Urteil des KG Berlin vom 14.03.2017

KG Berlin: fahrstreifen, verkehr, fahrbahn, sorgfalt, gefährdung, anhalten, unfall, kollision, mithaftung, verzicht

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 215/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 3 Nr 1 StVO, § 7 Abs 2
StVO, § 8 Abs 2 S 3 StVO, § 10
StVO, § 522 Abs 2 ZPO
Leitsatz
Zeuge Ö hält im rechten Fahrstreifen hinter dem Klägerfahrzeug, um dem Kläger das
Ausparken vom Fahrbahnrand zu ermöglichen. Der Kläger fährt vom Fahrbahnrand nach links
auf die Fahrbahn. Der Erstbeklagte fährt mit ca. 45 km/h links am stehenden Pkw des Zeugen
Ö vorbei und kollidiert mit der linken Seite des Klägerfahrzeugs.
Wer vom Fahrbahnrand anfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine
Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Kann der vom Fahrbahnrand
Anfahrende wegen eines im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw nicht übersehen, dass er
den fließenden Verkehr nicht gefährdet, so darf er sich vorsichtig auf die Fahrbahn
hineintasten bis er die Übersicht hat (entsprechend § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO).
Kollidiert ein vom Fahrbahnrand anfahrendes Fahrzeug , dem ein im rechten Fahrstreifen
befindlicher Pkw durch sein Anhalten das Anfahren ermöglicht hat, mit einem Fahrzeug des
fließenden Verkehrs, das den im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw links überholt hat, so
haftet der Anfahrende allein, selbst wenn der Überholer dann wieder nach rechts eingeschert
ist.
Denn weder wurde der Anfahrende "überholt" im Sinne des § 5 StVO noch liegt ein Überholen
in einer unklaren Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor; darüber bezwecken weder
Überholverbote noch § 7 Abs. 5 StVO den Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender
Verkehrsteilnehmer.
(Rücknahme der Berufung)
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522
Absatz 2 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
I.
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen
der angefochtenen Entscheidung, die durch die Berufungsbegründung nicht entkräftet
werden.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder nach §
529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.
Beides ist nicht der Fall.
a) Zutreffend hat das Landgericht auf die Sorgfaltspflichten beim Anfahren vom
Fahrbahnrand (§ 10 StVO) hingewiesen. § 10 StVO ordnet an, dass der
Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat
er sich einweisen zu lassen. Vom Anfahrenden wird damit äußerste Sorgfalt gefordert
(vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 10 Rdnr. 10 m. w. N.).
Diese äußerste Sorgfalt hat der Kläger nicht eingehalten; zutreffend hat das Landgericht
auf den gegen ihn sprechenden Beweis des ersten Anscheins hingewiesen, den er nicht
erschüttert oder widerlegt hat. Es kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich Wenden
wollte oder nicht, jedenfalls steht nach der Aussage des Zeugen fest, dass der Kläger
sich nicht mit größter Sorgfalt in die Fahrbahn hineingetastet hat. Denn „Hineintasten“
im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO (Pflichten des Wartepflichtigen gegenüber dem
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im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO (Pflichten des Wartepflichtigen gegenüber dem
Bevorrechtigten, die für die hohen Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO entsprechend
gelten) bedeutet nicht langsam fahren, sondern zentimeterweises Vorrollen bis zum
Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; Senat NZV
1999, 85 = KGR 1999, 315; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage, StVO § 8
Rdnr. 58); das bedeutet ein Vorrollen um jeweils nur wenige Zentimeter, danach ein
Anhalten und ein mehrfaches Wiederholen dieses Vorgangs über einen längeren
Zeitraum. Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum
Übersichtspunkt ohne Unterbrechung vorrollt (vgl. Senat, KGR 2003, 235 = VRS 105,
104 = NZV 2003, 575; KGR 2000, 135 = DAR 2000, 260 = NZV 2000, 377 = VM 2000,
67 Nr. 77).
Der vom Landgericht angehörte Kläger hat gerade nicht bestätigt, dass er die ihm beim
Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat.
Seiner Aussage kann nicht entnommen werden, dass er zentimeterweise bis zum
Übersichtspunkt vorgerollt ist mit der Möglichkeit sofort anzuhalten. Seiner Aussage
kann auch nicht entnommen werden, dass er jeweils nur um wenige Zentimeter
vorgerollt ist, danach angehalten hat und diesen Vorgang über einen längeren Zeitraum
mehrfach wiederholt hat. Vielmehr ist der Aussage des Klägers zu entnehmen, dass er,
statt sich in den Verkehr hineinzutasten, im Hinblick auf die Lichthupe des Zeugen aus
der Parklücke hinausgefahren ist.
Auch aus der Aussage des Zeugen Ö. ergibt sich nicht, dass der Kläger die ihm beim
Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat.
Vielmehr ergibt sich aus dieser Aussage, dass der Kläger „aus der Parklücke
herausgefahren ist“. „Hineintasten“ im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO kann auch
dieser Aussage nicht entnommen werden.
b) Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des in den Verkehr einfahrenden tritt die
Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges im Rahmen der
Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück (vgl. Senat, VM 2001, 27 Nr. 31 = KGR 2001,
27 = DAR 2001, 34 L; ständige Rechtsprechung, vgl. Hentschel, a. a. O., StVG § 17 Rdnr.
18). Aus diesem Grund kommt es auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob der Unfall
bei Einhaltung der äußerst möglichen Sorgfalt eines idealen Fahrers hätte abgewendet
werden können, vorliegend nicht an.
