Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 05.03.2015

bedürftige partei, schweres verschulden, aufhebung der leistung, anschrift

LArbG Baden-Württemberg Beschluß vom 5.3.2015, 17 Ta 2/15
Prozesskostenhilfe - Verstoß gegen Mitwirkungspflichten
Leitsätze
Die Partei muss sich auch im Rahmen des Prozesskostenhilfeüberprüfungsverfahrens
das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. An das Vorliegen
eines atypischen Falles, der im Rahmen von § 124 Abs. 1 ZPO nF eine
Ermessensentscheidung eröffnet, dürfen unter Berücksichtigung des Charakters der
Prozesskostenhilfe als besonderer Form der Sozialhilfe keine sehr hohen
Anforderungen gestellt werden.
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts
Pforzheim vom 11.12.2014 (5 Ca 109/14) aufgehoben.
2. Die Rechtsbeschwerde wird für die Beteiligte Ziffer 2 zugelassen.
Gründe
I.
1 Der Antragstellerin wurde mit Beschluss vom 23.06.2014 ratenfreie
Prozesskostenhilfe bewilligt. Am 13.10.2014 wurde die Vergütung festgesetzt. Am
selben Tag wurde eine Verfügung an die Antragstellerin direkt und an ihre
Prozessbevollmächtigten versandt, in der es u. a. heißt:
2
„Die Entscheidung über zu leistende Zahlungen kann innerhalb von 4 Jahren
nach Beendigung der Rechtssache geändert werden, wenn sich die persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich verbessert haben. Bis zum Ablauf
dieses Zeitraums besteht die Verpflichtung, dem Gericht wesentliche
Verbesserungen der wirtschaftlichen Verhältnisse oder eine Änderung der
Anschrift unverzüglich mitzuteilen …
3
Bei einem Verstoß gegen diese Pflichten muss mit einer Aufhebung der
Bewilligung der Prozesskostenhilfe gerechnet werden. Dies würde zu einer
Nachzahlung der gesamten Kosten führen.
4
Das Gericht wird die Einhaltung dieser Pflichten von Amts wegen überprüfen.
5
Die Prozessvollmacht wirkt auch für das Überprüfungsverfahren fort. Sollte die
Prozessvollmacht nicht mehr bestehen, wird um ausdrückliche Erklärung
gebeten.“
6 Das direkt an die Antragstellerin gerichtete Schreiben gelangte am 16.10.2014 an
das Arbeitsgericht zurück mit dem Vermerk „Empfänger unter der angegebenen
Anschrift nicht zu ermitteln“. Eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt vom selben
Tag ergab, dass sich die Anschrift der Antragstellerin geändert hatte. Die
Verfügung vom 13.10.2014 wurde erneut an die Antragstellerin direkt übersandt.
Mit Schreiben vom 16.10.2014 (ABl. 108) erhielten die Prozessbevollmächtigten
der Antragstellerin Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 06.11.2014. Mit
Schreiben vom 03.11.2014 (ABl. 112) traten diese der beabsichtigten Aufhebung
der Prozesskostenhilfebewilligung entgegen. Die Antragstellerin sei im September
2014 umgezogen und habe die Änderung der Anschrift am 10.09.2014 telefonisch
in der Kanzlei mitgeteilt. Die entsprechende Mitteilung an das Gericht sei wegen
eines Kanzleiversehens versäumt worden. Das Versäumnis sei erst mit Schreiben
vom 16.10.2014 aufgefallen. Nach Beteiligung der Staatskasse erhielten die
Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mit Schreiben vom 13.11.2014 (ABl.
116) erneut Gelegenheit zur Stellungnahme bis 04.12.2014, wovon sie keinen
Gebrauch machten.
7 Mit Beschluss vom 11.12.2014 (ABl. 118) wurde die mit Beschluss vom
23.06.2014 bewilligte Prozesskostenhilfe aufgehoben. Gegen den am 12.12.2014
zugestellten Beschluss wurde mit Schriftsatz vom 12.01.2015 sofortige
Beschwerde eingelegt und hilfsweise beantragt, der Antragstellerin
Prozesskostenhilfe zu gewähren.
8 Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass ihr weder eine Absicht noch eine grobe
Nachlässigkeit vorgeworfen werden könne. Ein eventuelles Verschulden auf
Seiten des Prozessbevollmächtigten könne nicht gleichgestellt, respektive nicht
zugerechnet werden. Die Aufhebung der bewilligten Prozesskostenhilfe habe
unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Antragstellerin, deren wirtschaftliche
und persönliche Verhältnisse sich vorliegend nämlich nicht geändert/verbessert
hätten.
