Urteil des LAG Düsseldorf vom 15.09.2010

LArbG Düsseldorf (kündigung, unwirksamkeit der kündigung, betriebsrat, bag, arbeitgeber, arbeitnehmer, stellungnahme, unwirksamkeit, abweisung der klage, juristische person)

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 12 Sa 627/10
Datum:
15.09.2010
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 Sa 627/10
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Solingen, 3 Ca 597/09 lev
Schlagworte:
Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige
Normen:
§ 17 Abs. 3 KSchG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Der Verstoß gegen die Mussvorschriften des § 17 Abs. 3 Satz 2 und
Satz 3 KSchG führt zur Unwirksamkeit der nachfolgenden Kündigung.
Daran ändert nichts, dass die Agentur für Arbeit die (nicht
ordnungsgemäß) angezeigte Massenentlassung im Rahmen der
Prüfung der Sperrfrist nach § 18 KSchG unbeanstandet gelassen hat.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Solingen vom 24.03.2010 wird kostenfällig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
A.Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen
arbeitgeberseitigen Kündigung vom 11.03.2009, die der Beklagte nach
einem Interessenausgleich mit Namensliste ausgesprochen hat. Die
Klägerin bestreitet die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats.
Des Weiteren beanstandet sie die Massenentlassungsanzeige.
Schließlich stellt sie die Betriebsbedingtheit der Kündigung in Abrede
und hält die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises für grob
fehlerhaft. Der Beklagte beruft sich auf die durch § 125 Abs. 1
Satz 1 InsO begründete Vermutung der Betriebsbedingtheit der
Kündigung und die auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkte
Sozialauswahlkontrolle. Er macht geltend, den Betriebsrat mündlich und
schriftlich zur Kündigung angehört zu haben. Schließlich verteidigt er die
Massenentlassungsanzeige als ordnungsgemäß; im Übrigen hält er den
Einwänden der Klägerin den Zustimmungsbescheid der zuständigen
Agentur für Arbeit entgegen.
Die Klägerin, am 02.06.1956 geboren, ledig, trat am 01.08.1978 als
technische Zeichnerin in die Dienste der U. Friction GmbH. Seit 1996
wurde sie mit Sachbearbeiteraufgaben in verschiedenen Abteilungen
befasst, seit November 2004 als Sachbearbeiterin in der Poststelle
eingesetzt. Gemäß Überleitungsvertrag vom 08.08.2007 ging das
Arbeitsverhältnis auf die U. Friction Services GmbH über. Die U. Friction
Services GmbH ist innerhalb der U. Friction Gruppe, die Bremsbeläge
für Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge herstellt, im Wesentlichen
mit dem Vertrieb der Produkte im Ersatzteilmarkt befasst und nimmt für
die Gruppe die Aufgaben der Forschung und Entwicklung wahr.
Die U. Friction Services GmbH beschäftigte zuletzt
ca. 544 Arbeitnehmer, davon 445 im Betrieb M..
Am 08.12.2008 wurde über das Vermögen der U. Friction Services
GmbH (Schuldnerin) das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet und der
Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Während des
vorläufigen Insolvenzverfahrens beschloss die Schuldnerin im
Zusammenwirken mit dem Beklagten ein Sanierungskonzept, das am
Standort M. einen Personalabbau von 44 Mitarbeitern vorsah. Am
23.02.2009 nahmen der Beklagte und die Schuldnerin mit dem
Betriebsrat Verhandlungen über einen Interessenausgleich und
Sozialplan auf. Am 24.02.2009 kam der Interessenausgleich mit einer
44 Arbeitnehmer, darunter die Klägerin, umfassenden Namensliste
zustande (Bl. 35 ff. GA).
Mit Formularschreiben vom 25.02.2009 (Bl. 53 f . GA) zeigte die
Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit die Massenentlassung von
37 Mitarbeitern an. In einer der Anzeige beigefügten Liste (Bl. 155 GA)
sind die Mitarbeiter ohne Namensnennung nach Geschlecht,
Staatsangehörigkeit, Alter, Familienstand, Beschäftigungsort, Beruf,
zuletzt ausgeübte Tätigkeit und Einstellungsjahr bei Angabe des
27.02.2009 als vorgesehenem Kündigungsdatum aufgeführt. Als einzige
"Sachbearbeiter/in Post-Office" (Nr. 13 der Liste) wird auch die Klägerin
erfasst.
Die Massenentlassungsanzeige ging bei der Agentur für Arbeit
Bergisch-Gladbach (nachfolgend: AfA) per Fax am 26.02.2009,
11:48 Uhr ein. Mit Schreiben vom 26.02.2009 (Bl. 55 f. GA) an die
Schuldnerin bestätigte die AfA den Eingang der Anzeige. Weiter heißt
es: "Damit beginnt die in § 18 Abs. 1 KSchG festgesetzte Frist von einem
Monat am 27.02.2009 und endet am 26.03.2009 (§§ 187 Abs. 1, 188
Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist werden Kündigungen nur mit
Zustimmung des in § 20 KSchG bezeichneten Entscheidungsträgers
wirksam. ..."
