im Übrigen die Tatsache, dass der Kläger
bereits vor Erhalt der Kündigung - und zwar auf Verlangen der Krankenkasse vom
03.03.2008 - die nachfolgend bewilligte und durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme
beantragt habe. Wie aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlich, habe er selbst den
betreffenden Antrag bereits am 06.05.2008 – also vor Ausspruch der Kündigung –
unterzeichnet. Nach Eingang des Antrages bei der Krankenkasse am 15.05.2008 sei
der Antrag am 20.05.2008 bei der Deutschen Rentenversicherung eingegangen, welche
alsdann die Reha-Maßnahme mit Bescheid vom 03.07.2008 bewilligt habe. Schon
dieser Zeitablauf belege, dass im Zeitpunkt der Kündigung eine dauerhafte Erkrankung
ohne Besserungsaussicht keinesfalls habe angenommen werden können. Abgesehen
davon, dass der Kläger aus der Reha-Maßnahme letztlich als arbeitsfähig entlassen
worden und damit die behauptete negativer Zukunftsprognose widerlegt sei, habe die
Beklagte jedenfalls die Durchführung der im Kündigungszeitpunkt bereits beantragten
Reha-Maßnahme abwarten müssen. Schließlich habe die Beklagte auch ein
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entsprechendes betriebliches Eingliederungsmanagement gem. § 84 Abs. 2 SGB IX
unterlassen und damit die Prüfung eines leidensgerechten Einsatzes unter Reduzierung
der am zugewiesenen Arbeitsplatz bestehenden Stressbelastung versäumt und den
Betriebsrat nicht korrekt über den maßgeblichen Kündigungssachverhalt unterrichtet.
Der Kläger beantragt,
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unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Siegen vom
24.03.2009 - 2 Ca 734/08 –
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festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten
durch die Kündigung in Gestalt des Kündigungsschreibens der Beklagten
vom 13.05.2008 nicht beendet worden ist und
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die Beklagte zu verurteilen, den Kläger in tatsächlicher Hinsicht über den
angenommenen Ablauftermin des Arbeitsverhältnisses hinaus als
Techniker weiter zu beschäftigen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung
ihres erstinstanzlichen Vorbringens als zutreffend. Wie das Sachverständigengutachten
überzeugend belegt habe, seien im Kündigungszeitpunkt Anhaltspunkte für eine
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht ersichtlich und die Genesung des Klägers
damit vollständig ungewiss gewesen. Allein die Tatsache, dass dem Kläger nach
Ausspruch der Kündigung – mit Bescheid vom 03.07.2008 – eine
Rehabilitationsmaßnahme bewilligt worden sei, vermöge hieran nichts zu ändern, da es
sich insoweit um eine nachträgliche Änderung des Lebenssachverhalts handele. Etwas
anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass der Kläger bereits am 03.03.2008 zur
Antragstellung aufgefordert worden sei. Bei der Deutschen Rentenversicherung sei der
Antrag des Klägers jedenfalls erst nach Ausspruch der Kündigung – und zwar am
20.05.2008 – eingegangen. Ohnehin könne aus der Aufforderung an den Kläger, eine
Rehabilitationsmaßnahme zu beantragen, kein Indiz dafür gesehen werden, dass auf
diesem Wege die Arbeitsfähigkeit des Klägers für die bisherige Beschäftigung habe
wiederhergestellt werden sollen, vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass
das Ziel der Reha-Maßnahme darin bestanden habe, einer Gefährdung bzw. Minderung
der Erwerbsfähigkeit des Klägers im Allgemeinen entgegen zu treten und die weitere
generelle Verfügbarkeit des Klägers am Arbeitsmarkt abzuklären. Die tatsächliche
Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme belege im Übrigen deren Erfolglosigkeit,
wobei unter Berücksichtigung von Krankheitsursache und bisherigem Krankheitsverlauf
die Annahme berechtigt sei, dass eine Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit von
vornherein als aussichtslos anzusehen gewesen sei. Allein die Tatsache, dass im
Zeitpunkt der Kündigung die Bewilligung einer Reha-Maßnahme bevor gestanden
habe, sei unter diesen Umständen nicht geeignet, die vom Sachverständigen
überzeugend begründete negative Gesundheitsprognose in Frage zu stellen.