9 Die Bezirksrevisorin beim Landesarbeitsgericht ist der Auffassung, dass bei dem
Verstoß gegen die Verpflichtung, die Anschriftenänderung dem Gericht
unverzüglich mitzuteilen, angesichts der vorherigen Belehrungen von grober
Nachlässigkeit auszugehen sei. § 124 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO sehe in diesem Fall
zwingend eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung vor.
II.
10 Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
11 1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 11 Abs. 1 RPflG, 78 Satz 1 ArbGG, 127
Abs. 2, 567 Abs. 1 und 2, 569 Abs. 1 und 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen
zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.
12 2. Sie ist auch in der Sache begründet. Die Voraussetzungen für die Aufhebung
der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO liegen nicht vor.
Es ist von einem atypischen Fall auszugehen, sodass anstelle der regelhaften
Aufhebung eine Ermessensentscheidung zu treffen ist.
13 Nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO soll das Gericht die Bewilligung der
Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Parteien entgegen § 120a Abs. 2 Satz 1
bis 3 dem Gericht wesentliche Verbesserungen ihrer Einkommens- und
Vermögensverhältnisse oder Änderungen ihrer Anschrift absichtlich oder aus
grober Nachlässigkeit unrichtig oder nicht unverzüglich mitgeteilt hat.
14 a) Die Antragstellerin hat die Änderung ihrer Anschrift entgegen der Verpflichtung
aus § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO dem Gericht nicht unverzüglich mitgeteilt. Sie ist im
September umgezogen, die neue Anschrift hat das Gericht am 16.10.2014 nach
der Rücksendung eines an die Antragstellerin gerichteten Schreibens aufgrund
einer elektronischen Anfrage beim Einwohnermeldeamt erfahren. Die
Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat diese dem Gericht inzwischen
bekannte Anschrift mit Schriftsatz vom 03.11.2014 nochmals mitgeteilt. Diese
Mitteilung erfolgte ca. zwei Monate nach dem Umzug der Antragstellerin und damit
nicht mehr unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, im Sinne der §§ 120a
Abs. 2 Satz 1, 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.
15 „Unverzüglich“ heißt nicht „sofort“, aber entsprechend der Legaldefinition in § 121
Abs. 1 BGB ohne schuldhaftes Zögern, d. h. innerhalb einer nach den Umständen
des Einzelfalls zu bemessenden Prüfungs- und Überlegungsfrist. Es wird daher
von der Antragstellerin nicht verlangt, ihren Wohnungswechsel dem Gericht
innerhalb weniger Tage nach dem Umzug bekannt zu machen. Es ist
nachvollziehbar und auch nicht zu beanstanden, wenn ein gewisser - kurzer -
Zeitraum zwischen dem Wohnungswechsel und der Nachricht an das Gericht
vergeht (vgl. auch LAG Düsseldorf 15.12.2014 - 2 Ta 555/14). Die Mitteilung der
Antragstellerin an ihre Prozessbevollmächtigten am 10.09.2014 hielt sich daher im
Rahmen des von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse
billigerweise zu erwartenden Verhaltens (vgl. auch BAG 20.05.1988 - 2 AZR
739/87, juris Rn. 26 und 32). Die Weitergabe der Anschriftenänderung an das
Gericht durch die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin erfolgte dann aber
nicht unverzüglich. Auch von den Prozessbevollmächtigten wird dabei kein
„sofortiges“ Tätigwerden erwartet, sondern ihnen eine angemessene
Bearbeitungsfrist eingeräumt, die sich wiederum nach den Umständen des
Einzelfalles bemisst. Da es vorliegend um die einfache Weitergabe einer
Anschriftenänderung ging, dürfte eine Bearbeitungszeit von drei Tagen
angemessen und ausreichend sein. Innerhalb dieser Frist sind die
Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin weder nach deren telefonischer
Mitteilung am 10.09.2014 noch nach Eingang der Verfügung vom 13.10.2014
noch nach Eingang des Schreibens der Rechtspflegerin vom 16.10.2014 tätig
geworden. Spätestens nach Eingang dieses Schreibens hätte Anlass bestanden,
die Anschriftenänderung umgehend mitzuteilen.
