Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 03.12.2014

auflösende bedingung, aufschiebende wirkung, verwaltungsakt, befristete rente

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 3.12.2014, 21 Sa 48/14
Auflösende Bedingung - Erwerbsminderungsrente - Tatbestandswirkung des
Verwaltungsakts
Leitsätze
1. Zur Tatbestandswirkung eines noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts, der
nicht sofort vollziehbar ist, im Rahmen eines Rechtsstreits vor den Arbeitsgerichten.
2. Anforderungen an die Bemühungen des Arbeitnehmers zur Beseitigung eines noch
nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts während des Laufs einer von ihm erhobenen
Bedingungskontrollklage.
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom
16.04.2014 - Az: 1 Ca 4638/13 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis durch Eintritt einer
auflösenden Bedingung im Hinblick auf den Bezug einer unbefristeten vollen
Erwerbsminderungsrente durch die Klägerin zum 11. Juli 2013 geendet hat oder
nicht.
2 Hinsichtlich des unstreitigen und des erstinstanzlich streitigen Vorbringens der
Parteien wird zur Vermeidung bloßer Wiederholungen gem. § 69 Abs. 3 Satz 2
ArbGG auf den ausführlichen, zutreffenden und nicht gem. § 320 Abs. 1 ZPO
angegriffenen Tatbestand des mit der Berufung angegriffenen Urteils des
Arbeitsgerichts vom 16. April 2014 (Seiten 2 bis 4, Bl. 215 bis 217 der Akten-ArbG)
verwiesen.
3 Das Arbeitsgericht hat den von der Klägerin zuletzt gestellten Antrag,
4
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch den Eintritt einer
auflösenden Bedingung nicht zum 11. Juli 2013 beendet wurde,
5 vollumfänglich abgewiesen und ist insoweit dem Klagabweisungsantrag der
Beklagten gefolgt.
6 Zur Begründung führt das Arbeitsgericht aus, maßgebend für die auflösende
Bedingung wegen Erwerbsminderung sei nicht arbeitsvertragliche Regelung der
Parteien in den allgemeinen Vertragsbedingungen, sondern die tarifvertragliche
Regelung im Rahmen der dort geregelten allgemeinen
Beschäftigungsbedingungen. Die auflösende Bedingung sei eingetreten, da die
Klägerin seit 1. April 2008 unbefristet voll erwerbsgemindert sei und eine
entsprechende Feststellung des Rentenversicherungsträgers vorliege. Darauf, ob
der Rentenbescheid noch nicht bestandskräftig geworden sei, komme es nicht an.
Auch wenn dieser noch nicht bestandskräftig sein sollte, sei er jedenfalls bis zum
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht nicht
beseitigt worden und entfalte daher als Verwaltungsakt Tatbestandswirkung für
das Gericht.
7 Ungeachtet dessen habe die Klägerin auch bis zu diesem Zeitpunkt den
Rentenbescheid lediglich hinsichtlich der Höhe der festgestellten Rente und nicht
hinsichtlich der Bewilligung einer unbefristeten vollen Erwerbsunfähigkeitsrente
angegriffen. Im Hinblick auf die Regelung in § 6 KSchG müsse der Arbeitnehmer
aber zumindest bis zur letzten mündlichen Verhandlung erster Instanz die ihm
obliegenden Maßnahmen ergriffen haben, um den Bescheid über die Bewilligung
einer unbefristeten vollen Erwerbsminderungsrente zu beseitigen. Zumindest bis
zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht müsse
sich der Arbeitnehmer darauf berufen, dass der Rentenbescheid über die
Bewilligung einer unbefristeten vollen Erwerbsminderungsrente beseitigt werde.
Allein die Berufung darauf, er wolle sich alle Möglichkeiten offen halten, stelle
keinen Grund dar, den Eintritt der auflösenden Bedingung in Frage zu stellen.
8 Im Übrigen verhalte sich die Klägerin auch treuwidrig, wenn sie zur Verhinderung
des Eintritts der auflösenden Bedingung den Eintritt der Bestandskraft des
Rentenbescheids allein mit Einwänden verhindere, die die für den
Bedingungseintritt maßgeblichen Umstände nicht beträfen und es damit selbst
unmöglich mache, dass die Bewilligung der unbefristeten vollen
Erwerbsminderungsrente aufgehoben werde.
