Urteil des LAG Düsseldorf vom 30.09.2010

LArbG Düsseldorf (höhe, rechtsfrage von grundsätzlicher bedeutung, urlaub, juristische person, arbeitsgericht, arbeitsunfähigkeit, berechnung, arbeitgeber, verfall, arbeitsverhältnis)

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 5 Sa 353/10
Datum:
30.09.2010
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 Sa 353/10
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Mönchengladbach, 7 Ca 1179/09
Schlagworte:
Gesetzlicher Mindesturlaub, Tariflicher Mehrurlaub, Urlaubsbestimmung
Normen:
§ 7 Abs. 3 BUrlG, § 366 BGB
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
1) Gewährt der Arbeitgeber neben dem gesetzlichen Urlaub tariflichen
Mehrurlaub, findet § 366 Abs. 2 BGB entsprechende Anwendung, wenn
der Arbeitnehmer Urlaub nimmt. 2) Im Zweifel gewährt der Arbeitgeber
zunächst den (verfallbaren) tariflichen Urlaub und alsdann den
gesetzlichen Mindesturlaub.
Tenor:
1) Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Ar-
beitsgerichts Mönchengladbach vom 17.01.2010
- 7 Ca 1179/09 - teilweise abgeändert und wie folgt neu
gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.480,10 € brutto nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz seit dem 01.03.2009 zu zahlen.
Die Widerklage wird abgewiesen.
2)Die weitergehende Klage und die weitergehende Beru-
fung der Klägerin werden zurückgewiesen.
3)Die Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen die Klägerin und die
Beklagte je zur Hälfte; die Kosten des
Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 1/6, die Beklagte zu 5/6.
4)Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
T A T B E S T A N D :
1
Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug noch über die Frage, ob die Beklagte
verpflichtet ist, der Klägerin restliche Urlaubsabgeltung für zehn Urlaubstage für das
Jahr 2007 und restliches Urlaubsgeld für die Jahre 2006 und 2007 zu zahlen.
2
Die am 02.09.1968 geborene Klägerin ist seit dem 01.02.1986 bei der Beklagten als
Angestellte beschäftigt. Grundlage des Anstellungsverhältnisses der Parteien bildete
zuletzt ein Anstellungsvertrag vom 01.07.1988, in dem es unter anderem heißt:
3
Für das Angestelltenverhältnis gelten die für das Sanitär-Installateurhandwerk jeweils
gültigen Bestimmungen des Tarifvertrages.
4
In dem „Manteltarifvertrag für das Installateur- und Heizungsbauer-, Klempner-, Behälter-
und Apparatebauer-Handwerk im Land Nordrhein-Westfalen“ (MTV) vom 01.07.2007
heißt es unter anderem wie folgt:
5
§ 7
6
Allgemeine Urlaubsbestimmungen
7
...
8
6.Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei
denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder dass der Urlaub aus betrieblichen
Gründen nicht genommen werden konnte.
9
Liegt eine ununterbrochene Krankheit während eines gesamten Kalenderjahres vor und
dauert diese Krankheit auch noch am 31.03. des folgendes Kalenderjahres an, so
erlischt der Anspruch für das zurückliegende Kalenderjahr, es sei denn, die
Arbeitsunfähigkeit ist durch einen Betriebsunfall/Wegeunfall im Sinne des SGB
(Sozialgesetzbuch) verursacht.
10
7.Der Anspruch auf bezahlten Urlaub wird um so viel Tage gekürzt, wie der
Arbeitnehmer seit seinem letzten Urlaub oder, falls er noch keinen Urlaub genommen
hat, seit seinem Eintritt in den Betrieb unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben ist
(Fehltage). Der Mindesturlaub gemäß Bundesurlaubsgesetz darf jedoch nicht
unterschritten werden.
11
...
12
§ 13
13
Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis
14
1.Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, insbesondere Ansprüche auf Zahlung von
Zuschlägen und Entschädigungen für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend
gemacht werden.
15
2.Ansprüche, die nicht innerhalb dieser Fristen schriftlich geltend gemacht werden, sind
verwirkt, es sei denn, dass der Anspruchsberechtigte trotz Anwendung der ihm nach
16
Lage der Umstände zumutbaren Sorgfalt verhindert war, diese Fristen einzuhalten.