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Entscheidungsgründe
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Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Sie führt unter Abänderung des
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arbeitsgerichtlichen Urteils zur antragsgemäßen Feststellung, dass das zwischen den
Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die angegriffene Kündigung nicht beendet
worden ist. Weiter ist die Beklagte verpflichtet, den Kläger bis zum Abschluss des
Rechtsstreits arbeitsvertragsgemäß weiter zu beschäftigen.
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Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ist durch die angegriffene
Kündigung nicht beendet worden.
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1. Entgegen der Auffassung des Klägers bestehen allerdings keine Bedenken gegen
die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung. Wie das Arbeitsgericht zutreffend
ausgeführt hat, hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat diejenigen Gründe zu nennen,
welche ihn zur Kündigung veranlassen. Allein die Tatsache, dass die Beklagte den
Betriebsrat u.a. auch über das Schreiben des Klägervertreters – betreffend das Ziel
einer einvernehmlichen Vertragsbeendigung gegen Zahlung einer Abfindung –
unterrichtet hat, ändert nichts daran, dass der Grund für die Kündigung – auch für den
Betriebsrat ersichtlich – in der lang anhaltenden Erkrankung des Klägers und der
Einschätzung liegt, dass eine Wiederaufnahme der Arbeit in einem überschaubaren
Zeitraum nicht zu erwarten ist. Die Erwähnung der Tatsache, dass der Kläger auf der
Grundlage des vorgelegten Anwaltsschreibens keine weitere Beschäftigung, sondern
ein Ausscheiden gegen Zahlung einer Abfindung anstrebt, dient erkennbar zur
Begründung des Standpunktes der Beklagten, ein weiteres Abwarten in der Frage der
Neubesetzung des Arbeitsplatzes sei nicht sinnvoll. Von einer unrichtigen oder
irreführenden Unterrichtung des Betriebsrats kann demgegenüber keine Rede sein.
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2. Die ausgesprochene Kündigung erweist sich jedoch als sozialwidrig im Sinne des § 1
KSchG. Jedenfalls unter Berücksichtigung der ergänzenden Ausführungen der Parteien
im zweiten Rechtszuge vermag die Kammer dem Standpunkt des Arbeitsgerichts nicht
zu folgen, im Zeitpunkt der Kündigung sei die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
des Klägers vollständig ungewiss gewesen.
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a) Soweit der Kläger der arbeitsgerichtlichen Entscheidung entgegenhält, die Beklagte
habe gar keine "Prognoseentscheidung" getroffen, greift dieser Einwand allerdings nicht
durch. Anders als bei der sog. "freien Unternehmerentscheidung" bei der
betriebsbedingten Kündigung geht es bei der krankheitsbedingten Kündigung nicht um
eine Gestaltungsentscheidung des Arbeitgebers oder einen vom Arbeitgeber zu
vollziehenden Erkenntnisakt vor Ausspruch der Kündigung, vielmehr betrifft der
Gesichtspunkt der "negativen Zukunftsprognose" die vom Gericht vorzunehmende
rechtlichen Prüfung, inwiefern aufgrund der vorgetragenen und festgestellten Tatsachen
- Art und bisheriger Dauer der Erkrankung, fachlicher Stellungnahmen von Ärzten und
Sachverständigen - mit einer Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit zu rechnen bzw. eine
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Weder der
subjektive Erkenntnisstand des Arbeitgebers noch eine etwa unterlassene Erkundigung
oder eine vom Arbeitgeber getroffene "Prognoseentscheidung" sind damit für die soziale
Rechtfertigung der Kündigung von Belang, vielmehr betrifft die Feststellung der
"negativen Zukunftsprognose" den gerichtlichen Akt von Erkenntnis- und
Entscheidungsfindung.
