Urteil des LAG Düsseldorf vom 17.11.2010

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Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 12 SaGa 19/10
Datum:
17.11.2010
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 SaGa 19/10
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Solingen, 2 Ga 40/10 lev
Schlagworte:
Beschäftigungsverfügung
Normen:
§ 935, § 938, 940 ZPO, § 611, § 613 a BGB, § 1 KSchG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Das Interesse des Arbeitnehmers an der Erzielung von Lohneinkünften
("Notbedarf") gibt keinen Verfügungsgrund für eine
Beschäftigungsverfügung (wie LAG Köln 10.09.2004 - 4 Ta 298/04 -
Juris Rn. 4).
Tenor:
Unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Solingen vom
14.09.2010 wird der Antrag des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Antragsteller.
Gegen dieses Urteil findet kein Rechtsmittel statt.
G R Ü N D E :
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A.Der Antragsteller will durch einstweilige Verfügung die Antragsgegnerin verpflichtet
wissen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss eines gegen den Rechtsvorgänger der
Antragsgegnerin geführten Kündigungsrechtsstreits zu beschäftigen.
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Der Antragsteller trat am 23.10.1990 als gewerblicher Arbeitnehmer in die Dienste der
U. GmbH M.. Im Jahre 2007 ging das Arbeitsverhältnis auf die U. G. Services GmbH
(jetzt: T. 4 GmbH) über. Am 01.03.2009 wurde über deren Vermögen das
Insolvenzverfahren eröffnet. Am 11.03.2009 kündigte der Insolvenzverwalter im Rahmen
einer Massenentlassung auch das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristgerecht zum
30.06.2009. Am 20.04.2009 veräußerte er den Betrieb an die Antragsgegnerin.
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Der gegen die Kündigung vom 11.03.2009 erhobenen Kündigungsschutzklage gab das
Arbeitsgericht Solingen am 24.06.2010 statt (Gesch.-Nr. 1 Ca 649/09 lev). Die Berufung
des Insolvenzverwalters wurde vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf am 10.11.2010
zurückgewiesen (Gesch.-Nr. 12 Sa 1321/10). Das Landesarbeitsgericht hat wegen der
entscheidungserheblichen Frage, ob die Fehlerhaftigkeit der
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Massenentlassungsanzeige des Insolvenzverwalters die Unwirksamkeit der Kündigung
nach sich zieht, die Revision zugelassen.
Der Antragsteller erhob Ende Juli 2010 Klage gegen die Antragsgegnerin auf
Weiterbeschäftigung und Verzugslohn (ArbG Solingen 2 Ca 1082/10). Nach erfolgloser
Güteverhandlung hat das Arbeitsgericht Kammertermin auf den 30.11.2010 anberaumt.
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Mit dem am 06.09.2010 beim Arbeitsgericht Solingen eingereichten Verfügungsantrag
hat der Antragsteller von der Antragsgegenerin begehrt, bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Kündigungsrechtsstreits ArbG Solingen 1 Ca 649/09 lev = LAG
Düsseldorf 12 Sa 1321/10 zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen gegen
ein Monatsentgelt von € 3.338,76 brutto weiterbeschäftigt zu werden.
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Er macht geltend, nach dem Wechsel vom ALG I zu ALG II zum 01.03.2010 und dem
Bezug von monatlich € 1.004,89 (ab September 2010) in zunehmende Verschuldung
geraten zu sein. Sein Girokonto habe er inzwischen um € 3.470,00 überzogen. Die für
seine Eigentumswohnung zu leistende monatliche Tilgungsrate habe die Bausparkasse
lediglich befristet bis Februar 2011 auf € 381,00 gesenkt. Um der akuten finanziellen
Notlage begegnen zu können, bedürfe er - so trägt der Antragsteller vor - dringend der
Beschäftigung durch die Antragsgenerin, um mit den hieraus zu erzielenden
Lohneinkünften seine wirtschaftliche Existenz sichern zu können.
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Die Antragsgegnerin negiert das Vorliegen eines Verfügungsgrundes.