3.Bleibt die Geltendmachung erfolglos, so tritt die Verwirkung nicht ein. Vielmehr gilt
dann die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB.
17
Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Kalenderjahres, in
welchem der Anspruch entstanden ist.
18
4.Durch Ausgleichsquittung können unverzichtbare Ansprüche aus dem
Arbeitsverhältnis nicht aufgegeben werden.
19
Die Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Sie war seit
dem 29.04.2008 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.
20
Die Beklagte kündigte das mit ihr bestehende Arbeitsverhältnis am 16.10.2008
fristgerecht zum 28.02.2009.
21
Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 17.03.2009 diverse Restvergütungs- und
Urlaubsabgeltungsansprüche geltend gemacht hatte, leistete die Beklagte in der
Folgezeit Teilzahlungen auf die verschiedenen Ansprüche (siehe hierzu die Aufstellung
der Klägerin Bl. 8 und 9 d. A.).
22
Mit ihrer am 09.04.2009 beim Arbeitsgericht Mönchengladbach anhängig gemachten
Klage hat die Klägerin die Zahlung von Urlaubsabgeltung, Urlaubsgeld und
Überstunden geltend gemacht.
23
Zum Urlaubsabgeltungsanspruch für die Jahre 2007 bis 2009 hat sie zunächst auf den
MTV verwiesen, wonach ihr pro Jahr 30 Urlaubstage zustünden. Die Klägerin hat hierzu
behauptet, sie hätte im Jahre 2007 insgesamt 15 Urlaubstage genommen, so dass ihr
noch weitere 15 Tage zustünden.
24
Für das Jahr 2008, so die Klägerin weiter, seien noch 33,5 Tage abzugelten und für das
Jahr 2009 insgesamt 6 Tage.
25
Die Klägerin hat hieraus einen Gesamtanspruch von 54,5 Urlaubstagen errechnet, auf
den die Beklagte - insoweit unstreitig - Abgeltung für 29,5 Urlaubstage geleistet hat.
26
Bei der Berechnung der Urlaubsabgeltung hat die Klägerin einen Tagessatz in Höhe
von 120,64 € brutto in Ansatz gebracht und einen Urlaubsabgeltungsanspruch in Höhe
von 3.150,50 € brutto errechnet.
27
Die Klägerin hat des Weiteren Urlaubsgeld für die Jahre 2006 bis 2009 geltend gemacht
und insoweit vorgetragen, dass die Berechnung fehlerhaft auf der Basis von 161
Stunden pro Monat erfolgt sei. Nach den einschlägigen tariflichen Vorschriften hätten
hingegen 222 Stunden pro Monat in Ansatz gebracht werden müssen. Hieraus errechne
sich - unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Zahlungen der Beklagten - eine
Restforderung in Höhe von 824,85 € brutto.
28
Schließlich hat die Klägerin Vergütung für von ihr geleistete 14,25 Überstunden in Höhe
von 290,35 € beansprucht und insgesamt beantragt,
29
die Beklagte zu verurteilen, an sie 4.130,70 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 01.03.2009 als
weitere Vergütung zu zahlen.
30
Die Beklagte hat beantragt,
31
die Klage abzuweisen.
32
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, nach der neuen Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts zum Verfall von Urlaubsansprüchen sei davon auszugehen, dass
letztlich der gesetzliche Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz sowie der
Schwerbehindertenzusatzurlaub nach § 125 SGB IX nicht mehr verfallen könnten und
damit auch vorliegend abzugelten wären. Die weitergehenden Ansprüche der Klägerin
auf tariflichen Mehrurlaub aus den Jahren 2007 und 2008 seien indessen verfallen, weil
es insoweit eine eigenständige Urlaubsregelung in § 7 MTV gäbe.
33
Die Beklagte hat darüber hinaus behauptet, entgegen der Darstellung der Klägerin hätte
sie im Jahre 2008 zehn Tage Urlaub erhalten.