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b) Zutreffend hat das Arbeitsgericht bei der rechtlichen Prüfung der Kündigung zunächst
das Vorliegen einer "lang anhaltenden" Erkrankung bejaht und in Übereinstimmung mit
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der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darauf abgestellt, dass im Falle der
vollständigen Ungewissheit der Genesung dem Arbeitgeber die Aufrechterhaltung des
Arbeitsverhältnisses regelmäßig nicht zuzumuten ist, weil er auf unabsehbare Zeit
gehindert ist, sein Direktionsrecht auszuüben. Für diese Beurteilung kommt zum einen
dem bisherigen Krankheitsverlauf erhebliche Bedeutung zu, wobei – wie das
Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat – allein die Verhältnisse im Zeitpunkt der
Kündigung maßgeblich sind und ein später in Gang gesetzter Kausalverlauf keine
Berücksichtigung finden kann. Hiervon zu unterscheiden sind demgegenüber solche
Umstände, aus welchen sich bereits im Zeitpunkt der Kündigung Anhaltspunkte für eine
mögliche positive Entwicklung des Krankheitsverlaufs ergeben können. Anders als etwa
bei einer nachträglichen Änderung der ärztlichen Behandlungsmethoden oder
erfolgreicher Durchführung einer zuvor abgelehnten Operation o.ä., welche aus
Rechtsgründen unberücksichtigt bleiben müssen, sind Tatsachen, welche bereits im
Zeitpunkt der Kündigung vorliegen, in die Beurteilung der Zukunftsprognose
einzubeziehen (BAG 21.02.2001, EzA §1 KSchG Krankheit Nr. 48; KR-Griebeling, 9.
Aufl., § 1 KSchG Rn 325). Dementsprechend lässt eine bevorstehende Heilbehandlung
die Feststellung einer negativen Zukunftsprognose regelmäßig nicht zu (Lepke,
Kündigung bei Krankheit, 13. Aufl., S. 135 Rn 159). Selbst wenn die bereits vor
Ausspruch der Kündigung vorgesehene Heilbehandlung sich im Nachhinein nicht als
erfolgreich erwiesen hat, folgt hieraus – von einer zweifelsfreien Fehldiagnose
abgesehen - keineswegs, dass von vornherein ein Einfluss auf die künftige Entwicklung
des Krankheitsgeschehens ausgeschlossen war.
c) Vorliegend war im Zeitpunkt der Kündigung die später vom Kläger absolvierte Reha-
Maßnahme zwar noch nicht bewilligt, bereits am 03.03.2008 war der Kläger jedoch von
der Krankenkasse zu entsprechender Antragsstellung aufgefordert worden. Tatsächlich
hat der Kläger auch mit ärztlicher Hilfestellung einen entsprechenden Reha-Antrag
gestellt und diesen seinerseits am 06.05. – also noch vor Ausspruch der Kündigung
durch die Beklagte – unterzeichnet. Gleich ob es für die Wirksamkeit der Antragstellung
auf den Eingang bei der Krankenkasse am 15.05. oder beim Rentenversicherungsträger
am 20.05. ankommt, war damit doch bereits im Zeitpunkt der Kündigung ein
entsprechender Kausalverlauf in Gang gesetzt, welcher letztendlich zur Bewilligung und
Durchführung der Reha-Maßnahme geführt hat. Nicht hingegen ist der Kläger erst nach
Zugang der Kündigung zu der Entscheidung gelangt, sich einer Reha-Maßnahme zu
unterziehen.
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d) Wie sich allerdings aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergibt, ist der
Gutachter auf der Grundlage der ihm vorliegenden Fremdbefunde sowie der eigenen
Untersuchung des Klägers, welche zeitlich unmittelbar vor Abschluss der Reha-
Maßnahme stattgefunden hat, zu der Auffassung gelangt, im Zeitpunkt der Kündigung
sei die Prognose berechtigt gewesen, der Kläger könne unter Berücksichtigung des
Krankheitsbildes und der konkreten vertraglichen Aufgabenstellung auch künftig seine
vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllen. Für dieses Ergebnis spreche auch, dass der
Kläger nach dem Entlassungsbericht nicht einschränkungslos, sondern "auf eigenen
Wunsch" als arbeitsfähig entlassen worden sei und dringend die Fortsetzung einer
ambulanten Psychotherapie empfohlen werde.