Am 26.02.2009, 17:00 Uhr, ging der AfA per Fax ein von der
Betriebsratsvorsitzenden Frau B. unterzeichnetes Schreiben vom
26.02.2009 (Bl. 186 GA) zu, wonach " der Betriebsrat der U. Friction
Services GmbH darüber informiert (wurde), dass ein Antrag auf
Entlassungen gemäß § 17 Kündigungsschutzgestz an die Agentur für
Arbeit gesendet wurde." Ebenfalls am 26.02.2009 um 20:04 Uhr erhielt
die AfA per Fax einen "Interessenausgleich vom 23./24.02.2009". Dabei
handelt es sich nicht um den zwischen der Schuldnerin und dem
Betriebsrat am 24.02.2009 abgeschlossenen Interessenausgleich,
sondern um den im Schwesterunternehmen U. Friction GmbH mit dem
dortigen Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich. Weitere
Unterklagen ließen die Schuldnerin bzw. der Beklagte der AfA im
Massenentlassungsanzeigeverfahren nicht zukommen.
Am 01.03.2009 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das
Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter
bestellt.
Am selben Tag schlossen der Beklagte und der Betriebsrat einen
Sozialplan (Bl. 57 ff. GA), aufgrund dessen 38 Arbeitnehmer mittels
eines Aufhebungsvertrages bei der Schuldnerin ausschieden und in die
errichtete Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG)
eintraten. Die Klägerin lehnte den Eintritt in die BQG ab und wurde
daraufhin ab dem 01.03.2009 von der Arbeit freigestellt.
Am 11.03.2009 erklärte der Beklagte gegenüber der Klägerin die
ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2009.
Die Klägerin hat am 19.03.2009 beim Arbeitsgericht Solingen
Kündigungsschutzklage eingereicht und beantragt,
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende
Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung des Beklagten vom
11.03.2009 aufgelöst worden ist.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
In der Verhandlung am 24.03.2010 hat das Arbeitsgericht den
Personalleiter Herrn S. sowie die Betriebsratsvorsitzende Frau B.
angehört. Durch Urteil vom selben Tag hat das Gericht der Klage mit der
Begründung stattgegeben, dass es an einer ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige fehle, weil die Beklagte der Bundesagentur
für Arbeit 37 Entlassungen statt der tatsächlich erfolgten
40 Entlassungen, nämlich 38 durch Aufhebungsvertrag (BQG) und zwei
durch Kündigung entlassene Mitarbeiter, angezeigt habe.
Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung
greift der Beklagte das Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung
des Sach- und Streitstandes verwiesen wird, in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht und unter Wiederholung und Ergänzung seines
erstinstanzlichen Vorbringens an.
Der Beklagte behauptet:
In den Gesprächen mit dem Betriebsrat am 23.02.2009 sei das
Anhörungsverfahren nach § 103 BetrVG mit den Verhandlungen über
den Interessenausgleich verbunden worden. In der 44 Arbeitnehmer
umfassenden Namensliste seien noch die Mitarbeiter E., G., K. und O.,
die ihr Arbeitsverhältnis bereits selbst gekündigt hatten und vor dem
01.03.2009 ausgeschieden waren, enthalten gewesen. In der
Massenentlassungszeige seien diese vier Mitarbeiter und weitere drei
Mitarbeiter nicht mehr berücksichtigt worden. Dies führe - so meint der
Beklagte - nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung: Gemäß der als
Anlage 2 der Anzeige beigefügten "Liste der zur Entlassung
vorgesehenen Arbeitnehmer" sei nämlich die Klägerin als einzige in der
Poststelle eingesetzte Mitarbeiterin identifizierbar gewesen. Der
Arbeitsplatz der Klägerin sei aufgrund Outsourcing der Poststelle
dauerhaft weggefallen. Man habe - im Konsens mit dem Betriebsrat -
keine betriebliche Möglichkeit gesehen, die Klägerin auf einem anderen
Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte beantragt die Abänderung des erstinstanzlichen Urteils
und Abweisung der Klage.
Die Klägerin verteidigt das Urteil und beantragt die Zurückweisung der
Berufung.
Sie bestreitet, dass die in der Massenentlassungsanzeige angekündigte
Nachreichung der Stellungnahme des Betriebsrats erfolgt sei. Ihr
Arbeitsplatz im Post-Office sei nicht entfallen, sondern zwei
"Leiharbeitnehmerinnen" übertragen worden. Aufgrund ihres während
der über 30-jährigenen Dienstzeit erworbenen beruflichen
Erfahrungswissens hätte sie - so meint die Klägerin - in anderen
Abteilungen weiterbeschäftigt werden können; insoweit hätte eine
Sozialauswahl stattfinden müssen.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der
gewechselten Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen Bezug
genommen.
Die Kammer hat am 04.08.2010 durch Vernehmung der
Betriebsratsvorsitzenden Frau B. und des Personalleiters Herrn S.