34
Hinsichtlich des Urlaubsgeldes hat die Beklagte darauf verwiesen, dass die fehlerhafte
Berechnung durch die Klägerin selbst erfolgt sei - ihr werde es dementsprechend
verwehrt, sich auf diese Falschberechnung zu berufen.
35
Die Beklagte hat nach allem die Auffassung vertreten, dass die Klägerin bereits
überzahlt wäre und hat deshalb im Wege der Widerklage beantragt,
36
die Klägerin zu verurteilen, an sie einen Betrag in Höhe von 2.508,57 € brutto nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem
01.04.2009 zu zahlen.
37
Die Klägerin hat beantragt,
38
die Widerklage abzuweisen.
39
Sie ist der Darstellung der Beklagten zum Verfall der Urlaubsansprüche 2007 und 2008
entgegengetreten und hat vorgetragen, es bestehe eine betriebliche Übung bei der
Beklagten, wonach Urlaub über den 31.03. des Folgejahres mitgenommen werden
konnte. Darüber hinaus hat die Klägerin die Auffassung vertreten, dass der MTV keine
eigenständige Regelung über den tariflichen Mehrurlaub enthalte, so dass auch die
tariflichen Mehrarbeitsansprüche nicht verfallen wären.
40
Mit Urteil vom 27.01.2010 hat die 7. Kammer des Arbeitsgerichts Mönchengladbach - 7
Ca 1179/09 - dem Klagebegehren teilweise entsprochen und die Beklagte zur Zahlung
von Urlaubsabgeltung in Höhe von 1.809,60 € brutto und Urlaubsgeld in Höhe von
66,30 € brutto verurteilt. In den Entscheidungsgründen, auf die im Übrigen Bezug
genommen wird, hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Klägerin hätte im Jahre 2007 15
Tage Urlaub erhalten, der gemäß § 366 Abs. 2 BGB auf den gesetzlichen
Urlaubsanspruch geleistet worden wäre. Es verblieben 5 Tage Urlaubsabgeltung, die
trotz der durchgehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht verfallen wären.
Demgegenüber seien 10 Tage tariflicher Mehrurlaub verfallen, weil sich insoweit in § 7
MTV eine eigenständige Regelung des tariflichen Mehrurlaubs befände.
41
Der Urlaub für das Jahr 2008 sei, soweit der gesetzliche Urlaub betroffen wäre, nicht
verfallen und kraft betrieblicher Übung auf das Jahr 2009 übertragen worden.
Zusammen mit dem Urlaubsanspruch für das Jahr 2009 ergebe sich danach ein
Gesamtanspruch von 44,33 Tagen, auf den die Beklagte unstreitig 29,5 Tage gezahlt
hätte, so dass noch insgesamt 14,83 Tage abzugelten wären.
42
Urlaubsgeld, so das Arbeitsgericht weiter, könne die Klägerin nur für das Jahr 2007 in
Anspruch nehmen; ihr stehe insoweit der Differenzbetrag in Höhe von 66,30 € brutto zu,
der sich aus der fehlerhaften Berechnung in der Vergangenheit ergäbe. Der
Urlaubsgeldanspruch für das Jahr 2006 sei verfallen, der für die Jahre 2008 und 2009
durch die Beklagte erfüllt.
43
Das Arbeitsgericht hat schließlich den Anspruch der Klägerin auf Vergütung von
Überstunden für unbegründet erklärt und die Widerklage als ebenso unbegründet
abgewiesen.
44
Die Klägerin hat gegen das ihr am 22.02.2010 zugestellte Urteil mit einem am
10.03.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt
und diese - nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 14.05.2010 - mit
einem am 12.05.2010 eingegangenen Schriftsatz begründet.
45
Sie wiederholt zunächst ihren Sachvortrag aus dem ersten Rechtszug und vertritt auch
weiterhin die Auffassung, dass sich in § 7 MTV keine eigenständige Regelung des
tariflichen Mehrurlaubs befände, so dass auch ein Verfall dieser Urlaubsansprüche nicht
angenommen werden könnte. Jedenfalls sei aber § 366 Abs. 2 BGB nicht zu Lasten der
Klägerin anzuwenden. Sie errechnet dementsprechend für weitere zehn Urlaubstage
aus dem Jahr 2007 einen Abgeltungsanspruch in Höhe von 1.206,40 € brutto.