Umstände und Tatsachen, aus denen ein Mithaftungsanteil der Beklagten wegen einer
Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 1) abzuleiten ist, sind nicht festzustellen.
Auch der Aussage des Zeugen Ö. sind solche Sorgfaltspflichtverletzung nicht zu
entnehmen.
Den Beklagten zu 1) trifft ein Mitverschulden am Unfall weder unter dem Gesichtspunkt
eines Überholens in unklarer Verkehrslage (nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verboten) noch
wegen eines sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO).
aa) Zunächst ist hervorzuheben, dass der Beklagte zu 1) zwar das verkehrsbedingt
wartende Fahrzeug des Zeugen Ö. im Rechtssinne „überholt“ hat, nicht aber das
Fahrzeug des Klägers. Denn „Überholen“ im Sinne des § 5 StVO ist der tatsächliche
absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich
in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (vgl. Hentschel, a. a. O., StVO
§ 5 Rdnr. 16 m. w. N.). Das Fahrzeug des Klägers hat im Unfallzeitpunkt weder
verkehrsbedingt gewartet noch sich in derselben Richtung wie das vom Beklagten zu 1)
geführte Kraftfahrzeug bewegt, sondern ist vom Fahrbahnrand angefahren.
Auch bezwecken selbst Überholverbote nicht den Schutz des aus einem Grundstück
durch eine Lücke in einer Kolonne in die Fahrbahn einfahrenden Verkehrsteilnehmers
(vgl. Senat, Urteile vom 12. Februar 1998 - 12 U 5603/96 -, NZV 1998, 376 = VersR
1999, 1382 = VM 1998, 76 Nr. 94 = KGR 1998, 229). Entsprechendes gilt erst recht
gegenüber vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmern.
Abgesehen davon, dass das Verbot, in unklarer Verkehrslage zu überholen, nicht den
Kläger als Ausparkenden schützt, liegen auch die Voraussetzungen für ein solches
Überholverbot im Streitfall nicht vor: Eine „unklare Verkehrslage“, die nach § 5 Abs. 3 Nr.
1 StVO das Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit
ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf; sie ist insbesondere dann
gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun
werden; dies ist der Fall, wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der
linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen
konnte und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes
Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare
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Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare
Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt,
selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte (ständige
Rechtsprechung, vgl. Senat DAR 2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003,
89 = VersR 2003, 259, Ls. = MDR 2003, 507).
All dies ist hier nicht gegeben.
bb) Auch aus einem etwaigen sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 3)
nach rechts folgt keine Mithaftung der Beklagten; denn die Sorgfaltsvorschrift des § 7
Abs. 5 StVO schützt nicht den Ausparker: Wer vom Fahrbahnrand anfährt oder von
einem anderen Straßenteil in die Fahrbahn einfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu
verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der
Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern
muss stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs
rechnen. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit
dem Anfahren vom Fahrbahnrand zu einer Kollision mit einem Fahrzeug des fließenden
Verkehrs, das nach rechts den Fahrstreifen wechselt, ohne den Anfahrenden rechtzeitig
erkennen zu können, so haftet der Anfahrende allein; denn der Schutzzweck des § 7
Abs. 5 StVO dient nicht dem ruhenden Verkehr oder dem Schutz vom Fahrbahnrand
anfahrender Verkehrsteilnehmer (Senat, DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004,
282 = NZV 2004, 623; OLG München, NJW-RR 1994, 1443; Hentschel, a.a.O., StVO § 7
Rdnr. 17; Haarmann VersR 1986, 667).
2. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass der Verzicht eines
vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers (hier. Zeuge Ö.) auf sein Vorrecht gegenüber
einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden keine Bedeutung hat zu Lasten anderer,
gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigter Fahrzeuge (vgl. Senat, DAR 1971, 237;
MDR 1981, 1023 = VersR 1982, 583).
cc) Unerheblich ist auch, dass der Beklagte zu 1) die Fahrbahnmarkierung in der
Straßenmitte überfahren hat. Diese Markierung dient dem Schutz des Gegenverkehrs,
nicht aber dem Schutz von in gleicher Fahrtrichtung vom Fahrbahnrand anfahrender
Fahrzeuge.
dd) Letztendlich wird zur Frage der Haftungsverteilung im Fall der Kollision des vom
Fahrbahnrand anfahrenden mit einem nach Überholvorgang auf den rechten
Fahrstreifen einscherenden Fahrzeug auf die bereits vom Landgericht in der
angefochtenen Entscheidung zitierten Entscheidung des Senats vom 4. Januar 2006 - 12
U 202/05 - (NZV 2006, 369-371 = VRS 110, 343-346 (2006) = ZfSch 2006, 440-442
hingewiesen. Der Leitsatz dieser Entscheidung lautet:
Wer vom Fahrbahnrand anfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass
eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Anfahrende darf nicht
darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muss stets mit einem
Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen.
Kollidiert ein vom Fahrbahnrand anfahrendes Fahrzeug, dem ein im rechten
Fahrstreifen befindlicher Pkw durch sein Anhalten das Anfahren ermöglicht hat, mit
einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das den im rechten Fahrstreifen stehenden
Pkw links überholt hat und dann nach rechts wieder eingeschert ist, so haftet der
Anfahrende allein.
Denn weder wurde der Anfahrende "überholt" im Sinne des § 5 StVO noch liegt
ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) vor; darüber
bezwecken weder Überholverbote noch § 7 Abs. 5 StVO den Schutz vom Fahrbahnrand
anfahrender Verkehrsteilnehmer.
II.
Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des
Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung ist nicht erforderlich.
III.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
IV.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 6.513,24 €
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festzusetzen.
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