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Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 14.09.2010 dem Antrag stattgegeben. Mit der
form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung greift die Antragsgenerin
das Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes
verwiesen wird, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und unter Wiederholung und
Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens an. Sie beantragt die Abänderung des
erstinstanzlichen Urteils und Zurückweisung des Verfügungsantrages. Der Antragsteller
verteidigt das Urteil und beantragt die Zurückweisung der Berufung.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen Bezug genommen.
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B.Die Berufung hat Erfolg. Es fehlt an einem Verfügungsgrund (§ 935, § 940 ZPO), so
dass die beantragte Verfügung zurückzuweisen ist.
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I.Mit der einstweiligen Verfügung auf tatsächliche Beschäftigung wird keine
Sicherungsverfügung, sondern eine Leistungsverfügung (Befriedigungsverfügung)
begehrt.
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Nach ganz herrschender Auffassung ist eine Leistungsverfügung (ausnahmsweise)
zulässig. Dabei sind an den Verfügungsgrund (§ 940 ZPO) strenge Anforderungen zu
stellen: (1) Der Antragsteller muss auf die sofortige Erfüllung seines Anspruchs dringend
angewiesen sein, (2) die geschuldete Handlung ist, wenn sie ihren Sinn nicht verlieren
soll, so kurzfristig zu erbringen, dass die Erwirkung eines Titels im ordentlichen
Verfahren nicht möglich ist, und (3) der dem Antragsteller aus der Nichterfüllung
drohende Schaden steht außer Verhältnis zu dem Schaden, der dem Antragsgegner
aus der sofortigen - vorläufigen - Erfüllung droht.
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Indem diese Kriterien auch für die Beschäftigungsverfügung zu gelten haben, genügt als
Verfügungsgrund nicht der sukzessive Untergang des Beschäftigungsanspruchs durch
Zeitablauf. Vielmehr ist erforderlich, dass der Arbeitnehmer über die bloße, durch seine
Nichtbeschäftigung verursachte Rechtsbeeinträchtigung hinaus ein ernsthaftes
Bedürfnis an einer gerichtlichen Eilentscheidung glaubhaft macht, etwa die von
tatsächlicher Beschäftigung abhängige Erlangung oder Sicherung einer beruflichen
Qualifikation (Kammer 01.06.2005 - 12 Sa 352/05 - Juris Rn. 18 = MDR 2005, 1419,
mwN, LAG Köln 21.07.2010 - 3 SaGa 8/10 - Juris Rn. 39, ff., GK-ArbGG/Vossen, § 62
Rn. 64/70, GMPM/Germelmann, ArnGG, 7. Aufl., § 62 Rn. 105, BCF/Creutzfeldt, ArbGG,
3. Aufl., § 62 Rn. 98, Reinhard/Kliemt, NZA 2005, 547).
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II.Ob ausnahmsweise in Fällen, in denen die Kündigung des Arbeitgebers offensichtlich
unwirksam ist (vgl. hierzu BAG GS 27.02.1985 - GS 1/84 - Juris Rn. 83 ff.), der
Verfügungsanspruch das Vorliegen eines Verfügungsgrundes indizieren kann (vgl. GK-
ArbGG/Vossen, § 62 Rn. 70), bedarf vorliegend keiner Erörterung. Die Kündigung des
Insolvenzverwalters vom 11.03.2009 ist zwar nach dem Urteil der Kammer vom
10.11.2010 - 12 Sa 1321/10 - wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 2 u. 3 KSchG
iVm. § 134 BGB nichtig. Diese Rechtsfolge ist jedoch nicht offensichtlich und kann vom
Insolvenzverwalter der revisionsrechtlichen Nachprüfung unterzogen werden.
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III.Der Antragsteller selbst macht kein besonderes ideelles oder berufliches
Beschäftigungsinteresse geltend. Es ist auch nicht ersichtlich, dass er durch den
Nichterlass der beantragten Verfügung und der daraus resultierenden tatsächlichen
Nichtbeschäftigung (bis zur Entscheidung im Hauptverfahren ArbG Solingen 2 Ca
1082/10) seine Fähigkeiten zur Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeit verliert.