9 Gegen diese der Klägerin am 19. Mai 2014 (vgl. Empfangsbekenntnis Bl. 224 der
Akten-ArbG) zugestellte Entscheidung richtet sich ihre am 18. Juni 2014 mit
Schriftsatz einer Verbandsvertreterin beim Landesarbeitsgericht Baden-
Württemberg in Telekopie und am 23. Juni 2014 im Original eingegangene
Berufung (vgl. gerichtliche Eingangsstempel Bl. 1 und 3 der Akten), die sie mit am
21. August 2014 per Telekopie und am 25. August 2014 im Original beim
Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz einer Verbandsvertreterin (vgl.
gerichtliche Eingangsstempel Bl. 13 und 20 der Akten) begründet hat. Zuvor hatte
das Gericht in seiner Verfügung vom 2. Juli 2014 (Bl. 12 der Akten) der Klägerin
auf ihren Antrag hin, der mit Schriftsatz einer Verbandsvertreterin per Telekopie am
2. Juli 2014 und im Original am 3. Juli 2014 beim Landesarbeitsgericht einging (vgl.
gerichtliche Eingangsstempel Bl. 10 und 11 der Akten), die
Berufungsbegründungsfrist bis einschließlich 21. August 2014 verlängert.
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Die Klägerin trägt nunmehr vor,
die Tatbestandswirkung des Rentenbescheids als Verwaltungsakt sei für das
Gericht nicht bindend. Wirkung entfalte der Verwaltungsakt zunächst nur im
Verhältnis von Behörde zu Empfänger. Tatbestandwirkung des dem
Verwaltungsakt zu Grunde liegenden Sachverhalts für Behörden und
Hoheitsträger könne nur bei schon bestandskräftigen Verwaltungsakten eintreten.
Nur bei einem nicht mit einem Widerspruch angegriffenen Verwaltungsakt sei
davon auszugehen, dass dessen Adressat die darin enthaltene
Tatsachengrundlage auch als richtig ansehe. Deshalb gäbe es auch die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bei einem Verwaltungsakt.
11 Darüber hinaus komme es nicht darauf an, mit welchen Gründen sie den
Rentenbescheid angegriffenen habe. Es gäbe nur einen einheitlichen Widerspruch
gegen einen einheitlichen Verwaltungsakt. Die Tatsache, dass sie sich in ihrer
Widerspruchsbegründung gegen den Rentenbescheid nur gegen einen falschen
Versicherungsverlauf, also gegen die Rentenhöhe wehre, sage keinesfalls aus,
dass der Bescheid an sich, also auch hinsichtlich der Bewilligung, auf jeden Fall
bestehen bleiben werde. Die Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente sei
für sie als Arbeitnehmerin eine komplexe Entscheidung, die von vielerlei Faktoren
abhänge und von fundamentaler Bedeutung für sie sei. Nicht selten bedinge sie
die endgültige Aufgabe der bisherigen Arbeitsstelle und damit der wichtigsten
Quelle der eigenen finanziellen Absicherung. Hierbei sei die Frage der
Rentenhöhe für den Arbeitnehmer von entscheidender Bedeutung. Nicht selten
führe eine zu geringe Rentenhöhe letztendlich dazu, dass ein Arbeitnehmer sich
gegen die Inanspruchnahme der Rente entscheide. Daher sei es denkbar, dass
ein Arbeitnehmer seinen Rentenbezug noch im Widerspruchs- oder
Klageverfahren zurücknehme, wenn sich dort herausstelle, dass der von der
Rentenversicherung zu Grunde gelegte Versicherungslauf korrekt und die zu
gewährende Rente für ihn zu gering sei. Sie habe, sollte sich die Rentenhöhe wie
im letzten Bescheid festgesetzt als tatsächlich so gering erweisen, noch immer ein
Interesse und auch die Möglichkeit, ihren Antrag auf Erhalt von
Erwerbsminderungsrente zurückzunehmen und an ihren Arbeitsplatz
zurückzukehren. Dass sie eine Besserung ihrer gesundheitliche Situation für
möglich halte, habe sie bereits in ihrem Schreiben an die Rentenversicherung vom
24. Juni 2009 erklärt. Sie habe auch ein legitimes Interesse daran, sich durch
Aufrechterhaltung ihres Widerspruchs bzw. ihrer Klage gegen den
Rentenbescheid bis zur Klärung der korrekten Rentenhöhe die Möglichkeit dessen
Beseitigung offen zu halten. Sie können dies insbesondere auch in der Absicht
tun, das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten nicht durch Eintritt der Bestandskraft
des Bescheids enden lassen zu wollen, solange die Höhe ihrer Rente nicht geklärt
und damit auch nicht klar sei, ob diese für ihren Lebensunterhalt ausreiche.
