Urteil des KG Berlin vom 24.03.2010

KG Berlin: vorzeitige entlassung, vollstreckungsverfahren, strafvollstreckung, persönlichkeit, vollzugsplanung, freiheit, anforderung, gutachter, schweigepflicht, strafvollzug

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Gericht:
KG Berlin 2.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ws 288/10 Vollz
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 479 StPO, § 179 StVollzG, §
180 StVollzG
Leitsatz
Die Vollzugsbehörde darf ein im Vollstreckungsverfahren über den Gefangenen erstattetes
schriftliches Prognosegutachten erfordern, an sich übermitteln lassen und zu den
Gefangenenpersonalakten nehmen.
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Gefangenen gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin –
Strafvollstreckungskammer – vom 24. März 2010 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I. Der Gefangene verbüßt zur Zeit eine Freiheitsstrafe von neun Jahren wegen schweren
Raubes. Zwei Drittel der Strafe waren am 21. Januar 2008 vollstreckt; das Strafende ist
auf den 21. Januar 2011 notiert.
Das Landgericht Berlin – Strafvollstreckungskammer - lehnte nach Einholung eines
kriminalprognostischen Gutachtens gemäß § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO mit Beschluß
vom 29. Mai 2008 den Antrag des Gefangenen, die Reststrafe nach Verbüßung von zwei
Dritteln zur Bewährung auszusetzen, ab. Seine dagegen gerichtete sofortige
Beschwerde verwarf der Senat mit Beschluß vom 19. August 2008 – 2 Ws 332/08 -.
Da der Gefangene bereits im April 2008 die Genehmigung einer externen Therapie
beantragt hatte, forderte dessen Gruppenleiter das am 10. Januar 2008 für das
vorbezeichnete Vollstreckungsverfahren erstattete schriftliche kriminalprognostische
Gutachten des vom Landgericht beauftragten Sachverständigen Dr. G. H., eines Diplom-
Psychologen, vom 10. Januar 2008 bei Gericht an, um es an den psychologischen Dienst
der Justizvollzugsanstalt zur Prüfung der Genehmigung einer externen Therapie
weiterzuleiten. Dies teilte er dem Verurteilten mit. Die vom Landgericht übersandte
Kopie des Gutachtens wurde zur Gefangenenpersonalakte des Antragstellers
genommen.
Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Berlin den Antrag des Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 Abs. 1 StVollzG)
abgelehnt, die Vollzugsbehörde zu verpflichten, die Kopie des Gutachtens aus den
Gefangenenpersonalakten zu entfernen und an den Antragsteller herauszugeben, sowie
alle vollzuglichen Vermerke in der Gefangenenpersonalakte, die sich auf dieses
Gutachten beziehen oder dessen Inhalt erkennen lassen, zu löschen.
Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung sachlichen
Rechts.
II. 1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig, da es geboten ist,
die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts und zur
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Sie wirft
datenschutzrechtliche Rechtsfragen auf, die der Senat zwar bereits teilweise erörtert hat
(vgl. Senat, Beschlüsse vom 14. April 2010 - 2 Ws 8-9/10 Vollz - und 24. März 2010 – 2
Ws 24 und 81/10 Vollz -), die jedoch wegen ergänzender Überlegungen des
Beschwerdeführers zur Nutzung von im Vollstreckungsverfahren erstatteter Gutachten
für vollzugliche Zwecke, insbesondere zur Zweckbestimmung von Daten, einer
Vertiefung bedürfen.
Die Rechtsbeschwerde ist jedoch nicht begründet.
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2. Das schriftliche Gutachten ist zu Recht von der Vollzugsbehörde erfordert, an sie
übermittelt und in die von ihr über den Gefangenen geführten Personalakten genommen
worden.
a) Das Recht auf informelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)
gewährt insbesondere Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung
und Weitergabe von individualisierten oder individualisierbaren Daten (vgl. BVerfGE 65, 1,
44 – Volkszählungsurteil -; BVerfG StV 2009, 449). Jede Beschränkung des Art. 2 Abs. 1
GG und damit jede Datenverarbeitung benötigt deshalb eine Rechtsgrundlage, aus der
sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger
erkennbar ergeben, damit sie dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit
entsprechen (BVerfG a.a.O.). Ein Gesetz ist hinreichend bestimmt, wenn sein Zweck aus
dem Gesetzestext in Verbindung mit den Materialien deutlich wird. Das ist bei den hier
anwendbaren Normen der Fall.