16 b) Die nicht unverzügliche Mitteilung der Anschriftenänderung beruht auch auf
grober Nachlässigkeit. Eine grobe Nachlässigkeit kann in Anlehnung an den
materiell-rechtlich entwickelten Begriff der groben Fahrlässigkeit angenommen
werden, wenn die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße
verletzt wird, weil schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht
angestellt werden und das nicht beachtet wird, was in gegebenem Fall jedem
einleuchten muss. Den Handelnden muss auch in subjektiver Hinsicht ein
schweres Verschulden treffen (BGH 10.05.2011 - VI ZR 196/10, juris Rn. 10;
11.07.2007 - XII ZR 197/05, juris Rn. 15; 29.01.2003 - 4 ZR 173/01, juris Rn. 10;
OLG Karlsruhe 06.06.2014 - 18 WF 76/14, juris Rn. 18). Ein objektiv grober
Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein
entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden, nur weil ein solches häufig
damit einhergeht. Vielmehr erscheint ein solcher Vorwurf nur dann als
gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare
Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich
überschreitet. Hiernach ist es in aller Regel erforderlich, nicht nur zur objektiven
Schwere der Pflichtwidrigkeit, sondern auch zur subjektiven (personalen) Seite
konkrete Feststellungen zu treffen (BGH 10.05.2011 - VI ZR 196/10, juris Rn. 10).
Den Antragsteller trifft nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes hinsichtlich des
Fehlens eines Verschuldens keine Darlegungslast
(Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 72. Aufl., § 124 ZPO Rn 38).
17 Ein solches auch subjektiv schweres Verschulden liegt hier vor: die Verpflichtung
zur unverzüglichen Mitteilung einer Anschriftenänderung ergibt sich bereits aus
dem Gesetz, das der Rechtsanwalt kennen muss. Auf die konkrete Verpflichtung
wurde aber auch die Antragstellerin bereits bei Antragstellung, nämlich im
amtlichen Formular zur Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse, dort unter „K“ fettgedruckt und grau unterlegt, hingewiesen. Der
nämliche Hinweis findet sich außerdem im
Prozesskostenhilfebewilligungsbeschluss. Dennoch sind die
Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin weder bei Mitteilung der
Anschriftenänderung durch die Antragstellerin am 10.09.2014 noch nach Eingang
der gerichtlichen Verfügung vom 13.10.2014 noch nach Eingang des Schreibens
der Rechtspflegerin vom 16.10.2014 unverzüglich tätig geworden. Offenbar ist zu
keinem Zeitpunkt eine Durchsicht der Akte erfolgt, so dass die
Anschriftenänderung aufgefallen wäre. Ein „Kanzleiversehen“ ist hierfür keine
hinreichende Entschuldigung. Es ist auch unklar, worin dieses Versehen gelegen
haben soll (Nichtvorlage der Akte? Fehlende Anweisung hierzu? Schlichtes
Nichtbearbeiten der Angelegenheit?). Hierauf kommt es vorliegend deshalb nicht
an, weil spätestens nach Eingang des Schreibens vom 16.10.2014 konkreter
Anlass bestanden hätte zu prüfen, ob eine Mitteilung an das Gericht erforderlich
war. Ein weiteres Zuwarten von mehr als zwei Wochen war grob nachlässig.
18 c) Dieses Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten muss sich die
Antragstellerin auch nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. § 85 Abs. 2 ZPO
findet auch im Prozesskostenhilfeverfahren Anwendung: Der Gesetzgeber hat in §
85 Abs. 2 ZPO die Gleichstellung des Verschuldens eines Bevollmächtigten mit
dem Verschulden der Partei ohne jede Einschränkung angeordnet, diese
Regelung in die allgemeinen Vorschriften des 1. Buchs der Zivilprozessordnung
eingestellt und sie dadurch mit einem umfassenden Geltungsanspruch
ausgestattet sowie in die Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe keine
Sondervorschriften zur Frage der Anrechnung des Verschuldens von
Prozessbevollmächtigten aufgenommen (BGH 12.06.2001 - VI ZR 161/01, juris
Rn. 8 bis 10 auch zum seinerzeitigen Streitstand in Literatur und Rechtsprechung;
LAG Thüringen 13.11.2002 - 8 Ta 92/02, juris Rn. 9).
