Urteil des KG Berlin vom 02.04.2017

KG Berlin: beweiswürdigung, fahrzeug, strafurteil, fahrstreifen, fahrbahn, gewissheit, unfall, zivilprozess, schweigen, verwertung

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 113/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 522 Abs 2 ZPO
Leitsatz
Zur Verwertung der Feststellungen eines Strafurteils im zivilrechtlichen
Schadensersatzprozess wegen desselben Unfalls.
Steht nach dem Gutachten eines medizinsichen Sachverständigen fest, dass der Sturz einer
Fußgängerin durch den Anstoß eines Fahrzeugs verursacht wurde und kommen zwei
Kraftfahrzeuge als Verursacher des Sturzes einer Fußgängerin in Betracht, so kann die
strafgerichtliche Verurteilung eines der Fahrer im Zivilprozess nicht unberücksichtigt bleiben.
Berufung zurückgewiesen durch Beschluss vom 6. August 2009
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522
Absatz 2 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den im Wesentlichen
zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die
Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind. Ergänzend wird auf Folgendes
hingewiesen:
I.
Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die
nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
1) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom
Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit
nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der
entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.
a) Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der
Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO
gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht vom Ergebnis der
Beweiswürdigung abzuweichen (Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 - KGR
2004, 269; Senat, Urteil vom 10. Mai 2004 – 12 U 57/03-; vgl. auch KG [22. ZS], KGR
2004, 38 = MDR 2004, 533).
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das
bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und
ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess
gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf
er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz
mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung
feststellen (Zöller/Greger, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 286 Rdnr. 13; Senat, Urteil vom 24.
September 1998, - 12 U 4638/97; Senat, NZV 2004, 355; ).
Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine
Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es
nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich
einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende
Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 286 Rdnr. 3, 5).
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b) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat das Landgericht sich im
angefochtenen Urteil gehalten.
aa) Es hat auf den Seiten 5ff des Urteils in sich schlüssig und widerspruchsfrei dargelegt,
dass und warum es für bewiesen hält, dass die Klägerin durch einen Anstoß des vom
Beklagten zu 2) geführten Fahrzeugs und nicht, wie von den Beklagten behauptet, durch
einen Anstoß des von dem Zeugen W. geführten Fahrzeugs zu Fall gekommen ist. Im
Rahmen seiner Beweiswürdigung hat das Landgericht den gesamten Prozessstoff
gewürdigt und insbesondere dargelegt, dass und warum es der Aussage des Zeugen W.
folgt.
bb) Unerheblich ist, dass der Zeuge W. nicht gesehen hat, dass der Transporter die
Klägerin berührt hat. Das Landgericht hat auf Seite 5 der angefochtenen Entscheidung
zutreffend dargelegt, dass bereits aufgrund der beiden medizinischen Gutachten der
Sachverständigen Prof. Dr. M. und Prof. Dr. P. sowie dem Rekonstruktionsgutachten des
Sachverständigen Dipl-Ing. H. feststeht, dass die Klägerin nicht „von alleine“ zu Fall
gekommen ist sondern durch den Anstoß eines Fahrzeugs.
cc) Zu Recht hat das Landgericht davon abgesehen, die Beklagten zu 1) und 2) als
Partei zu vernehmen. Das Gebot der sogenannten „Waffengleichheit“ rechtfertigt
vorliegend eine Vernehmung bzw. Anhörung der Beklagten zu 1) und 2) nicht.
Entscheidend für die Notwendigkeit der Parteianhörung ist der Umstand, dass lediglich
einer der Parteien ein Zeuge zur Verfügung steht, weil sich nur in ihrem Fahrzeug ein
Beifahrer befunden hat, während auf der anderen Seite der im Fahrzeug des
Unfallgegners befindliche Fahrer bzw. Halter mitverklagt wird (vgl. LG Berlin MDR
2000,882; Senat, Urteil vom 9. März 2000 - 12 U 3729/99; zur vergleichbaren Situation
eines sogenannten Vieraugengesprächs, an dem (nur) auf einer Seite ein Mitarbeiter
einer Partei beteiligt war: BGH, NJW 1999, 363). Diese Voraussetzungen sind vorliegend
nicht gegeben. Der Zeuge W. stand nicht im Lager der Klägerin. Dass die Beklagten
behaupten, der Unfall sei nicht vom Beklagten zu 2) sondern von diesem Zeugen
verursacht worden, ist ihm Rahmen der Beweiswürdigung und bei der Beurteilung der
Glaubwürdigkeit dieses Zeugen zu berücksichtigen, verpflichtet das Gericht aber nicht,
die Beklagten zu 1) und/oder 2) anzuhören bzw. zu vernehmen.
dd) Mit dem Umstand, dass der Sachverständige Dipl-Ing. H. geäußert hat, er halte das
von dem Zeugen geschilderte eigene Verhalten nach dem Unfall für „eher untypisch“,
hat sich das Landgericht auf den Seiten 6f der angefochtenen Entscheidung ausreichend
auseinander gesetzt.
ee) Der von der Tochter der Klägerin für diese in einem Schreiben an den Anwalt der
Klägerin unter dem 23. Februar 2005 zum Unfallgeschehen abgegebenen Erklärung
kommt keine entscheidende Bedeutung zu.