46
Die Klägerin macht darüber hinaus für das Jahr 2007 auch weiterhin Urlaubsgeld in
Höhe von 331,50 € brutto geltend und verweist auf die bis dahin fehlerhafte Berechnung
in der Vergangenheit.
47
Schließlich begehrt sie noch Urlaubsgeld für das Jahr 2006 in Höhe von 397,80 € brutto
und bezieht sich auch insoweit auf die fehlerhafte Berechnung der
Urlaubsgeldansprüche in den zurückliegenden Jahren.
48
Sie beantragt,
49
das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 27.01.2010 - 7 Ca 1179/09 - wird
geändert, soweit das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen hat und die Beklagte wird zur
Zahlung weiterer 1.935,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.03.2009 verurteilt.
50
Die Beklagte beantragt,
51
die Berufung zurückzuweisen.
52
Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und wiederholt ebenfalls ihren Sachvortrag
aus der ersten Instanz. Sie bekräftigt ihre Rechtsauffassung, wonach der tarifliche
Mehrurlaub für das Jahr 2007 angesichts der eigenständigen Regelung in § 7 MTV
53
verfallen sei und dass darüber hinaus hinsichtlich der gewährten Urlaubstage § 366
Abs. 2 BGB anzuwenden wäre, und zwar zu Lasten der Klägerin. Hinsichtlich des
Urlaubsgeldes für das Jahr 2006 beruft sich die Beklagte auf die Verfallfrist des § 13
Abs. 1 MTV.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den
vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Urkunden und der zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze verwiesen.
54
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
55
I.
56
Die Berufung ist zulässig.
57
Sie ist nämlich an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des
Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 Ziffer b ArbGG) sowie form- und
fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, 519, 520
ZPO).
58
II.
59
In der Sache selbst hatte das Rechtsmittel zu einem großen Teil Erfolg.
60
Die Beklagte ist gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG i. V. m. dem zwischen den Parteien
geschlossenen Arbeitsvertrag und i. V. m. § 7 MTV verpflichtet, der Klägerin weitere
Urlaubsabgeltung in Höhe von 1.206,40 € brutto für das Jahr 2007 und Urlaubsgeld in
Höhe von 331,49 € brutto ebenfalls für das Jahr 2007 zu zahlen. Zusammen mit dem im
ersten Rechtszug ausgeurteilten Betrag errechnet sich hieraus der aus dem Tenor
ersichtliche Gesamtbetrag von 3.413,79 €.
61
Soweit die Klägerin darüber hinaus Urlaubsgeld auch für das Jahr 2006 beansprucht, ist
dieser Anspruch nach § 13 Abs. 1 MTV verfallen und die hierauf gerichtete Berufung
damit unbegründet.
62
1.Der Klägerin stehen für das Jahr 2007 noch restliche zehn Urlaubstage zur Verfügung,
die gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten sind.
63
1.1In Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Beklagten geht die erkennende
Berufungskammer zunächst davon aus, dass sich im einschlägigen MTV eine
eigenständige Regelung über den tariflichen Mehrurlaub befindet und hiernach -
eigentlich - von einem Verfall des Mehrurlaubs für das Jahr 2007 auszugehen ist.
64
1.1.1Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner neueren Rechtsprechung bereits mehrmals
betont, dass die Tarifvertragsparteien Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die
den von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1
BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen,
frei regeln können. Dabei hat das Bundesarbeitsgericht immer wieder bekräftigt, dass für
einen Regelungswillen, der zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen
Ansprüchen unterscheide, deutliche Anhaltspunkte bestehen müssten. Grundsätzlich
sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien nur ausnahmsweise vom
65
Gesetzesrecht abweichen wollten. Für einen abweichenden, durch Auslegung nach §§
133, 157 BGB zu ermittelnden übereinstimmenden Willen müssten deutliche
Anhaltspunkte bestehen. Diese deutlichen Anhaltspunkte müssen sich aus
Tarifwortlaut, -zusammenhang und -zweck sowie gegebenenfalls aus der
Tarifgeschichte ergeben (vgl. hierzu BAG 23.03.2010 - 9 AZR 128/09 - NZA 2010, 810;
BAG 24.03.2009 - 9 AZR 983/07 - AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG, jeweils m. w. N.).