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(1) Auch wenn man – abweichend von den Einwänden des Klägers - in
Übereinstimmung mit dem Sachverständigengutachten davon ausgeht, dass die
durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme nicht zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit
für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit geführt hat, sondern im Gegenteil die Gefahr einer
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Chronifizierung der Erkrankung besteht, muss aus Rechtsgründen beachtet werden,
dass allein die Erfolglosigkeit der durchgeführten Reha-Maßnahme nicht ohne weiteres
die Schlussfolgerung erlaubt, bereits im Zeitpunkt der Beantragung oder Bewilligung der
Maßnahme sei deren Durchführung nicht erfolgversprechend oder aussichtslos
gewesen. Allein für diesen Fall ließ sich aber die volle Überzeugung des Gerichts
begründen, im Zeitpunkt der Kündigung sei die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit
vollständig ungewiss gewesen. Im Gegenteil spricht die Bewilligung und Durchführung
einer Rehabilitationsmaßnahme grundsätzlich dafür, dass aus medizinischer Sicht eine
Verbesserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes jedenfalls versucht werden
soll.
(2) Soweit die Beklagte demgegenüber den Standpunkt vertritt, die Veranlassung der
Rehabilitationsmaßnahme durch die Krankenkasse wie auch deren nachfolgende
Bewilligung durch die Rentenversicherung habe allein dem Ziel gedient, die
Einsatzfähigkeit des Klägers für eine Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt wieder
herzustellen und eine Verrentung des Klägers zu vermeiden, greift dieser Einwand im
Ergebnis nicht durch. Zwar ist richtig, dass der Kläger von der Krankenkasse unter
Hinweis auf eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zur
Antragstellung aufgefordert worden ist, nachdem der behandelnde Arzt keinen
kurzfristigen Zeitpunkt, zu welchem die bestehende Arbeitsunfähigkeit enden werde,
mitgeteilt hatte. Nach den Feststellungen des medizinischen Dienstes lag damit eine
erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Klägers vor. Dies allein genügt jedoch
nicht zur Annahme, mit Hilfe der Rehabilitationsmaßnahme sollten allein die
Voraussetzungen für die Aufnahme irgendeiner zumutbaren Erwerbstätigkeit am
Arbeitsmarkt geschaffen werden, eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für die
zuletzt ausgeübte Tätigkeit scheide demgegenüber nach Art des Krankheitsbildes
ohnehin aus. Weder bieten die vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte für eine solche
Einschätzung, noch legt die Art der Erkrankung die Bewertung nahe, der Kläger könne
mit Hilfe der Rehabilitationsmaßnahme Arbeitsfähigkeit nur für eine andere als für die
bislang ausgeübte Tätigkeit erlangen. Dass die Rehabilitation nicht von der
Krankenkasse als Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 40 SGB V), sondern
vom Rentenversicherungsträger als Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 15
SGB VI) bewilligt worden ist, beruht auf der Vorrang-Regelung des § 40 Abs. 4 SGB V
und lässt damit keineswegs den Schluss zu, eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
für die bislang ausgeübte Tätigkeit sei ohnehin nicht angestrebt oder zu erreichen. Auch
die vom Rentenversicherungsträger bewilligte medizinische Rehabilitation dient, wie die
Verweisung in § 15 SGB VI auf §§ 26- 30 SGB IX belegt, nicht allein dem Erhalt der
Erwerbsfähigkeit zur Vermeidung der Verrentung, sondern – wie am Beispiel der
stufenweisen Wiedereingliederung gem. § 28 SGB IX ersichtlich – umfassend dem Ziel,
die Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit zu ermöglichen.