19 Hiergegen wird neuerdings eingewandt, mit dem Sanktions- und Strafcharakter
der Vorschriften zur Aufhebung der Prozesskostenhilfe lasse sich die Zurechnung
fremden Verschuldens nicht vereinbaren (Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/
Dürbeck 7. Aufl. Rn. 836; Zimmermann 4. Aufl. Rn. 486). Dies überzeugt nicht, weil
§ 85 Abs. 2 ZPO lediglich Folge und Abbild des zwischen Mandanten und
Prozessbevollmächtigten bestehenden materiellen Rechtsverhältnisses ist. Das
Einstehenmüssen für das Verschulden eines Bevollmächtigten entspricht der
Rechtsnatur des Dienstvertrages und den allgemeinen Regeln des Rechts der
Stellvertretung: jede Partei, die sich durch einen Prozessbevollmächtigten
vertreten lässt, muss sich das Verschulden dieses Bevollmächtigten bei einer
Prozesshandlung oder einer mit dem Prozessgeschehen in untrennbarem
Zusammenhang stehenden Handlung so zurechnen lassen, als hätte sie selbst
mit eigenem Verschulden gehandelt (so auch LAG Thüringen aaO). Hierdurch
werden auch die Interessen der unbemittelten Partei im
Prozesskostenhilfeverfahren nicht unbillig beeinträchtigt, weil sie sich wegen der
Folgen schuldhafter Versäumnisse ihres Prozessbevollmächtigten bei diesem
schadlos halten kann und die Durchsetzbarkeit derartiger
Schadensersatzansprüche durch die gesetzlich vorgeschriebene
Berufshaftpflichtversicherung der Rechtsanwälte gesichert ist (BGH aaO Rn. 11).
20 d) Der angefochtene Beschluss verkennt jedoch (ebenso wie das LAG Düsseldorf
in der Entscheidung vom 15.12.2014 - 2 Ta 555/14), dass auch nach der
verschärften Neufassung von § 124 Abs. 1 ZPO das Gericht bei der Entscheidung
über die Aufhebung der Bewilligung weiterhin eine Ermessensentscheidung zu
treffen und Ermessen auszuüben hat , wenn ein atypischer Fall vorliegt (vgl. OLG
Karlsruhe 06.06.2014 - 18 WF 76/14, juris Rn. 20), und dass es sich vorliegend
um einen solchen atypischen Fall handelt.
21 Die Vorschrift sieht bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine
Aufhebung als Regelfall vor, lässt in atypischen Fällen aber eine andere
Entscheidung zu. Die gesetzliche Regelung sieht damit in zulässiger Weise eine
Ermessensentscheidung vor, wenn ein atypischer Fall vorliegt. Der Gesetzgeber
hat bewusst das Wort „soll“ und nicht das Wort „muss“ verwendet (vgl. BT
Drucksache 17/11472 S. 34). Das Gericht ist daher nicht in jedem Fall
gezwungen, die Prozesskostenhilfebewilligung aufzuheben. Ob ein solcher
atypischer Fall gegeben ist, der den Weg zur Ermessenentscheidung eröffnet, ist
nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern dieser vorgelagert. Diese Frage
unterliegt der vollen Überprüfung der Beschwerde (von Wulffen/Schütze, SGB X,
8. Aufl., § 48 Rn. 20 mwN zur std. Rspr. der Sozialgerichte). Liegt ein atypischer
Fall vor, dann muss das Arbeitsgericht in seiner Entscheidung Ermessen ausüben
und dies auch in seiner Entscheidung erkennen lassen. Ansonsten liegt ein
fehlerhafter Nichtgebrauch des Ermessens vor, was zur Aufhebung der
Entscheidung führt. Das Gericht hat erneut zu entscheiden. Dem gleichzustellen
ist eine nur formelhafte Begründung, weil eine solche die maßgeblichen Kriterien
der Entscheidung nicht erkennen lässt.
22 Ob ein atypischer Fall vorliegt, hängt vom Zweck der Regelung und den
Umständen des Einzelfalls ab. Danach sind folgende Erwägungen maßgeblich:
23 Mit der Einführung der „Sollvorschrift“ wurde ein bereits zuvor bestehender Streit
über die Auslegung der Ermessensvorschrift entschieden (vgl. BT Drucksache
17/11472 S. 34). Nach der schon früher zur seinerzeit bestehenden
„Kannvorschrift“ vertretenen Auffassung, wonach im Regelfall eine
Aufhebungspflicht bestehe, haben die Staatskasse und der Prozessgegner bei
Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Anspruch auf eine
Änderungs- bzw. Aufhebungsentscheidung durch das Gericht (vgl.
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 70. Auflage, § 124 Rn. 16).