Beweis darüber erhoben, ob der Betriebsrat zur Kündigung der Klägerin
angehört wurde und zu der Massenentlassungsanzeige vom 25.02.2009
eine Stellungnahme des Betriebsrats nachgereicht wurde. Des Weiteren
hat die Kammer eine schriftliche Auskunft der AfA eingeholt. Insoweit
wird auf die Antwort der AfA vom 17.08.2010 (Bl. 184 ff. GA) und die
ergänzende Auskunft vom 08.09.2010 (Bl. 201 GA) verwiesen.
B. I.Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Die Kündigung vom
11.03.2009 ist rechtsunwirksam und hat daher das Arbeitsverhältnis
nicht aufgelöst.
1.Die Kündigungsschutzklage ist nicht deshalb unschlüssig, weil das
Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien zum Kündigungstermin
aufgrund des noch im März 2009 erfolgten Übergangs des Betriebs der
Schuldnerin ("T. 4") auf die neue und von der Klägerin bereits mit einer
Weiterbeschäftigungs- und Zahlungsklage in Anspruch genommene "U.
Friction Services GmbH" nicht mehr bestanden haben könnte. In der
vorliegenden Konstellation setzt die Kündigungsschutzklage nicht den
Bestand des Arbeitsverhältnisses im Kündigungstermin voraus (Kammer
29.04.2009 - 12 Sa 1551/08 - Juris Rn. 31 ff.). Vorliegend geht es nicht
um eine Betriebsaufgabe-Kündigung, deren relative Unwirksamkeit die
Klägerin im Rahmen eines gegenüber den Betriebserwerber erhobenen
Fortsetzungsanspruchs geltend machen könnte. Vielmehr wird die
Kündigung auf "andere Gründe" i. S. v. § 613 a Abs. 4 Satz 2 BGB
gestützt. Da nach § 613 a Abs. 1 BGB die Arbeitsverhältnisse in ihrem
Zustand zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs auf den Erwerber
übergehen, also vom Veräußerer wirksam gekündigte
Arbeitsverhältnisse auch nur im gekündigtem Zustand, und eine
wirksame oder eine gemäß § 7 KSchG als rechtswirksam geltende
Kündigung des Beklagten dem Rechtsschutzziel der Klägerin zuwider
liefe, in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis zum Betriebserwerber zu
stehen, ist es für sie notwendig, die Kündigung durch die
Kündigungsschutzklage zu beseitigen.
2.Die Kündigung ist nicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam.
a)Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat
die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Die Unterrichtung muss nicht
denselben Anforderungen genügen wie die Darlegung des Arbeitgebers
im Kündigungsschutzprozess. Nach dem Grundsatz der "subjektiven
Determinierung" hat der Arbeitgeber den aus seiner Sicht maßgeblichen
Kündigungssachverhalt mitzuteilen. Was den Umfang der
mitzuteilenden Gründe anbelangt, muss nach zutreffender
höchstrichterlicher Spruchpraxis (BAG 23.10.2008 - 2 AZR 163/07 - Juris
Rn. 18 f. ) "der Arbeitgeber schriftlich oder mündlich dem Betriebsrat
neben näheren Informationen über die Person des betroffenen
Arbeitnehmers die Art und den Zeitpunkt der Kündigung und die seiner
Ansicht nach maßgeblichen Kündigungsgründe mitteilen. Der für den
Arbeitgeber maßgebende Sachverhalt ist unter Angabe der Tatsachen,
aus denen der Kündigungsentschluss hergeleitet wird, näher so zu
beschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene
Nachforschungen in die Lage versetzt wird, die Stichhaltigkeit der
Kündigungsgründe zu prüfen und sich über eine Stellungnahme
schlüssig zu werden. Kommt der Arbeitgeber diesen Anforderungen an
seine Mitteilungspflicht nicht oder nicht richtig nach und unterlaufen ihm
insoweit bei der Durchführung der Anhörung Fehler, ist die Kündigung
unwirksam. Allerdings ist die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers
subjektiv determiniert. An sie sind nicht dieselben Anforderungen zu
stellen wie an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im
Kündigungsschutzprozess. Es müssen dem Betriebsrat also nicht alle
objektiv kündigungsrechtlich erheblichen Tatsachen, sondern vom
Arbeitgeber nur die von ihm für die Kündigung als ausschlaggebend
angesehenen Umstände mitgeteilt werden. Dagegen führt eine aus Sicht
des Arbeitgebers bewusst unrichtige oder unvollständige und damit
irreführende Darstellung zu einer fehlerhaften Anhörung des
Betriebsrats".