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(3) Allein der Umstand, dass die Reha-Maßnahme letztlich nicht zur uneingeschränkten
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers geführt hat, bietet keine hinreichend
Grundlage für die Annahme, bereits im Zeitpunkt der Kündigung sei die Reha-
Maßnahme als medizinisch ungeeignet oder sonstwie aussichtslos anzusehen
gewesen. Anders als bei somatischen Erkrankungen, bei welchen – je nach den
Umständen – schon im Vorhinein eine Einschränkung hinsichtlich der zu erwartenden
Heilerfolge absehbar erscheint, bietet die beim Kläger vorliegende psychische
Erkrankung für eine derart eingeschränkte Erfolgsperspektive keine ausreichend sichere
Grundlage. Träfe die Auffassung zu, die vom Kläger durchgeführte Reha-Maßnahme sei
von vornherein ungeeignet gewesen, eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für die
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bisherige Tätigkeit zu ermöglichen, so wäre nicht zu erklären, warum der Kläger aus der
Reha-Maßnahme "auf seinen Wunsch hin arbeitsfähig und leistungsfähig für 6 Stunden
und mehr für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Anwendungstechniker und auch für den
allgemeinen Arbeitsmarkt mit bestimmten Leistungseinschränkungen" entlassen worden
wäre. Die Formulierung "auf seinen Wunsch" macht zwar deutlich, dass ohne einen
entsprechenden Wunsch aus rein medizinischer Sicht keine uneingeschränkte
Einsatzfähigkeit des Klägers attestiert worden wäre, vielmehr in
psychosomatischer/psychotherapeutischer Sicht weiterhin Probleme im beruflichen und
persönlichen Umfeld zu erwarten sind, weshalb dringend die Fortsetzung einer
ambulanten Psychotherapie empfohlen wird. Andererseits kommt den genannten
Leistungseinschränkungen ersichtlich keine solche Bedeutung zu, dass aus ärztlicher
Sicht eine Wiederaufnahme der bisherigen Arbeit überhaupt ausscheidet. Träfe dies zu,
wäre die Aussage "arbeitsfähig auf eigenen Wunsch" bei geforderter ambulanter
Fortsetzung der Behandlung ohne Sinn.
Gleich ob also der Einschätzung über den begrenzten Erfolg der Reha-Maßnahme im
Entlassungsbericht der Klinik zu folgen ist, oder – in Übereinstimmung mit dem
gerichtlichen Sachverständigengutachten – eine Fortsetzung der Arbeit am bisherigen
Arbeitsplatz in jedem Falle ausscheiden muss, kann auf dieser Grundlage jedenfalls
nicht die Überzeugung gewonnen werden, die Rehabilitationsmaßnahme sei von
Vornherein gar nicht geeignet gewesen, zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des
Klägers am bisherigen Arbeitsplatz beizutragen.
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(4) Schließlich kann auch der Umstand, dass der Kläger selbst im Vorfeld der
Kündigung über seinen Prozessbevollmächtigten zum Ausdruck gebracht hat, für die
Stabilisierung seines Gesundheitszustandes sei eine Beendigung des
Arbeitsverhältnisses vorteilhaft, nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Allein die
Tatsache, dass der Kläger in Kenntnis der in Aussicht genommenen
Rehabilitationsmaßnahme im Vorfeld der Kündigung die Einschätzung geäußert hat, die
Vermeidung langer Fahrtwege sei der Stabilisierung des Gesundheitszustandes
dienlich, bedeutet weder, dass er selbst von der Aussichtslosigkeit weiterer
Heilbehandlungsmaßnahmen ausgegangen ist, noch ist eine Rechtsgrundlage
erkennbar, aus welcher eine derartige "prozessuale Selbstbindung" hergeleitet werden
könnte.
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e) Unter Berücksichtigung der gesetzliche Beweislastverteilung gem. § 1 Abs. 2 S. 4
KSchG gehen verbleibende Zweifel zu Lasten der Beklagten. Soweit die Beklagte
demgegenüber ausführt, allein Dauer und Art der vom Sachverständigen festgestellten
Erkrankung seien als beweiskräftige Indizien zum Nachweis der behaupteten negativen
Zukunftsprognose anzusehen, weswegen es Sache des Klägers sei, die genannten
Indizien zumindest zu erschüttern, überzeugt dies nicht.
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Die Tatsache, dass der Kläger im Zeitpunkt der Kündigung bereits seit langer Zeit
arbeitsunfähig krank war, stellt zunächst einmal allein eine "Hilfstatsache der
Darlegung" dar, mit welcher der Arbeitgeber die behauptete negative Zukunftsprognose
durch die Angabe von Tatsachen substantiiert - ohne entsprechenden Tatsachenvortrag
wäre von einem Vortrag ins Blaue hinein auszugehen. Hat der Arbeitnehmer die vom
Arbeitgeber substantiiert behauptete negative Zukunftsprognose wirksam bestritten, so
kann – von einfach gelagerten Sachverhalten abgesehen – der Beweis der negativen
Zukunftsprognose nicht schon mit Hilfe der genannten Indiztatsachen geführt werden,
vielmehr bedarf es – wie auch das Arbeitsgericht zutreffend angenommen hat – der
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Einholung ärztlicher Stellungnahmen oder eines Sachverständigengutachtens; die
Fehlzeiten der Vergangenheit sind allenfalls im Zusammenhang mit den weiteren
Beweismitteln zur Überzeugungsbildung des Gerichts von Belang.