12 Im Übrigen sei ihr erhobener Widerspruch eine Maßnahme zur Beseitigung des
Bescheids. Sie habe auch zu Protokoll des Arbeitsgerichts in der mündlichen
Verhandlung vom 16. April 2014 erklärt, ein sozialgerichtliches Verfahren
angestrengt zu haben, um die Bestandskraft des Rentenbescheids nicht eintreten
zu lassen und um sich alle Möglichkeiten offen zu halten. Eine weitergehende
Bekundung eines Beseitigungswillens verlange das Gesetz von ihr nicht.
13 Im Hinblick auf ihre Motivation verhalte sie sich auch nicht treuwidrig, wenn sie die
Bestandskraft des Rentenbescheids durch ihren Widerspruch hindere und somit
die ihr Arbeitsverhältnis auflösende Bedingung nicht eintreten könne.
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Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 16.04.2014,
Az: 1 Ca 4638/13, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung nicht zum 11.07.2013
beendet worden sei.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
18
Sie trägt noch vor,
die Klägerin habe bis heute keinen Nachweis dafür erbracht, dass der Bescheid
vom 19. Mai 2010, mit dem ihr eine unbefristete Rente wegen voller
Erwerbsminderung bewilligt worden sei, nicht bestandskräftig geworden sei. Nach
ihrem eigenen Vortrag habe sie sich zudem bis zum heutigen Tag gegen diesen
Bescheid nicht mit dem Ziel bzw. der Begründung gewandt, statt einer
unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung eine befristete Rente zu
erhalten.
19 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gem. den §§
64 Abs. 6 ArbGG, 525, 213 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über
die mündlichen Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht und dem
Landesarbeitsgericht verwiesen.
20 In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 03. Dezember 2014
erklärte die Klägerin auf Frage des Vorsitzenden, dass das von ihr angestrengte
Klageverfahren vor dem Sozialgericht Stuttgart (Az: S 25 R 346/14 vgl. auch Bl.
181 der Akten-ArbG) gegen den Rentenbescheid derzeit ruhe und sie ihre Klage
bisher nicht begründet habe.
Entscheidungsgründe
21 Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
22
A. Zulässigkeit der Berufung
23 1. Die Berufung der Klägerin ist gem. den §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und Abs. 2 lit. c
ArbGG statthaft. Sie ist auch gem. den §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519 Abs. 1
und 2, 520 Abs. 1 und 3 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und
nach noch innerhalb der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist bei Gericht
eingegangenem formgerechten Fristverlängerungsantrag im Rahmen der
daraufhin gemäß gerichtlicher Verfügung verlängerten Frist mit Schriftsatz einer
Verbandsvertreterin im Sinne des § 11 Abs. 4 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ArbGG
begründet worden. Die Berufung der Klägerin setzt sich insbesondere mit den drei
das Ergebnis jeweils alleine tragenden Begründungen, mit denen das
Arbeitsgericht den in der Berufung noch streitgegenständlichen Klagantrag
behandelt und diesem nicht entsprochen hat, hinreichend auseinander.
24 2. Anderweitige Bedenken an der Zulässigkeit der Berufung bestehen nicht.
25
B. Begründetheit der Berufung
26
I. Zulässigkeit der Klage
27 1. Der Streitgegenstand der Feststellungsklage im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2
ZPO ist hinreichend bestimmt. Die Klägerin greift mit ihrer Feststellungsklage eine
konkrete auflösende Bedingung an und formuliert ihren Klagantrag, wie gem. den
§§ 21, 17 Satz 1 TzBfG vorgesehen.
28 2. Im Übrigen bestehen keine Bedenken an der Zulässigkeit des Klagantrags.