Hinsichtlich der i. S. v § 102 BetrVG ordnungsgemäßen Anhörung des
Betriebsrats gilt eine abgestufte Darlegungslast (BAG, Urteil vom
23.06.2005 - 2 AZR 193/04 - Juris Rn. 13). Hat der Arbeitgeber eine
ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung im Detail schlüssig dargelegt,
ist es Sache des Arbeitnehmers, konkret zu beanstanden, in welchen
Punkten er die Betriebsratsanhörung für fehlerhaft hält. Ergibt sich im
Prozess aus den Darlegungen des Arbeitgebers, dass die Anhörung des
Betriebsrats ordnungsgemäß erfolgt ist, darf sich der Arbeitnehmer nicht
darauf beschränken, die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung weiter
pauschal mit Nichtwissen zu bestreiten; vielmehr hat er seinerseits
darzutun, ob der Betriebsrat entgegen der Behauptung des Arbeitgebers
überhaupt nicht angehört worden sei oder in welchen Punkten die
Betriebsratsanhörung für falsch oder für unvollständig gehalten werde
(BAG 20.09.2006 - 6 AZR 219/06 - Juris Rn. 22, BAG 24.04.2008 - 8
AZR 520/07 - Juris Rn. 25).
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es einer näheren
Darlegung der Kündigungsgründe durch den Arbeitgeber nicht bedarf,
wenn der Betriebsrat bei Einleitung des Anhörungsverfahrens bereits
über den erforderlichen Kenntnisstand verfügt, um zu der konkret
beabsichtigten Kündigung eine sachgerechte Stellungnahme abgeben
zu können" ( BAG 23.10.2008 - 2 AZR 163/07 - Juris Rn. 21). So pflegen
dem Abschluss eines Interessenausgleichs, der mit einer Namensliste
der zu kündigenden Arbeitnehmer verbunden ist, längere
Verhandlungen voranzugehen, auf Grund derer beim Betriebsrat
erhebliche Vorkenntnisse über die vom Arbeitgeber geltend gemachten
Kündigungsgründe und auch die vielleicht mit dem Betriebsrat
zusammen vorgenommene Sozialauswahl vorhanden sein können. Die
dem Betriebsrat aus diesen Verhandlungen bekannten Tatsachen muss
der Arbeitgeber im Anhörungsverfahren nicht erneut vortragen (BAG
28.08.2003 - 2 AZR 377/02 - Juris Rn. 31, BAG 21.02.2002 - 2 AZR
581/00 - Juris Rn. 77, BAG 22.01.2004 - 2 AZR 111/02 - Juris Rn. 71;
vgl. BAG 06.09.2007 - 2 AZR 715/06 - Juris Rn. 40 unter Hinweis auf
das vorinstanzliche Urteil des LAG Rheinland-Pfalz 02.02.2006 - 1 Sa
676/05 - Juris Rn. 86 ff.). Allerdings muss der Arbeitgeber dabei
klarstellen, das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG einleiten zu
wollen (BAG 20.05.1999 - 2 AZR 532/98 - Juris Rn. 11); die im
Interessenausgleich enthaltene Erklärung, dass das
Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG hinsichtlich sämtlicher
auszusprechender Kündigungen ordnungsgemäß durchgeführt und
abgeschlossen sei, ersetzt nicht den erforderlichen Einleitungsakt (LAG
Düsseldorf 23. 03.2006 - 11 Sa 1616/05 - , 27.03.2006 - 14 Sa 1618/05 -
n. v.).
b)Nach Aussage der Zeugin B. ging es im Rahmen der Verhandlungen
über den Interessenausgleich gleichzeitig um die Anhörung des
Betriebsrats zu den beabsichtigten Kündigungen der in der Namensliste
aufgeführten Arbeitnehmer. Die Zeugin hat zwar nicht präzisieren
können, wer, wie und wann von Seiten des Arbeitgebers dem
Betriebsrat mitteilte, dass gemäß der Namensliste gleichzeitig nach
§ 102 Abs. 1 BetrVG die Anhörung zu den beabsichtigten Kündigungen
erfolge und mit der Zustimmung des Betriebsrats zum
Interessenausgleich mit Namensliste das Anhörungsverfahren
abgeschlossen sei. Sie ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass der
Betriebsrat die Gespräche, in den jeder einzelne in der Namensliste
aufgeführte Mitarbeiter und so auch die Klägerin behandelt wurden, als
Anhörung i. S. v § 102 Abs. 1 BetrVG verstand und dies in V. Abs. 2 des
Interessenausgleichs vom 24.02.2009 bestätigte. Nach dem Zeitablauf
und angesichts des komplexen Geschehens am 23.02.2009 und an den
Folgetagen ist das Erinnerungsdefizit der Zeugin erklärlich, so dass ihre
lebensnahen Aussage in diesem Punkt glaubhaft sind. Die Kammer
erachtet die Aussagen der Zeugin für glaubwürdig. Sie hat kein
ersichtliches Eigeninteresse an einem für die Klägerin nachteiligen
Ausgang des Rechtsstreits und hinterließ bei ihrer Vernehmung einen
ehrlichen und offenen Eindruck, wobei sie imstande war, Nachfragen
näher zu beantworten, ohne das nachgelassene Erinnerungsvermögen
zu überspielen. Weil für die Zeugin kein Anlass bestand, sich den
Verhandlungsablauf mit konkreten Daten zu merken, spricht es für ihre
Glaubwürdigkeit der Aussagen, wenn sie sich in einzelnen Punkten
nicht definitiv festlegen konnte und auf die Wiedergabe der Umstände
beschränkte, die für sie wesentlich waren. Nach allem steht zur
Überzeugung der Kammer fest, dass die Schuldnerin das
Anhörungsverfahren eingeleitet hatte.