Mit der Einführung der §§ 179ff. StVollzG hat der Gesetzgeber der Forderung des
Bundesverfassungsgerichts entsprochen, wonach der Grundsatz der Verfügungsgewalt
über die eigenen Daten eine sorgfältige Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse
an der Datenverarbeitung und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gebietet
(vgl. Weichert in AK-StVollzG 5. Aufl., vor § 179 Rdnrn. 1, 15). Diese Vorschriften sind die
zentrale Rechtsgrundlage für den Umgang mit sämtlichen personenbezogenen Daten
des Justizvollzugs und umfassen namentlich die Behandlung der in einer
Justizvollzugsanstalt vorhandenen Unterlagen, insbesondere auch der
Gefangenenpersonalakte und Gesundheitsakte. Sie haben insoweit abschließenden
Charakter, als alle nicht von diesen Vorschriften erfaßten Erhebungen, Übermittlungen
oder Speicherungen von Daten nur mit wirksamer Einwilligung des Betroffenen zulässig
sind (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 11. Aufl., § 180 Rdn. 1). Nicht in sich
abschließend sind sie allerdings insoweit, als sie auf Vorschriften des
Bundesdatenschutzgesetzes (§§ 179 Abs. 2, 187 Satz 1 StVollzG) und der
Landesdatenschutzgesetze (§ 187 Satz 2 StVollzG) verweisen (vgl. Weichert in AK, vor §
179 StVollzG Rdn. 19).
aa) Die Voraussetzungen und die Art und Weise der rechtmäßigen Erhebung der
personenbezogenen Daten sind in § 179 Abs. 1 und Abs. 2 StVollzG zwar unter
Verwendung von Generalklauseln (in § 179 Abs. 2 StVollzG durch den Verweis auf § 4
Abs. 2 BDSG), jedoch hinreichend bestimmt gesetzlich normiert.
bb) Korrespondierend hierzu regelt § 479 Abs. 2 Nr. 2 StPO die Rechte und Pflichten
derjenigen Stelle, die im Strafprozeß entstandene Daten an die Vollzugbehörde
übermittelt, vergleichbar normenklar.
cc) Der die Verarbeitung und Nutzung der personenbezogenen Daten begrenzende
Verwendungszweck ist in § 180 Abs. 1 StVollzG hinreichend präzise vorgegeben. Er
stimmt mit dem Zweck ihrer Erhebung nach § 179 Abs. 1 StVollzG überein (vgl. Calliess/
Müller-Dietz, § 180 StVollzG Rdn. 2) und muß den Aufgaben des Vollzugs und namentlich
der Erreichung des Vollzugsziels dienen.
b) Die Justizvollzugsanstalt hat die Daten rechtmäßig erhoben.
aa) Die Kenntnis der in einem für Zwecke der Strafvollstreckung erstellten
kriminalprognostischen Gutachten erfaßten personenbezogenen Daten ist für den
Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich.
In einem derartigen Gutachten, das zur Vorbereitung einer Entscheidung über die
vorzeitige Entlassung des Gefangenen erstattet wird, werden auf der Grundlage seiner
lebensgeschichtlichen Entwicklung die persönlichen Schwächen und Stärken des
Probanden, insbesondere seine charakterlichen Defizite und ihre möglichen Ursachen
beschrieben und seine vollzugliche Entwicklung dargestellt. Soweit es zu einem für den
Verurteilten ungünstigen Ergebnis kommt und es dadurch zu einer Ablehnung der
vorzeitigen Entlassung kommt, gehört es zu den Aufgaben des Vollzuges, die so
erkannten Defizite des Verurteilten abzubauen, um seine Resozialisierung zu fördern
und so seine Prognose zu verbessern. Es gehört zu den ureigensten Aufgaben der
Justizvollzugsanstalten, die Persönlichkeit des Gefangenen zu erforschen, ihre
Vollzugsplanung an den so gewonnenen Ergebnissen zu messen und sie auf dieser
Grundlage - fortlaufend der Entwicklung der Gefangenen angepaßt – zu gestalten (vgl.