29
II. Begründetheit der Klage
30 1. Die Klägerin hat innerhalb der von ihr gem. den §§ 21, 17 Satz 1, 15 Abs. 2
TzBfG im Falle des Streits über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses der
Prozessparteien durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung zu beachtende
Frist von 3 Wochen nach Unterrichtung der Arbeitnehmerin durch den Arbeitgeber,
dass aus dessen Sicht das Arbeitsverhältnis der Parteien durch Eintritt einer
auflösenden Bedingung geendet hat (vgl. hierzu BAG vom 23. Juni 2004 Az: 7
AZR 440/03 AP Nr. 5 zu § 17 TzBfG), Klage erhoben hat. Mit Schreiben der
Beklagten vom 24. Juni 2013, dass der Klägerin nach ihrem Vortrag am
27.06.2013 zuging und das sie nach Vortrag der Beklagten am 25. Juni 2013 um
15.28 Uhr durch Einwurf in den Hausbriefkasten an der Wohnadresse der Klägerin
erhielt, teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
im Hinblick auf die Bewilligung einer unbefristeten Rente wegen voller
Erwerbsunfähigkeit für die Klägerin zum 01. April 2008 geendet habe. Hiergegen
wandte sich die Klägerin mit einer Kündigungsschutzklage und einer allgemeinen
Feststellungsklage zu Protokoll der Rechtsantragsstelle des Arbeitsgerichts
Stuttgart am 02. Juli 2013 unter Beifügung des Schreibens der Beklagten (datiert)
vom 24. Juni 2013 als Anlage zur Klage. Diese Klage konnte der Beklagten auch
demnächst im Sinne des § 167 ZPO zugestellt werden. Auch wenn der konkrete
Bedingungskontrollantrag im Sinne der §§ 21, 17 Satz 1 TzBfG erst mit am 31. Juli
2013 beim Arbeitsgericht erhobener Klage (vgl. gerichtlicher Eingangsstempel Bl.
26 der Akten) von der Klägerin gestellt wurde, ist die Klagefrist von 3 Wochen
jedenfalls durch den ursprünglich zur Entscheidung gestellten allgemeinen
Feststellungsantrag gewahrt worden. Darüber hinaus ist die
Kündigungsschutzklage - für die Beklagte ohne weiteres erkennbar - im Hinblick
auf die konkrete Fassung des Klagantrags, dessen Begründung und des von der
Klägerin als Anlage hierfür beigefügten Schreibens der Beklagten an die Klägerin
vom 24. Juni 2013 von vornherein als Bedingungskontrollklage auszulegen
gewesen.
31 2. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete durch Ablauf der Zweiwochenfrist
gem. den §§ 21, 15 Abs. 2 TzBfG iVm. den §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 erste Alt.
BGB mit Ablauf des 10. Juli 2013, nachdem das Schreiben der Beklagten (datiert)
vom 24. Juni 2013 in den Hausbriefkasten der Klägerin - von dieser zuletzt nicht
bestritten - am 25.Juni 2013 um 15.28 Uhr eingeworfen worden ist und deshalb in
Hinblick darauf, dass dieser Zeitpunkt nach den üblichen Postzustellungszeiten
liegt, dieser am 26. Juni 2013 - ungeachtet einer eventuell erst späteren
Kenntnisnahme durch die Klägerin - rechtlich (§ 130 Abs. 1 BGB) zugegangen ist.
Zur Vermeidung von bloßen Wiederholungen wird im Übrigen zunächst gem. den
§§ 69 Abs. 3 Satz 2 ArbGG auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts unter I. 2
a+b der Entscheidungsgründe des mit der Berufung angefochtenen Urteils (Seiten
4-7 des Urteils, Blatt 217-220 der Akten - Arbeitsgericht) verwiesen. Das
Arbeitsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Frage des
Eintritts der auflösenden Bedingung und der damit zusammenhängenden
Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht an der Regelung in Ziffer 11.3 der
allgemeinen Vertragsbedingungen der Parteien, sondern an der tariflichen
Regelung des § 9.1 a Nr. 4 Tarifvertrag über allgemeine
Beschäftigungsbedingungen zu prüfen ist. Dieser Tarifvertrag ist durch beidseitige
Zugehörigkeit zu den tarifvertragsschließenden Parteien (§ 3 Abs. 1 TVG) auf das
Arbeitsverhältnis der Parteien auch anwendbar. Darüber hinaus ist das
Arbeitsgericht mit zutreffenden Begründungen zu dem Ergebnis gekommen, dass
die das Arbeitsverhältnis auflösende Bedingung eingetreten ist, da die Klägerin seit
01.04.2008 unbefristet voll erwerbsgemindert gem. dem Rentenbescheid der
deutschen Rentenversicherung vom 19. Mai 2010 in der Fassung vom 21.