Wie sich aus den beigezogenen Ermittlungsakten der Amtsanwaltschaft Berlin - 159 PLs
1802/05 Ve - (Vermerk vom 2. März 2005, Bl. 12) ergibt, war die Klägerin nach dem
Unfall am 25.01.2005 und noch am 23.2.2005 aufgrund der erlittenen Unfallverletzungen
und des daraus resultierenden psychischen Ausnahmezustands nicht
vernehmungsfähig. Schon deshalb ist die von der Tochter schriftlich zusammengefasste
Aussage der Klägerin nicht als vollwertige Aussage zu werten. Aber auch der Inhalt der
Aussage ist nicht so eindeutig, wie die Beklagten dies darstellen wollen. Zwar hat die
Klägerin nach der Darstellung ihrer Tochter gesagt, sie sei von dem überholenden
Fahrzeug erfasst und auf die Fahrbahn geschleudert worden, was eher für die
Darstellung der Beklagten sprechen würde, sie hat aber dann weiter gesagt, der Fahrer
habe seine Fahrt dann ohne anzuhalten fortgesetzt. Dies spricht eher gegen die
Darstellung der Beklagten, denn der Beklagte zu 2) und nicht der Zeuge W. hat den
Unfallort ohne anzuhalten verlassen.
ff) Das Landgericht hat in der angefochtenen Entscheidung auch in sich schlüssig und
nachvollziehbar dargelegt, dass es mit der für § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit
davon überzeugt ist, dass die Klägerin durch einen Anstoß des vom Beklagten zu 2)
geführten Fahrzeugs zu Fall gekommen ist.
Der Nachweis des Haftungsgrundes unterliegt den strengen Anforderungen des
Vollbeweises (st. Rspr., vgl. BGH NJW 2003, 1116 m.w.N.). Danach hat das Gericht unter
Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer
Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche
Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche
Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und
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Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und
auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das
praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet
(st. Rspr., vgl. BGHZ 53, 245, 256; BGH, VersR 1977, 721, BGH VersR 1989, 758, 759).
Auf Seite 5ff der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht dargelegt, dass und
warum es mit dem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der
Zweifeln Schweigen gebietet, von der Unfallverursachung durch den Beklagten zu 2)
überzeugt ist. Allein daraus, dass die Beklagten selbst das Beweisergebnis anders
wertet, folgt kein Rechtsfehler des Landgerichts (vgl. Senat, Beschluss vom 16.
November 2006 – 12 U 223/05).
2) Der Senat folgt der Beweiswürdigung des Landgerichts, die er sich zu Eigen macht,
auch in der Sache. Neben den vom Landgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung
angeführten Umständen hat der Senat auch berücksichtigt, dass der Beklagte zu 2)
wegen des streitgegenständlichen Vorfalls rechtskräftig strafrechtlich belangt worden ist.
a) Das Landgericht Berlin, welches den Schuldspruch des AG Tiergarten vom 11. Mai
2006 bestätigt und den Beklagten zu 2) in seinem Berufungsurteil vom 30. November
2006 zum Aktenzeichen (577) 95 / 152 PLs 1062/05 Ns (68/06) wegen fahrlässiger
Körperverletzung zu einer Strafe von 30 Tagessätzen verurteilt hat, hat zum
Unfallhergang folgende tatsächlichen Feststellungen getroffen:
„Am Dienstag, den 25. Januar 2005 befuhr der Angeklagte gegen 12.10 Uhr mit
dem Wohnmobil VW T 4 "California" mit dem polizeilichen Kennzeichen B-…, dessen
Halterin die Zeugin J. ist, die Blankenburger Straße in Berlin-Pankow in Richtung
Dietzgenstraße. In Höhe der Einmündung Buchholzer Straße, die in Fahrtrichtung des
Angeklagten rechts auf die Blankenburger Straße trifft und dort noch 105 m von der
Ampelanlage der Kreuzung Dietzgenstraße entfernt ist, weist die Blankenburger Straße
nur zwei Fahrstreifen auf, wobei der rechte Fahrstreifen in Richtung Dietzgenstraße
etwasbreiter ist als der linke. Ca. 30 m vor der Ampelanlage, etwa in Höhe der
Hausnummer 6 wird der rechte Fahrstreifen in zwei Fahrstreifen aufgeteilt und ist ab dort
mit Fahrbahnmarkierungen und auf dem linken Fahrstreifen mit Linksabbiegerpfeilen
gezeichnet.