Weichert in AK, § 179 Rdn. 3).
bb) Diese Daten sind grundsätzlich beim Betroffenen zu erheben (§ 179 Abs. 2 Satz 1
StVollzG). Im Strafvollzug geschieht das z. B. in der Behandlungsuntersuchung und der
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StVollzG). Im Strafvollzug geschieht das z. B. in der Behandlungsuntersuchung und der
anschließenden Fassung des Vollzugsplans (§§ 6, 7 Abs. 1, 2 StVollzG) sowie bei der
Vollzugsplanfortschreibung durch die Vollzugsplankonferenz (§§ 7 Abs. 3, 159 StVollzG)
aufgrund der von den Anstaltsmitarbeitern mit dem Gefangenen gemachten
Erfahrungen. Zur Ermittlung des ihrer Beurteilung zugrunde zu legenden Sachverhalts
darf sich die Vollzugsbehörde ihrerseits sachkundiger Gutachter bedienen, die ihre
Expertise aufgrund der Exploration des Gefangenen erstellen. Daß es der
Justizvollzugsanstalt nicht verwehrt ist, kriminalprognostische Instrumente ergänzend für
die Beurteilung der Mißbrauchsgefahr heranzuziehen, hat der Senat bereits mehrfach
entschieden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14. April 2010 - 2 Ws 8-9/10 Vollz -, 15.
Oktober 2009 – 2 Ws 464/09 Vollz - und 30. Oktober 2008 – 2 Ws 539/08 Vollz – jeweils
mit weit. Nachw.).
cc) Eine verantwortungsvolle, an den gesetzlichen Vollzugszielen, insbesondere am
Resozialisierungsgedanken ausgerichtete Vollzugsgestaltung ist jedoch mit
ausschließlich bei dem Gefangenen erhobenen Daten nicht möglich. Das ergibt sich
zwangsläufig aus der Notwendigkeit, die zu vollstreckenden Urteile zu kennen. Denn
deren Inhalt, der die Grundlage der mittels des Strafvollzugs zu vollstreckenden
Verurteilung darstellt, kann schwerlich nur mittels einer Befragung des Gefangenen
wahrheitsgemäß und vollständig ermittelt werden. Die Behandlung und Beurteilung der
Gefangenen muß sich an den Urteilsfeststellungen orientieren und darf nicht von ihnen
abweichen (vgl. Senat ZfStrVO 1996, 247). Zwar sind die Begriffe Strafvollstreckung und
Strafvollzug nicht deckungsgleich; ersterer betrifft das „ob“ der Verwirklichung der
verhängten Freiheitsstrafe, letzterer das „Wie der praktischen Durchführung“ (vgl.
Senat, Beschlüsse vom 18. März 2009 – 2 Ws 96/09 Vollz – und 23. Oktober 2008 – 2 Ws
525/08 Vollz -; Röttle/ Wagner, Strafvollstreckung 8. Aufl., Rdn. 2). Beide sind aber in der
Weise verzahnt, daß sie auf unterschiedlichen Ebenen demselben Zweck dienen: der
Verwirklichung der Kriminalstrafe (vgl. Röttle/ Wagner a.a.O). Dementsprechend
bestimmt § 31 Abs. 1 Nr. 1 StVollstrO, daß dem Aufnahmeersuchen eine vollständige
Abschrift der in § 16 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 StVollstrO genannten Entscheidungen
beizufügen bzw. nachzureichen ist. Dabei handelt es sich um das zu vollstreckende
Urteil (bzw. den Strafbefehl, den Gesamtstrafenbeschluß etc.)(Nr. 1) sowie die
Entscheidungen der Rechtsmittelgerichte und die nachfolgenden der
Strafvollstreckungskammer (Nr. 3). Diese Erhebungen sind durch § 179 Abs. 2 Satz 2
StVollzG, § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a BDSG gerechtfertigt.
dd) Gleiches gilt auch für die im Erkenntnisverfahren und im Vollstreckungsverfahren
erstatteten Gutachten. Ihre Übersendung ist in § 31 Abs. 2 StVollstrO angeordnet, wenn
sie für den Vollzug von Bedeutung sein kann.