November 2011 (im Weiteren: Rentenbescheid) ist und Rente daraus tatsächlich
bezieht.
32 3. Im Hinblick auf die Ausführungen der Klägerin in der Berufung ist darüber hinaus
noch Folgendes auszuführen:
33 a) Entgegen der Ansicht der Klägerin entfaltet auch der nicht bestandskräftige
Rentenbescheid - im Hinblick auf das Bestreiten der Beklagten mit Nichtwissen
betreffend die Frage dessen Nichtbestandskraft, wird dies zu Gunsten der
Klägerin im Weiteren unterstellt - Tatbestandswirkung für die erkennende Kammer.
Es ist anerkannt, das die Gerichte aller Gerichtszweige an das Bestehen und den
Inhalt von wirksamen Verwaltungsakten gebunden sind, soweit ihnen nicht die
Kontrollkompetenz eingeräumt ist (sogenannte Tatbestandswirkung von
Verwaltungsakten). Das gilt auch dann, wenn ein Verwaltungsakt rechtswidrig ist.
Diese Bindung entfällt nur, wenn ein Verwaltungsakt nichtig ist (zum Vorigen: BAG
vom 22. September 1995 5 AZB 19/95 - juris - I 2 b der Gründe mwN; BAG vom
02. März 2006 2 AZR 56/05 in AP Nr. 6 zu § 91 SGB IX B. I. 2 a+b der Gründe
mwN). Jedenfalls in den Fällen, in denen ein Verwaltungsakt die Folge eines
Antrags an eine Behörde auf Entscheidung über diesen Antrag darstellt, entfällt
diese Tatbestandswirkung aus Sicht der erkennenden Kammer nicht dadurch,
dass der ergangene Verwaltungsakt (noch) nicht bestandskräftig ist. Allein die
Tatsache, dass eine Bestandskraft zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
nicht vorliegt, lässt den Verwaltungsakt und dessen Inhalt als solchen nicht
entfallen. Zwar haben gegen feststellende oder rechtsgestaltete Verwaltungsakte
erhobene Widersprüche und Anfechtungsklagen gem. § 80 Abs. 1 VwGO
aufschiebende Wirkung, die nur in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO entfällt.
Hingegen wird ein Verwaltungsakt gem. § 43 Abs. 1 VwVfG gegenüber
demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem
Zeitpunkt und mit dem Inhalt wirksam, in dem er ihm inhaltlich bekannt gegeben
wird. Gem. § 43 Abs. 2 VwVfG bleibt der bekanntgemachte Verwaltungsakt auch
so lange wirksam, als er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig
aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Die
aufschiebende Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO verhindert danach die
Tatbestandswirkung eines Verwaltungsakts per se nicht. Weder zum Zeitpunkt der
letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht noch bis zu Ende der
mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht war der Rentenbescheid
hingegen nach dem Vortrag der Klägerin beseitigt und dessen
Tatbestandswirkung deshalb für das Berufungsgericht nicht entfallen.