3.Die Kündigung ist nicht gemäß § 1 Abs. 2 KSchG unwirksam. Sie ist
durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer
Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen, bedingt. Dies wird
auf Grund der namentlichen Benennung der Klägerin in der Namensliste
des Interessenausgleichs nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet.
a)Die Voraussetzungen des § 125 Abs. 1 InsO sind erfüllt. Es liegt eine
Betriebsänderung vor, derentwegen ein wirksamer Interessenausgleich
zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat abgeschlossen wurde
und in dem die Klägerin namentlich als zu kündigende Arbeitnehmerin
aufgeführt ist. Der Interessenausgleich (Seite 10) sieht die
Neuorganisation der Poststelle und den Abbau u. a. des Arbeitsplatzes
der Klägerin vor. Damit ist die Klägerin von den im Interessenausgleich
genannten Maßnahmen betroffen. Die daraus folgende gesetzliche
Vermutung, die Kündigung sei aus betriebsbedingten Gründen
gerechtfertigt und nicht wegen Betriebsübergangs erfolgt, hat die
Klägerin nicht widerlegt.
Ihre Behauptung, der Arbeitsplatz in der Poststelle sei durch zwei
Leiharbeitnehmerinnen besetzt worden (Seite 5 des Schriftsatzes
20.07.2010), ist der Beklagte entgegen getreten (Seite 3 f. des
Schriftsatzes vom 30.07.2010). Die Zeugin B. hat am 04.08.2010
glaubhaft bestätigt, dass die Poststelle outgesourct worden sei. Damit
war Grund für die Kündigung nicht der später erfolgte Betriebsübergang,
sondern die Umstrukturierung des Betriebes der Schuldnerin.
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BAG 23.04.2008 -
2 AZR 1110/06 - Juris Rn. 19), der die Kammer gefolgt ist (LAG
Düsseldorf 25.08.2010 - 12 Sa 703/10 - zVv., zu B I der Gründe), ist die
Entscheidung des Beklagten, die Poststelle outzusourcen, vom
Grundsatz her nicht zu beanstanden. Weil das Kündigungsschutzgesetz
dem Arbeitgeber nicht eine bestimmte rechtliche und organisatorische
Form der Erledigung von Arbeiten vorschreibt, steht es ihm frei, Arbeiten
fremd zu vergeben, anstatt diese selbst mit eigenen Arbeitnehmern zu
erledigen. Anders könnte es sich verhalten, wenn der Arbeitgeber im
Zeitpunkt des Kündigungszugangs sich vorbehalten hätte, die Arbeiten
mit neu eingestellten oder über ihre jeweilige Kündigungsfrist hinaus
beschäftigten Arbeitnehmern bzw. in seine betriebliche
Arbeitsorganisation eingegliederten Fremdkräften zu erledigen. Dafür
hat die Klägerin im Streitfall nichts vorgetragen.
b)Der Beklagte braucht zur Rechtfertigung der Kündigung keine
weiteren Tatsachen vorzutragen. Die Klägerin hat ihrerseits auch nicht
näher dargetan, dass ein für sie geeigneter und freier Arbeitsplatz
vorhanden gewesen wäre.
4.Die Kündigung ist nicht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG i. V. m. § 125
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO wegen fehlerhafter Sozialauswahl sozial
ungerechtfertigt.
a)Grob fehlerhaft i. S. d. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ist eine soziale Auswahl nur,
wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der
Interessenausgleich, insbesondere bei der Gewichtung der Auswahlkriterien, jede
Ausgewogenheit vermissen lässt. Dies gilt auch für die Bestimmung des Kreises der
vergleichbaren Arbeitnehmer: Sie ist dann grob fehlerhaft, wenn bei der für die Bildung
der auswahlrelevanten Gruppen die Austauschbarkeit offensichtlich verkannt worden ist
oder bei der Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die
betrieblichen Interessen augenfällig überdehnt worden sind (BAG 20.09.2006 - 6 AZR
249/05 - Juris Rn. 47).
1
b)Seit November 2004 war die Klägerin in der Poststelle eingesetzt. Nach der
ausgeübten Tätigkeit ist sie nicht vergleichbar mit anderen z. B. im Kundendienst, Lager
oder OE-Sales-Bereich weiterbeschäftigten Arbeitnehmern. Allerdings hat die Klägerin
unter Hinweis auf ihren beruflichen Werdegang behauptet, in einer Vielzahl anderer
Abteilungen einsetzbar zu sein. Eine solche - vom Beklagten bestrittene - Behauptung
ohne nähere Konkretisierung und Substantiierung ist unzureichend. Denn der Umstand,
dass die Klägerin jahrelang im Betrieb eine völlig andere Tätigkeit ausgeübt hatte,
indiziert eine fehlende Austauschbarkeit im Sinne einer alsbaldigen Substituierbarkeit.