Dementsprechend ist es im Kündigungsschutzprozess nicht Sache des Arbeitnehmers,
die bereits durch die Fehlzeiten der Vergangenheit begründete Überzeugung des
Gerichts durch gegenteilige Indizien zu erschüttern oder gar den Gegenbeweis zu
führen, vielmehr verbleibt es dabei, dass der Arbeitgeber - nach wirksamem Bestreiten
des Arbeitnehmers - dem Gericht durch geeignete Beweismittel die volle Überzeugung
davon zu vermitteln hat, dass mit der Fortdauer der Erkrankung auf unabsehbare Dauer
zu rechnen ist. Hieran fehlt es aus den dargestellten Gründen, so dass die Kündigung
als sozialwidrig angesehen werden muss.
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3. Auf die weitere, vom Kläger in der Berufungsbegründung angesprochene Frage des
unterbliebenen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX kommt es unter
diesen Umständen nicht an. Soweit die Beklagte ausführt, aufgrund der vorliegenden
Erkrankung des Klägers sei ein solches Eingliederungsmanagement ohnehin
aussichtslos gewesen, da nach den Feststellungen des Sachverständigen eine
Beschäftigung am bisherigen Arbeitsplatz nicht in Betracht komme, ist dem allerdings
entgegen zu halten, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement gerade darauf
abzielt, dem Arbeitnehmer eine Beschäftigung gegebenenfalls auch zu
leidensgerechten Arbeitsbedingungen an einem anderen Arbeitsplatz zu erhalten. Nach
dem Inhalt des Arbeitsvertrages ist der Kläger nicht konkret für die zuletzt ausgeübte
Tätigkeit, sondern allgemein als Anwendungstechniker eingestellt, wobei sich die
Beklagte ausdrücklich einen anderweitigen Einsatz vorbehalten hat. Geht man auf der
Grundlage des Sachverständigengutachtens davon aus, dass die konkreten
Bedingungen der bisherigen Tätigkeit, insbesondere die Notwendigkeit des
Kundenkontakts, der Kommunikation und der hiermit verbundenen Stressbelastung mit
dem festgestellten Krankheitsbild nicht vereinbar sind, käme unter gesundheitlichen
Gesichtspunkten ein Einsatz an anderer Stelle in Betracht. Allein die Tatsache, dass im
Kündigungszeitpunkt ein anderer vertrags- und leidensgerechter Arbeitsplatz nicht frei
war, genügt nicht zur Annahme, bei Durchführung eines betrieblichen
Eingliederungsmanagements unter Beteiligung des Betriebsrats – und zwar bereits zu
dem in § 84 Abs. 2 SGB maßgeblichen Zeitpunkt – sei eine den
Leistungseinschränkungen des Klägers angepasste Beschäftigung – gegebenenfalls
auch im Wege des Arbeitsplatztausches – nicht möglich gewesen. Einer näheren
Aufklärung in dieser Hinsicht bedarf es jedoch nicht, da sich die Kündigung bereits aus
den vorstehend genannten Gründen als sozialwidrig erweist.
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II
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Wegen des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses ist die Beklagte verpflichtet, den
Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens arbeitsvertragsgemäß weiter
zu beschäftigen. Da der Kläger mit seinem Antrag nicht die Beschäftigung auf seinen
früheren Arbeitsplatz, sondern allein die Beschäftigung als Techniker verlangt, bestehen
gegen die Verurteilung der Beklagten zur Weiterbeschäftigung trotz der vom
Sachverständigen benannten Einschränkungen keine Bedenken.
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III
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Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen, da sie unterlegen ist.
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IV
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 ArbGG liegen nicht
vor.
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