34 b) Aber selbst dann, wenn man davon ausgehen sollte, dass eine
Tatbestandswirkung bei nicht bestandskräftigen Verwaltungsakten für die Gerichte
der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht anzunehmen ist, ergibt sich - wie das
Arbeitsgericht im Ergebnis und mit zutreffender Begründung ausgeführt hat - kein
anderes Ergebnis. Gem. den §§ 21, 17 Satz 2 TzBfG, 6 KSchG muss der
Arbeitnehmer zumindest bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem
Arbeitsgericht - und im Falle einer fehlenden Belehrung über § 6 KSchG durch das
Arbeitsgericht bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht
als Tatsachengericht (vgl. hierzu v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 15. Aufl. 2013
zu § 7 Rn. 13 und KR-Friedrich 10. Aufl. 2013 zu § 6 KSchG Rn. 38 mwN) - die
ihm obliegenden Maßnahmen ergriffen haben, um den Bescheid über die
Bewilligung einer unbefristeten vollen Erwerbsminderungsrente - als
Voraussetzung für das Vorliegen einer das Arbeitsverhältnis auflösenden
Bedingung - zu beseitigen. Die Klägerin hat zu keinem dieser Zeitpunkte ihren
Antrag auf Bewilligung von einer Erwerbsunfähigkeitsrente zurückgenommen oder
auf die Erteilung einer nur befristeten Rente eingeschränkt. Ebenfalls hat sie
weder in ihrem Widerspruch vom 19. Juni 2010 (Bl. 179 d. A. - ArbG) noch bisher
im Klageverfahren nach ihrem eigenen Vorbringen den Rentenbescheid insoweit
angefochten, als er ihr eine unbefristete Rente gewährt hat. Im Gegenteil. In ihrem
Widerspruch vom 19. Juni 2010 greift sie ausdrücklich nur die dem
Rentenbescheid von der Behörde zu Grunde gelegten Versicherungszeiten zur
Rentenberechnung und nicht die festgestellte unbefristete volle
Erwerbsminderung an. Ebenfalls nimmt sie laufend Rentenzahlungen aus dem
von ihr angegriffenen Rentenbescheid einschränkungslos entgegen und ruht ihr
sozialgerichtliches Verfahren, das sie gegen den Rentenbescheid angestrengt
hat. Auch soweit sie in ihrem Widerspruchsschreiben an die deutsche
Rentenversicherung vom 24. Juni 2009 (Bl. 175-179 d. A. - ArbG) erklärt, dass „die
Befristung auf drei Jahre bleiben kann“, betrifft dies zum einen den bis dahin
existenten Rentenbescheide vom 08. Oktober 2008 (Bl. 79 bis 87 der Akten-ArbG)
und vom 15. Oktober 2008 (Bl. 88 bis 95 der Akten-ArbG), die auf ihren Antrag
ergingen und nicht den Rentenbescheid vom 19. Mai 2010 (Bl. 55 der Akten-
ArbG) in der Fassung vom 21. November 2011 (Bl. 96 bis 102 der Akten-ArbG).
Zum anderen hat sie sich, wie bereits oben ausgeführt, in ihrem
Widerspruchsschreiben vom 19. Juni 2010 gegen den Bescheid vom 19. Mai
2010 in der Fassung vom 21. November 2011 ausdrücklich gerade nicht gegen
die Tatsache gerichtet, dass der Rentenbescheid vom 19. Mai 2010/21.
November 2011 ihr eine unbefristete volle Erwerbsminderungsrente gewährt.
35 Allein die Tatsache, dass sie sich im Hinblick auf ihre
sozialversicherungsrechtliche Dispositionsbefugnis darauf beruft, sie sich im
Rahmen des Rechtsstreits vor dem Sozialgericht Stuttgart alle Optionen offen zu
halten, genügt nicht, um den Eintritt der auflösenden Bedingung zu hindern.
Wegen § 6 KSchG ist sie gehalten, ihre sozialrechtliche Dispositionsbefugnis im
Hinblick auf die Möglichkeit des Eintritts einer auflösenden Bedingung bis zum
Ablauf der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht - ggf. bis zu der
mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht als Tatsachengericht -
tatsächlich auszuüben und klarzustellen, inwieweit sie ihren Antrag auf
Erwerbsminderungsrente aufrecht erhalten will und/oder sie den ergangenen
Rentenbescheid anfechten will. Ansonsten wäre einem der gesetzlichen Zwecke
des § 6 KSchG, nämlich dem Zweck, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt für beide
Arbeitsvertragsparteien Rechtsklarheit und Rechtssicherheit über den Bestand
ihres Arbeitsverhältnisses zu schaffen (vgl. BT - Drucks. 15/1204 S.13), nicht
ansatzweise Genüge getan und die Ungewissheit über den Bestand des
Arbeitsverhältnisses nur in Fällen von rechtsmissbräuchlichem oder treuwidrigem
Verhalten einer der Arbeitsvertragsparteien beseitigt werden.
36
C. Nebenentscheidungen
37 1. Nachdem die Berufung der Klägerin in vollem Umfang keinen Erfolg hat, trägt sie
deren Kosten gem. § 97 Abs. 1 ZPO vollständig.
38 2. Die Revision ist zuzulassen, nachdem aus Sicht der erkennenden Kammer die
entscheidungserheblichen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung im Sinne des
§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG haben.