Hinter der Einmündung Buchholzer Straße ordnete sich der Angeklagte mit
mäßiger Geschwindigkeit, nach eigenen Angaben etwa 45 km/h, zur Mitte der
Richtungsfahrbahn in der Blankenburger Straße ein, da er beabsichtigte, links in die
Dietzgenstraße abzubiegen. Er bemerkte jetzt, dass eine ältere Dame, die zum
Unfallzeitpunkt 72jährige Zeugin und Nebenklägerin K., die Blankenburger Straße als
Fußgängerin etwa in Höhe des Hauses Nr. 6 die Fahrbahn aus seiner Sicht von links nach
rechts überquerte. Daher verlangsamte er seine Fahrgeschwindigkeit noch weiter, um
die Fußgängerin vor seinem Fahrzeug passieren zu lassen.
Die Nebenklägerin ging vorsichtig, zumal sie, wie sie wusste, die Fahrbahn
außerhalb der an der Ampel Blankenburger Straße/Dietzgenstraße befindlichen
Fußgängerfurt überqueren wollte. Sie nahm auch das aus ihrer Sicht von rechts
kommende Fahrzeug des Angeklagten wahr und sah, dass ihr der Fahrer zu verstehen
gab, sie könne vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn überqueren.
Bevor die Nebenklägerin den Gefahrenbereich vor dem Fahrzeug des
Angeklagten verlassen konnte, wurde ihr rechtes Bein von der vorderen rechten
Fahrzeugkante des von dem Angeklagten geführten PKW, den dieser auf ca. 10 bis 15
km/h abgebremst hatte, erfasst, so dass sie in Straucheln geriet und nach ein oder zwei
weiteren Schritten auf die Fahrbahn stürzte.
Die Nebenklägerin blieb nach ihrem Sturz auf der rechten Fahrbahnseite der
Blankenburger Straße mit Kopf in Richtung Gehwegkante liegen und konnte von dem
Zeugen W., der mit seinem Pkw, einem grünen Renault Megane, aus der Buchholzer
Straße in die Blankenburger Straße eingebogen war, den Sturz der Nebenklägerin
beobachtet und sein Fahrzeug vor ihr zum Halten gebracht hatte, auf den Gehweg
gezogen und geborgen werden.“
b) Das Landgericht kommt als Berufungsgericht in dem Strafverfahren, nachdem es u.
a. den Beklagten zu 2) als Angeklagten und die Beklagte zu 1) als Zeugin gehört hat, zu
der selben Überzeugung wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung.
c) Der Senat ist nicht gehindert, im Rahmen der von ihm vorzunehmenden
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c) Der Senat ist nicht gehindert, im Rahmen der von ihm vorzunehmenden
Beweiswürdigung auch die vom Landgericht als Berufungsgericht getroffenen
tatsächlichen Feststellungen zu Lasten der Beklagten zu berücksichtigen.
Ein strafgerichtliches Urteil entfaltet zwar für den Zivilprozess keine Bindungswirkung (§
14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO). Gleichwohl können die in einem Strafurteil getroffenen
tatsächlichen Feststellungen im Zivilprozess als Beweismittel verwertet werden (KG,
Urteil vom 25. Januar 2006, - 11 U 15/04 -, KGReport Berlin 2006, 329; OLG Koblenz NJW-
RR 1995, 727). Bereits das Reichsgericht hat die Verwertung von Feststellungen in einem
vorausgegangenen Strafurteil in mehreren Entscheidungen für zulässig erachtet (RG JW
1885, 182; RG Gruchot 52, 446, 448). Die spätere Rechtsprechung hat sich dieser
Auffassung angeschlossen (BGH WM 1973, 561; BayObLGZ 1959, 115; LG Essen MDR
1947, 68, 69).
Angesichts der Identität des den Gegenstand dieses Rechtsstreits und des
Strafverfahrens bildenden Sachverhalts darf daher das rechtskräftige Strafurteil nicht
unberücksichtigt bleiben. Zwar hat sich der Zivilrichter seine Überzeugung grundsätzlich
selbst zu bilden und ist daher an die Tatsachenfeststellungen eines Strafurteils nicht
gebunden. Das enthebt ihn jedoch nicht der Pflicht, sich jedenfalls mit den im Strafurteil
getroffenen Feststellungen gründlich auseinander zu setzen, soweit diese für die eigene
Beweiswürdigung relevant sind (BGH BGHR EGZPO § 14 Abs. 2 Nr. 1 Strafurteil 1; OLG
Koblenz AnwBl 1990, 215). Dabei wird in der Regel den strafgerichtlichen Feststellungen
zu folgen sein, sofern nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit von den Parteien
vorgebracht werden (OLG Köln FamRZ 1991, 580 ff. m.w.N.). Solche gewichtigen Gründe
sind, wie oben dargelegt, nicht vorgebracht worden.
3) Die Höhe des der Klägerin vom Landgericht zugesprochenen Schmerzensgeldes ist
nicht zu beanstanden. Gründe, die eine Reduzierung des Schmerzensgeldes
rechtfertigen könnten, haben die Beklagten in beiden Rechtszügen nicht dargelegt.
II.
Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des
Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung ist nicht erforderlich.
III.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
IV.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug wie folgt festzusetzen:
Schmerzensgeld 40.000,00 €
Feststellung
20.000,00 €
Summe
60.000,00 €
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