2
5.Die Kündigung ist gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 u. 3 KSchG i. V. m. § 134 BGB
unwirksam.
3
a)Die Direktorenkammer des Arbeitsgerichts hat die Unwirksamkeit aus § 17 Abs. 3
Satz 4 KSchG und dem arbeitsmarktpolitischen Zweck der Vorschrift hergeleitet.
4
Richtig ist, dass der Beklagte entgegen der in der Massenentlassungsanzeige
angezeigten 37 Entlassungen tatsächlich 40 Entlassungen vornahm. Allerdings fiel die
Klägerin nach der beigefügten Liste als Nr. 13 unter die 37 zu entlassenden
Arbeitnehmer, so dass die AfA insoweit durch die falsche Angabe der zu entlassenden
Arbeitnehmer nicht in ihrer sachlichen Prüfung beeinflusst wurde, ob vorausschauend
Arbeitsvermittlungs- und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Hinblick auf die
mögliche Arbeitslosigkeit der Klägerin und der weiteren 36 Arbeitnehmer einzuleiten
5
seien (vgl. BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 - Juris Rn. 62 ff., LAG Rheinland-Pfalz
15.01.2008 - 3 Sa 634/07 - Juris Rn. 79).
Fehler und Unvollständigkeiten bei den Mussangaben nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG
führen nach richtiger Auffassung (Reinhard, RdA 2007, 207 ff. APS/Moll, 3. Aufl.,
§ 17 KSchG Rn. 100 f.) zwar grundsätzlich zur Unwirksamkeit der
Massenentlassungsanzeige. Wenn sich die zu niedrig angegebene Zahl der zur
Entlassung vorgesehenen Mitarbeiter jedoch nicht auf die angezeigten Kündigungen
auswirkt, kann jedoch ein Ausnahmefall mit der Folge anzunehmen sein, dass lediglich
die zusätzlich vorgenommenen Entlassungen für unwirksam zu erachten sind (vgl. BAG
22.03.2001 - 8 AZR 565/00 - Juris Rn. 140, LAG Rheinland-Pfalz 15.01.2008 - 3 Sa
634/007 - Juris Rn. 79, Küttner/Kreitner, Personalbuch 2010, 300 ‚Massenentlassung’,
Rn. 24, SPV/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 10. Aufl.,
Rn. 1654, vgl ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn. 29).
6
Die Kammer braucht diese Rechtsfrage hier nicht zu entscheiden, weil die
Massenentlassungsanzeige mangels beigefügter oder nachgereichter Stellungnahme
des Betriebsrats gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG unwirksam ist. Die Unwirksamkeit
der Anzeige hat die Unwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung zur Konsequenz.
7
b)Bei § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG handelt es sich um Muss-Vorschriften. Das ergibt
sich aus dem Gesetzeswortlaut und dem Rückschluss aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG,
wonach die Massenentlassungsanzeige nicht wirksam ist, wenn ihr weder die
Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt war (Satz 2) noch - bei fehlendem Vorliegen
einer Stellungnahme - die Glaubhaftmachung der Unterrichtung des Betriebsrates und
Darlegung des Standes der Beratungen nachgereicht wurde. Der gesetzliche
Zusammenhang bestätigt den Muss-Charakter der Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 2 und
3 KSchG, die eingebettet ist in die Muss-Vorschriften des Satzes 1 und des Satzes 4.
8
(11)Der Beklagte legte mit oder nach der Massenentlassungsanzeige vom 25.02.2009
der AfA keine Stellungnahme des Betriebsrats vor und unterließ auch die Angabe und
Glaubhaftung von nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG maßgeblichen Vorgängen. Die
Kündigung vom 11.03.2009 erfolgte daher aufgrund einer nicht ordnungsgemäß
angezeigten Massenentlassung.
9
(22)Der Betriebsrat hatte mit seiner Zustimmung zu dem Interessenausgleich vom
24.02.2009 zwar die gesetzlich geforderte "Stellungnahme" abgegeben und unter V.
Abs. 4 Satz 2 bestätigt, gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG informiert worden zu sein. Der
Beklagte reichte indessen nicht den Interessenausgleich vom 24.02.2009, sondern den
"falschen" Interessenausgleich der U. Friction GmbH vom 23./24.02.2009 ein.
10
(33) Da der Interessenausgleich nicht nachgereicht wurde, braucht in diesem
Zusammenhang nicht vertieft zu werden, inwieweit das Nachholen von Muss-Angaben
zulässig ist (APS/Moll, 3. Aufl., § 17 KSchG Rn. 100) und ob nach Vorliegen einer AfA-
Entscheidung gemäß § 20 Abs. 1 KSchG (die hier offenbar im Laufe des 26.02.2009
ergangen ist) nicht eine neues ordnungsgemäßes Anzeigeverfahren durchzuführen ist.
11
(44)Das Schreiben des Betriebsrats vom 26.02.2009 ist keine "Stellungnahme" i. S. v.