1.1.2Hiernach finden sich im MTV ausreichende Anhaltspunkte für ein eigenständiges
Urlaubsregime und damit für eine eigenständige, von der gesetzlichen Regelung des §
7 Abs. 3 BUrlG abweichenden Behandlung des tariflichen Mehrurlaubs. Hinzuweisen ist
in diesem Zusammenhang auf die besondere Regelung in § 6 Ziffer 4 MTV, die eine
eigenständige, vom Bundesurlaubsgesetz losgelöste Regelung enthält. Dasselbe gilt für
§ 7 Abs. 6 MTV, der eine - ebenfalls vom Bundesurlaubsgesetz abweichende -
Verfallsregelung enthält. Auch in § 7 Abs. 7 MTV wird deutlich zwischen dem
gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz und dem tariflichen
Mehrurlaub unterschieden.
66
1.1.3Erweist sich danach die tarifliche Regelung als eigenständig im Sinne der oben
dargestellten Rechtsprechung, so greift der bereits zitierte § 7 Abs. 6 MTV ein. Danach
wäre der tarifliche Mehrurlaub der Klägerin für das Jahr 2007 spätestens am 31.03.2009
wegen der durchgehenden Arbeitsunfähigkeit verfallen gewesen.
67
1.2Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten und - insoweit auch entgegen der
Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts - vertritt indessen die Berufungskammer die
Auffassung, dass der tarifliche Mehrurlaub der Klägerin in Höhe von zehn Tagen für das
Jahr 2007 auch angesichts ihrer durchgehenden Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen
konnte, weil sie diese zehn Tage bereits im Jahre 2007 gewährt bekommen hat. Dies
folgt letztlich aus § 366 Abs. 2 BGB.
68
Nach dieser Norm wird dann, wenn der Schuldner keine Bestimmung betrifft, bei
Vorliegen mehrerer Schulden zunächst die fällige Schuld, unter mehreren fälligen
Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, getilgt. In der
Rechtsprechung wird derzeit heftig diskutiert, ob und wie die genannte Vorschrift in
Fällen der vorliegenden Art zur Anwendung gelangt.
69
1.2.1Das Landesarbeitsgericht Berlin (LAG Berlin-Brandenburg 02.12.2009 - 17 Sa
621/09 - n. v.) vertritt die Rechtsauffassung, dass eine Tilgungsbestimmung nach § 366
Abs. 2 BGB nicht in Betracht komme, weil § 366 Abs. 2 BGB das Bestehen mehrerer
Leistungspflichten voraussetzt. Hiervon könne aber mit Blick auf einen gesetzlichen und
einen tariflichen Urlaubsanspruch nicht ausgegangen werden.
70
Das Landesarbeitsgericht Hessen (Urteil vom 26.04.2010 - 17 Sa 1772/09 - n. v.) hat
ausgeführt, dass der gesetzliche und der tarifliche Urlaubsanspruch gemeinsam einen
einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub bildeten. Dies hätte zur Folge, dass der
Arbeitgeber - unabhängig von einer etwaigen Tilgungsbestimmung im Sinne von § 366
Abs. 2 BGB - zunächst auf den gesetzlichen Urlaubsanspruch und erst danach auf den
darüber hinausgehenden tariflichen Urlaubsanspruch leiste.
71
Auch das Bundesarbeitsgericht hat sich mit der hier zu diskutierenden Frage in der
Vergangenheit bereits beschäftigt und ausgeführt, dass der gesetzliche
Urlaubsanspruch unabdingbar sei. Erfülle der Arbeitgeber Urlaubsansprüche, sei nach
72
der Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB davon auszugehen, dass der Arbeitgeber
zunächst auf den gesetzlichen Urlaubsanspruch und sodann auf den
tariflichen/vertraglichen Urlaubsanspruch geleistet hätte (BAG 05.09.2002 - 9 AZR
244/01 - AP Nr. 17 zu § 3 BUrlG Fünf-Tage-Woche; BAG 24.10.1989 - 8 AZR 6/89 - n.
v.).