Ebenso wenig hat der Kläger dargelegt, dass er durch die Nichtbeschäftigung in seinem
Ansehen herabgewürdigt würde oder sonstwie mit Nachteilen rechnen müsste.
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Vielmehr ist sein Beschäftigungsinteresse materieller Art, nämlich auf die Erzielung von
Arbeitslohn gerichtet. Dieses Interesse wird im Allgemeinen ausreichend durch § 615
BGB gesichert (BAG GS, 27.02.1985, Rn. 92).
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Im übrigen kann das wirtschaftliche Interesse an der Erzielung von Lohneinkünften
keine Beschäftigungsverfügung rechtfertigen, weil ein entsprechender
Weiterbeschäftigungstitel überhaupt keine Verurteilung zur Lohnzahlung enthielte und
daher ungeeignet wäre, die wirtschaftliche Existenz des Arbeitnehmers zu sichern (LAG
Köln 10.09.2004 - 4 Ta 298/04 - Juris Rn. 4 = LAGE Nr. 4 zu § 611 BGB 2002
Beschäftigungspflicht).
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Die Erwägung, dass die Beschäftigungsverfügung "mittelbar" den Arbeitgeber dazu
anhalten werde, die für die tatsächlichen Beschäftigungszeiten entstehenden
Lohnansprüche zu erfüllen, geht auch aus einem anderen Grund fehl, denn sie läuft
praktisch darauf hinaus, eine auf die Zahlung von Arbeitsentgelt abzielende einstweilige
Verfügung zu installieren. Eine solche Lohnverfügung wird indessen allgemein als
unzulässige Befriedigungsverfügung angesehen und lediglich für den seltenen
Sonderfall in Betracht gezogen, in dem es darum geht, dem Arbeitnehmer einen
dringend für seinen Lebensunterhalt benötigten Geldbetrag zukommen zu lassen (GK-
ArbGG/ Vossen, § 62 Rn. 65 ff., BCF/ Creutzfeldt, § 62 Rn. 109 ff., ErfK/Koch, 11. Aufl.,
§ 62 ArbGG Rn. 19, HzA/ Ascheid, Gruppe 21, Rn. 1245/1249, GMPM/ Germelmann, §
62 Rn. 103 f., Reinhard/Kliemt, NZA 2005, 552). Der "Notbedarf" richtet sich nicht auf
den Lohn in voller Höhe, sondern gerade und nur auf den für den Lebensunterhalt
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notwendigen Mindestbetrag. Die Höhe dieses Betrages hat der Arbeitnehmer im
Verfügungsverfahren substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen. Dazu gehört
näherer Vortrag, dass weder andere Einkommensquellen, vorrangig nutzbare
Vermögenswerte und Ersparnisse vorhanden noch Unterstützungsleistungen hierzu
gesetzlich Verpflichteter oder anderer zur Hilfe bereiter Personen erhältlich sind (GK-
ArbGG/Vossen, § 62 Rn. 66, BCF/Creutzfeldt, § 62 Rn. 111). Schließlich wird der
Arbeitnehmer, bevor sein (bisheriger) Arbeitgeber ihm den "Notbedarf" gewährt, im
Verfügungsverfahren die Verhältnismäßigkeit (§ 938 Abs. 1 ZPO) dergestalt darzulegen
haben, dass die für eine ggf. vorhersehbare Notlage getroffene finanzielle Vorsorge
aufgebraucht ist und andere Einkünfte, z.B. aus der Aufnahme einer geringer vergüteten
Erwerbstätigkeit, nicht zu erzielen waren bzw. sind.
Hieran gemessen hat es der Antragsteller an nachvollziehbarem Sachvortrag zu seinem
Notbedarf und jedweden Angaben zu dessen Höhe fehlen lassen.
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C.Die Kosten des Verfahrens hat nach § 91 Abs. 1 ZPO der Antragsteller zu tragen.
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Gegen dieses Urteil findet kein Rechtsmittel statt, § 72 Abs. 4 ArbGG.
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Dr. Plüm Franzen Wosnitza
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