§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG (vgl. KR/Weigand, 9. Aufl., § 17 KSchG Rn. 93 -95). Es mag
der Schuldnerin als Glaubhafthaftmachung dafür gedient haben, dass sie den
Betriebsrat vor Erstattung der Anzeige nach Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet habe
12
(Abs. 3 Satz 3) bzw. ihm eine Abschrift der Massenentlasungsanzeige zugeleitet habe
(Abs. 5 Satz 6). Es enthält aber weder eine inhaltliche Stellungnahme zu der
vorgesehenen Massenentlassung oder dem Stand der Konsultationen noch die
Erklärung des Verzichts des Betriebsrats auf Abgabe einer Stellungnahme. Im Übrigen
stellte die Schuldnerin durch das vorgelegte Schreiben des Betriebsrats vom
26.02.2009 nicht dar, dass der Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor
Anzeigeerstattung, also vor Vollständigkeit der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG,
unterrichtet worden sei (vgl. BAG 20.05.1999 - 2 AZR 532/98 - Juris Rn. 44). Dies war
auch tatsächlich nicht der Fall gewesen.
Danach kann dahinstehen, ob dann, wenn - wie hier in Form des Interessenausgleichs
vom 24.02.2009 - eine Stellungnahme des Betriebsrats bereits vorliegt, für die
(nachholende) Glaubhaftmachung nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG überhaupt Raum ist
(vgl. BVerfG 25.02.2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 31, BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 -
Juris Rn. 61 f.).
13
c)Die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige schlägt auf die Kündigung vom
11.03.2009 durch.
14
(11)Zwar sind unionsrechtlich die Rechtsfolgen einer nicht ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige nach der Junk-Entscheidung des EuGH vom 27. 01.2005 -
C-188/03 - noch nicht abschließend geklärt (BVerfG 25.02.2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 35;
vgl. EuGH 16.07.2009 - C 12/08 Mono Car Styling - Rn. 34 ff.). Insbesondere erscheint
im Licht von Art. 3 Satz 3 i. V. m. Art. 2 EGRL 98/59 (sog. Massentlassungsrichtlinie =
MERL) als nicht gesichert, ob fehlende Angaben des Arbeitgebers zu den
Konsultationen der Arbeitnehmervertreter und einer von diesen abgegebenen
Stellungnahme unionsrechtlich die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich zieht.
15
(22)Nach Auffassung der Kammer kommt es hierauf jedoch nicht an. Denn die
Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich aus nationalem Recht. Dass dieses über den
durch die MERL intendierten Schutz hinausgehen kann, ist zweifelsfrei. Zwar ist
§ 17 KSchG in der Vergangenheit so verstanden worden, dass die unterlassene,
unvollständige oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht die Unwirksamkeit der
nachfolgenden Kündigung führt (vgl. BAG 18.09.2003 - 2 AZR 79/02 - Juris Rn. 61 ff.).
Mit der Junk-Urteil des EuGH vom 27.01.2005 ist dieses Verständnis jedoch obsolet
geworden. Indem die arbeitsmarktpolitischen Zwecke der MERL und der
§§ 17 ff. KSchG eine Verstärkung des individuellen Kündigungsschutzes bewirken (LAG
Sachsen-Anhalt 18.11.2009 - 5 Sa 179/09 - Juris Rn. 66) und der Gesetzgeber
§ 17 KSchG unverändert gelassen hat, ist eine restriktive Gesetzesauslegung
dergestalt, dass trotz Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige die nachfolgende
Kündigung ihre Wirksamkeit behalte, nicht mehr vertretbar.
16
(33)Der Beklagte beruft sich ohne Erfolg darauf, dass die AfA unter dem 26.02.2009 die
angezeigte Massenentlassung bei Einhaltung der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG
nicht beanstandet habe.
17
(aa)Inwieweit ein bestandskräftiger Verwaltungsakt gemäß § 20 i. V. m. § 18 KSchG die
Arbeitsgerichte hinsichtlich der Frage hindert, ob eine wirksame
Massenentlassungsanzeige vorgelegen hat, ist in Rechtsprechung und Literatur
umstritten (LAG Rheinland-Pfalz 15.01.2008 - 3 Sa 634/07 - Juris Rn. 79, SPV/Vossen,
Rn. 1654, Küttner/Kreitner, Personalbuch 2010, 300 ‚Massenentlassung’, Rn. 24., vgl.
18
Koehler/Niklas, NZA 2010, 913, krit. Reinhard RdA 2007, 214, KR/Weigand, 9. Aufl.,
§ 20 KSchG Rn. 72 f.). Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts kommt dem
Verwaltungsverfahren "erhebliche Bedeutung" zu, wenn sich offensichtlich die AFA
durch die fehlende Darlegung des "Standes der Beratungen" nicht von einer sachlichen
Prüfung der Massenentlassungsanzeige abhalten lassen, was ebenfalls gegen die
Annahme spreche, die Anzeige sei unwirksam (BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 - Juris
Rn. 63 f.).