1.2.2Die erkennende Kammer meint, dass auf die vorliegende Fallkonstellation § 366
Abs. 2 BGB anzuwenden ist.
73
Dabei kann zunächst dahinstehen, ob eine unmittelbare Anwendung, wie offensichtlich
vom Bundesarbeitsgericht in den genannten, älteren Entscheidungen angenommen, in
Betracht kommt. Insofern spricht viel für die vom LAG Hessen (a. a. O.) hervorgehobene
Rechtsauffassung, dass der gesetzliche und der tarifliche Urlaubsanspruch einen
gemeinsamen einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub bildeten und demgemäß
nicht von mehreren Schulden im Sinne des § 366 Abs. 2 BGB ausgegangen werden
könnte.
74
Unterdessen bedarf die aufgeworfene Frage keiner abschließenden Klärung. § 366 Abs.
2 BGB ist nämlich mindestens analog auf die hier zu beurteilende Fallkonstellation
anzuwenden, weil der gesetzliche Mindesturlaub und der tarifliche Mehrurlaub nach
dem MTV mit differenzierten rechtlichen Schicksalen behaftet sind, die es nicht nur
geboten, sondern erforderlich machen, sie wie „mehrere Schulden“ im Sinne des § 366
Abs. 2 BGB zu behandeln. Wie oben ausführlich dargestellt, haben die
Tarifvertragsparteien für den tarifliche Mehrurlaub ein eigenes Urlaubsregime
geschaffen, das dazu führt, dass der tarifliche Mehrurlaub einer eigenen
Verfallsregelung zugeführt worden ist. Demgegenüber verbleibt es hinsichtlich des
gesetzlichen Mindesturlaubs von vier Wochen dabei, dass dieser auch angesichts der
durchgehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht verfallen konnte. Deshalb mag
man auch weiterhin von einem einheitlichen Urlaubsanspruch ausgehen; immerhin
kann dieser aber nicht insgesamt einheitlich bewertet werden und muss deshalb, wie es
§ 366 Abs. 2 BGB vorsieht, in eine Rangfolge oder Rangordnung gesetzt werden
können.
75
1.2.3Erweist sich damit § 366 Abs. 2 BGB als grundsätzlich anwendbar, so führt dies im
Ergebnis allerdings zu einer anderen Rechtsfolge als die, die bisher vom
Bundesarbeitsgericht angenommen worden ist.
76
Geht man, wie für die vorliegende Fallkonstellation wiederholt aufgezeigt, davon aus,
dass die Tarifvertragsparteien den tariflichen Mehrurlaub von zehn Tagen pro Jahr für
verfallbar erklärt haben, wenn und soweit die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer ihn
bis zum 31.03. des folgenden Kalenderjahres nicht nehmen konnte, so muss dieser Teil
des einheitlichen Urlaubsanspruchs als der unsicherere gegenüber dem gesetzlichen
Mindesturlaub angesehen werden, der ja auch angesichts der Arbeitsunfähigkeit der
Klägerin nicht verfallen konnte. Ist der tarifliche Anspruch auf Urlaub aber damit
derjenige, der der Klägerin (Gläubigerin) die geringere Sicherheit bietet, so folgt aus §
366 Abs. 2 BGB, dass dann erst dieser Urlaub gewährt wird, sofern keine besondere
Tilgungsbestimmung erfolgt oder eine anderweitige Vereinbarung vorliegt.
77
1.2.4Da die Beklagte aus Anlass der Urlaubsgewährung im Jahre 2007 nicht bestimmt
hat, wie sich die - unstreitig gewährten - 15 Tage zusammensetzen, ist festzuhalten,
dass zunächst zehn Urlaubstage auf den tariflichen Mehrurlaub gewährt wurden und die
78
restlichen fünf Tage auf den gesetzlichen Mindesturlaub. Demnach stehen der Klägerin
weitere zehn, nicht verfallene Urlaubstage als Abgeltungsgrundlage zur Verfügung.