24 Die Frage nach den Grenzen des auszuübenden Ermessens sind dennoch
weiterhin umstritten. So wird beispielsweise erörtert, ob es noch verhältnismäßig
sei, eine VKH-Entscheidung allein deshalb aufzuheben, weil der Antragsteller nur
umgezogen ist und diesen Umstand nicht angezeigt hat oder wenn der
Hilfebedürftige allein gegen die Unverzüglichkeit der Mitteilungspflicht verstoßen
hat (Viefhues FF 2014, 385 unter III a. E. unter Hinweis auf Goetsche/Nickel,
FamRB 2013, 403, 411). Als Abwägungskriterien für die Entscheidung über das
„Ob“ der Aufhebung werden genannt: die Schwere des Verstoßes bzw. des
Verschuldens; die Nichtabgabe einer Erklärung, die auf einem schuldhaften
Verhalten der Partei beruht; die Auswirkungen für die Partei, insbesondere etwaige
Härten; das schutzwürdige Vertrauen in den Fortbestand der ursprünglichen
Bewilligungsentscheidung; der Kostendeckungsgrad etwaiger Zahlungen des
Antragstellers (Groß 12. Aufl. § 124 Rn. 34).
25 Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 124 ZPO eine verschärfte
Sanktionsnorm geschaffen (Büttner/Wrobel-Sachs Rn. 847, vgl. BGH 10.10.2012 -
IV ZB 16/12 zu § 124 Nr. 2 ZPO). Hiervon ist ausdrücklich auch die nicht
unverzügliche Mitteilung einer Anschriftenänderung erfasst. Dies ist im Grundsatz
zu respektieren, anderenfalls liefe die Vorschrift leer (so zu Recht LAG Düsseldorf
15.12.2014 - 2 Ta 555/14)
26 Die Auslegung der Norm hat jedoch vor dem Hintergrund des grundgesetzlich
gebotenen Sozialstaatsprinzips zu erfolgen, da die Prozesskostenhilfe eine
besondere Form der Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen darstellt. Hiervon ging
auch die Begründung des Gesetzesentwurfs zur Änderung des
Prozesskostenhilferechts aus (vgl. BT-Drucksache 17/11472 S. 33). Mit der
Einführung der Anzeigepflicht des Antragstellers bei wesentlichen
Einkommensverbesserungen war die Absicht verbunden, dass PKH-Recht mit
dem Sozialrecht zu harmonisieren, da es gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I bereits
eine Mitteilungspflicht gibt (aaO S. 24, 33). In der Begründung des
Gesetzesentwurfs heißt es weiter, der bedürftigen Partei sei die anlassbezogene
Mitteilungspflicht auch zumutbar, zumal eine feste Wertgrenze für das Vorliegen
einer wesentlichen Veränderung vorgesehen sei. Ergänzend werde die bedürftige
Partei verpflichtet, das Gericht auch über den Wechsel ihrer Anschrift zu
informieren. Teile sie einen Anschriftenwechsel nicht von sich aus mit, sei das
Gericht nicht oder nur nach aufwändigen Ermittlungen in der Lage, ein Verfahren
zur Änderung oder Aufhebung der Bewilligung zu betreiben (aaO S. 34).
27 § 66 SGB I lautet:
28 (1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen
Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die
Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne
weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder
teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung
nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder
Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des
Sachverhalts erheblich erschwert.
29 (3) Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder
entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich
hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm
gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.
30 § 60 Abs. 1 SGB I lautet:
31 (1) Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat
32 1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich, sind und auf
Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen
Auskünfte durch Dritte zuzustimmen,
33 2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über
die im Zusammenhang der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind,
unverzüglich mitzuteilen,
34 3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen
Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen …
35 Nach diesen Vorschriften gibt es zwar im allgemeinen Sozialrecht erhebliche
Mitwirkungspflichten des Hilfebedürftigen. Bei fehlender Mitwirkung „kann“ die
Leistung versagt oder aufgehoben werden. Zudem ist dem Hilfebedürftigen stets
eine angemessene Frist zu setzen. Der Wortlaut des § 124 Abs. 1 ZPO nF geht
damit in seiner Schärfe deutlich über das nach der Gesetzesbegründung verfolgte
Ziel einer Angleichung an die Vorschriften des SGB hinaus. Mit dem Wesen der
Prozesskostenhilfe als besonderem Fall der Sozialhilfe ist es bei dieser
Zielsetzung nicht zu vereinbaren, schon geringe Verstöße mit der vollständigen
Aufhebung der Leistung zu sanktionieren. Es ist vielmehr eine moderate
Auslegung des Begriffs „sollen“ geboten, die Anforderungen an das Vorliegen
eines atypischen Falles dürfen nicht überspannt werden. Es ist „Augenmaß
gefragt“: Nicht jede Verletzung der Mitteilungspflicht darf „automatisch“ zur
Aufhebung führen. Vielmehr ist zu fragen, ob die bedürftige Partei ihrer
Mitteilungspflicht in besonders schwerem Maße verletzt hat (Natter FA 2014, 290,
291).