(bb)Die letztgenannte Überlegung erscheint der Kammer als eher spekulativ. Sie wird
tatsächlich vielfach und im Streitfall widerlegt durch die Oberflächlichkeit und Hast, mit
der die AfA Massenentlassungsanzeigen von Arbeitgebern zu billigen pflegt.
19
(cc)Die Annahme, dass die Arbeitsgerichte an den AfA-Bescheid nach § 20 KSchG und
die inzidente Feststellung der Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige gebunden
seien, verträgt sich nicht mit dem unionsrechtlichen und grundrechtlichen
Effektivitätsprinzip. Hiernach darf der durch die Massenentlassungsrichtlinie und
§ 17 KSchG gewährte individuelle Kündigungsschutz nicht dadurch faktisch
aufgehoben werden, dass Arbeitnehmer eine fehlerhafte Entscheidung der AfA nach
§ 20 KSchG sich entgegenhalten lassen müssen. Indem Art. 3 MERL und § 17 KSchG
die Wirksamkeit der Kündigung von einer vorherigen ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige abhängig machen, scheidet es von vornherein aus, der
behördlichen Akzeptanz der Anzeige eine wie auch immer geartete Bindungswirkung
beizumessen. Hinzu kommt, dass, worauf Reinhard (RdA 2007, 214) zu Recht hinweist,
die betroffenen Arbeitnehmer am Anzeigeverfahren nicht beteiligt sind und keine
Möglichkeit haben, gegen die Verwaltungsentscheidung, die keinen drittbelastenden
Verwaltungsakt darstelle, Rechtsmittel einzulegen. Des Weiteren prüft die AfA nicht die
Voraussetzungen der Massenentlassung unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der
einzelnen Kündigungen, sondern legte den Fokus auf die öffentlich-rechtliche Frage der
Abkürzung oder Verlängerung der Sperrfrist fokussiert (Reinhard RdA 2007, 214). Die
ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ist nur Vorfrage, so dass deren Bejahung
durch die AfA grundsätzlich nicht an der Bindungswirkung des Bescheides teilnimmt.
Der Bescheid ist - bezogen auf § 17 KSchG - auch kein gestaltender Verwaltungsakt mit
belastender oder begünstigender Wirkung gegenüber der Klägerin und entfaltet auch
aus diesem Grund keine Bindungswirkung der Arbeitsgerichte. Diese haben im Rahmen
ihrer Vorfragenkompetenz vielmehr selbst die Massenentlassungsanzeige auf ihre
Vollständigkeit und Korrektheit zu überprüfen (vgl. Zöller/Lückemann, ZPO, 28. Aufl.,
§ 13 GVG Rz. 34).
20
Daher sind die Arbeitsgerichte nicht an den Bescheid und daraus ersichtliche
Auffassung der AfA gebunden (ErfK/Kiel, 10. Aufl., § 20 KSchG, Rn. 6, von Hoyningen-
Huene/Linck, KSchG, 14. Aufl., § 20 Rn. 26).
21
(33)Der Beklagte reklamiert erfolglos, dass ihm Vertrauensschutz zu gewähren sei, weil
die AfA im Bescheid nach § 20 KSchG die unzulängliche Massenentlassungsanzeige
unbeanstandet gelassen habe. Er übersieht, dass er selbst die Anforderungen des § 17
Abs. 3 KSchG missachtet hat und schon deshalb keinen Vertrauensschutz verdient (vgl.
APS/Moll, 3. Aufl., § 17 KSchG Rn. 136). Zudem muss ein Arbeitgeber damit rechnen,
dass bei der Prüfung der AfA die etwaige Verkürzung oder Verlängerung der Sperrfrist
des § 18 KSchG im Vordergrund steht, während die Ordnungsgemäßheit der
Massenentlassungsanzeige nur kursorisch und anhand notorisch defizitärer Vorlagen
und Anweisungen geprüft wird (vgl. BAG 18.09.2003, Juris Rn. 64).
22
II.Die Kosten der Berufung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO der Beklagte zu tragen.
23
Die Kammer hat der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, ob eine gemäß § 17 Abs. 3
Satz 2 u. 3 KSchG unzureichende und von der AfA im Bescheid nach § 20 KSchG nicht
beanstandete Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der nachfolgenden
Kündigung führt, grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher für den Beklagten
die Revision an das Bundesarbeitsgericht zugelassen, § 72 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 ArbGG.
24
C.
25
RECHTSMITTELBELEHRUNG
26
Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei
27
R E V I S I O N
28
eingelegt werden.
29
Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
30
Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich beim
31
Bundesarbeitsgericht
32
Hugo-Preuß-Platz 1
33
99084 Erfurt
34
Fax: 0361-2636 2000
35
eingelegt werden.
36
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
37
Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als
Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
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1.Rechtsanwälte,
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2.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse
solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse
mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
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3.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in
Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person
ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer
Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer
Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die
Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
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In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift
unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
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Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
43
* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
44
Dr. Plüm Smoch Schölzke
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