1.2.5Diese zehn Urlaubstage konnten auch angesichts der durchgehenden
Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht verfallen, da sie dem gesetzlichen Mindesturlaub
des § 3 BUrlG unterfallen. Es wird insoweit auf die nunmehr schon ständige
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und auf die zutreffenden Erwägungen des
Arbeitsgerichts auf Seite 5 der Entscheidungsgründe verwiesen, denen sich die
erkennende Kammer in vollem Umfang anschließt.
79
2.Der Klägerin stehen für das Jahr 2007 weitere 331,49 € brutto als Urlaubsgeld zu.
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Berechnung der Urlaubsgelder für die
Jahre 2006 und 2007 fehlerhaft erfolgt ist, so dass die - von der Höhe her unstreitige -
Nachforderung der Klägerin berechtigt ist.
80
3.Demgegenüber ist der Anspruch der Klägerin auf Urlaubsgeld für das Jahr 2006
gemäß § 13 Abs. 1 MTV verfallen.
81
Demgegenüber kann sich die Klägerin nicht auf § 13 Abs. 2 MTV berufen. Danach
beginnt die dreimonatige Verfallfrist dann nicht zu laufen, wenn der
Anspruchsberechtigte trotz Anwendung der ihm nach Lage der Umstände zumutbaren
Sorgfalt verhindert war, die Frist des § 13 Abs. 1 MTV einzuhalten. Hiervon kann aber
gerade nicht ausgegangen werden. Der Klägerin als der zuständigen Sachbearbeiterin
war es ohne weiteres möglich, die richtige Berechnungsgrundlage anhand der
einschlägigen Vorschriften des MTV herauszusuchen und umzusetzen. Wenn sie dies
nicht tat, kann das unsorgfältige Verhalten den Lauf der Verfallfrist des § 13 Abs. 1 MTV
nicht verhindern.
82
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97 ZPO.
83
Die erkennende Kammer hat die Revision für die Beklagte zugelassen, weil sie das
Vorliegen einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
bejaht hat, § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG.
84
R E C H T S M I T T E L B E L E H R U N G :
85
Gegen dieses Urteil kann von der Beklagten
86
R E V I S I O N
87
eingelegt werden.
88
Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich beim
89
Bundesarbeitsgericht
90
Hugo-Preuß-Platz 1
91
99084 Erfurt
92
Fax: 0361 2636 2000
93
eingelegt werden.
94
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
95
Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als
Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
96
1.Rechtsanwälte,
97
2.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse
solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse
mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
98
3.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in
Nr. 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich
die Rechtsberatung und Prozessvertretung der Mitglieder dieser Organisation oder
eines anderen Verbandes oder Zusammenschlusses mit vergleichbarer Ausrichtung
entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die Organisation für die Tätigkeit der
Bevollmächtigten haftet.
99
In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift
unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
100
Eine Partei die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
101
* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
102
gez.: Göttlinggez.: Friedrichgez.: Eckwert
103
Berichtigungsbeschluss:
104
5 Sa 353/10
105
7 Ca 1179/09
106
Arbeitsgericht Mönchengladbach
107
LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF
108
BERICHTIGUNGSBESCHLUSS
109
In dem Rechtsstreit
110
der Frau C. M., H. straße 37, O.,
111
- Klägerin und Berufungsklägerin -
112
Prozessbevollmächtigte:Rechtsanwälte V. X. & Partner H.,
113
H. str. 16, L.,
114
g e g e n
115
die T. Sanitär & Heizung GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer U. C., C. Straße
62, O.,
116
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
117
Prozessbevollmächtigte:Kreishandwerkerschaft Niederrhein
118
Krefeld-Viersen-Neuss,
119
Oberstraße 18 - 24, 41460 Neuss,
120
der Tenor des Urteils vom 30.09.2010 in Ziff. 1 wird wegen eines offensichtlichen
Rechenfehlers dahingehend berichtigt, dass statt „3.480,10 €“ ein Betrag von
121
"3.413,79 €"
122
eingesetzt wird.
123
Düsseldorf, 12.11.2010
124
gez.: Göttlinggez.: Friedrichgez.: Eckwert
125