36 Hierfür spricht auch, dass eine rigorose Anwendung der Aufhebungsvorschriften
zu Wertungswidersprüchen führen würde: Nach § 571 Abs. 2 Satz 1 ZPO kann die
Beschwerde auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel gestützt werden. Die im
Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens gesetzten Fristen sind keine
Ausschlussfristen. Die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach dem
bisherigen § 124 Ziff. 2 ZPO diente nicht der Sanktionierung der Fristversäumung,
sondern des Ausbleibens der geforderten Erklärung. Das Bundesarbeitsgericht
betont, dass es um die sachlich richtige Entscheidung geht (BAG 18.11.2003 - 5
AZB 46/03, juris Rn. 10 und 11; OLG Hamm 25.04.2014 - 2 WF 44/14, juris Rn. 10
bis 15).
37 Nach allem dürfen an das Vorliegen eines atypischen Falles keine sehr hohen
Anforderungen gestellt werden. Unter Anlegung dieses Maßstabs ist vorliegend
ein Ausnahmefall von der Regel des § 124 Abs. 1 ZPO gegeben:
38 Die Antragstellerin hat sich selbst unverzüglich im Sinne der Vorschrift an ihren
Prozessbevollmächtigten gewandt. Sie hat also versucht, ihrer Mitwirkungspflicht
nachzukommen. Aus ihrer Sicht liegt (ähnlich dem der Entscheidung des LAG
München vom 09.03.2015 - 10 Ta 8/15 zugrunde liegenden Sachverhalt) lediglich
ein „Übermittlungsfehler“ vor, es trifft sie hieran nur geringes (nämlich ein
Überwachungs-) Verschulden. Die fehlende Mitwirkungshandlung wirkte sich nicht
aus, weil die elektronische Anfrage beim Einwohnermeldeamt sogleich erfolgreich
war. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin haben
sich nicht geändert, vielmehr verschlechtert. Die Bedürftigkeit allein führt nicht zur
Annahme eines atypischen Falles, weil sie bei Gewährung staatlicher
Sozialleistungen der Regelfall ist und der Gesetzgeber die Sanktion auch dem
Bedürftigen zumutet. Vorliegend würde die Antragstellerin allerdings durch die
Aufhebung in besondere wirtschaftliche Bedrängnis geraten: Sie bezieht
Arbeitslosengeld II und ist von staatlicher Unterstützung für sich und ihre Kinder
vollständig abhängig. Sie ist außerstande, die Prozesskosten in Höhe von 862,72
EUR aufzubringen. Die Aufhebung steht außer Verhältnis zu dem geringfügigen
Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht.
39 Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben. Dies führt zu einer
Wiederherstellung des Ausgangsbeschlusses vom 13.06.2014. Anstelle der
regelhaften Aufhebung ist eine Ermessensentscheidung zu treffen. Das
Beschwerdegericht kann im Beschwerdeverfahren weder eigene
Ermessenserwägungen an die Stelle der erstinstanzlichen Erwägungen setzen
noch bei Fehlen einer erstinstanzlichen Ermessensentscheidung selbst eine
solche vornehmen. Es kann nur bei einer sog. Ermessensreduzierung auf Null
eine eigene „originäre“ Entscheidung in der Sache selbst treffe. Ein solcher Fall
liegt hier nicht vor. Das Ausgangsgericht erhält damit Gelegenheit sein Ermessen
auszuüben und entweder den Ausgangsbeschluss unter Abwägung sämtlicher
Umstände des Einzelfalls erneut aufzuheben oder die Aufhebung zu unterlassen.
40 3. Der Hilfsantrag ist nicht zur Entscheidung angefallen.
41 4. Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, § 127 Abs. 4 ZPO.
42 5. Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 78 Satz 2 iVm § 72 Abs. 2 Ziff. 1 und 2
ArbGG zuzulassen, da die Frage, unter welchen Voraussetzungen § 124 Abs. 1
ZPO eine Ermessensentscheidung eröffnet, grundsätzliche Bedeutung hat und da
insoweit von der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 15.12.2014 - 2 Ta 555/14
abgewichen wird.