Diese Verwaltungsvorschrift kann zwar die Rechtmäßigkeit nicht begründen. Diese ergibt
sich aber ebenso aus § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a BDSG.
Die organisatorische Trennung von Vollstreckung und Vollzug steht der Erhebung der
Daten durch die Anforderung des im Vollstreckungsverfahren verfaßten Gutachtens
nicht entgegen. Im Gegenteil sind beide Bereiche durch einen übergeordneten
gemeinsamen Zweck und Sachzusammenhang eng miteinander verzahnt (siehe oben
cc), so daß ein geregelter Datenaustausch – auch im Interesse des Verurteilten -
unabdingbar ist. In beiden Richtungen hat der Gesetzgeber diese Verzahnung normiert,
in § 479 Abs. 2 Nr. 2 StPO für die Übermittlung vom Strafgericht oder der
Strafverfolgungsbehörde zur Vollzugsbehörde, in der „Gegenrichtung“ vom Vollzug zur
Strafvollstreckung in § 180 Abs. 2 Nr. 5 StVollzG. Während der Vollzug den Zweck erfüllt,
den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne
Straftaten zu führen und ferner die Allgemeinheit vor weiteren von ihm ausgehenden
Straftaten zu schützen (§ 2 StVollzG), ist es Aufgabe der Vollstreckungsgerichte, neben
der Umsetzung der strafrichterlichen Entscheidung in vollstreckungsrechtlicher Hinsicht
(§ 458 StPO) im Aussetzungsverfahren zu prüfen, ob dieser Vollzugszweck bereits
erreicht ist und es unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit
verantwortet werden kann, den Gefangenen vorzeitig nach § 57 Abs. 1 StGB in Freiheit
zu entlassen, weil nur noch ein vertretbar geringes Rückfallrisiko besteht. Dazu bedient
sich die Strafvollstreckungskammer vielfach der Sachaufklärung mittels eines
kriminalprognostischen Gutachtens (§ 454 Abs. 2 StPO) und gleichzeitig der
Stellungnahme der Vollzugsanstalt.
Diese enge Verbindung zeigt sich insbesondere bei der Bedeutung, die die
Vollstreckungsgerichte der Gewährung bzw. der Ablehnung von Vollzuglockerungen für
die Aussetzungsentscheidung beimessen, und bei der vom Bundesverfassungsgericht
geforderten Einflußnahme der Gerichte bei rechtswidrig verweigerten Lockerungen (vgl.
BVerfG NJW 2009, 246). Die Kenntnis eines vom Vollstreckungsgericht in Auftrag
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BVerfG NJW 2009, 246). Die Kenntnis eines vom Vollstreckungsgericht in Auftrag
gegebenen Prognosegutachtens zur Gefährlichkeit des Verurteilten ist für den Vollzug
gerade bei einer die Aussetzung ablehnenden Entscheidung deshalb von besonderer
Bedeutung, weil sie daran die weitere Vollzugsplanung ausrichten und dem Gefangenen
eine auf die Gefährlichkeitsprognose abgestimmte Zulassung zu Vollzugslockerungen
gewähren soll.
Gerade im Hinblick auf die Gewährung von Vollzugslockerungen dient ein
kriminalprognostisches Gutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten der besseren
Einschätzung einer möglichen Mißbrauchsgefahr und ermöglicht eine individuell
angepaßte Gewährung von Vollzugslockerungen. Eine erfolgreiche Erprobung in
Vollzugslockerungen hat wiederum unmittelbare Auswirkungen auf die Entscheidung der
Strafvollstreckungskammer im Aussetzungsverfahren, denn sie erweitert und stabilisiert
die Basis der prognostischen Beurteilung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 30. April 2009 (vgl. BVerfG a.a.O.) auf diese Wechselwirkung zwischen
vollzuglichen Maßnahmen und vollstreckungsrechtlichen Entscheidungen ausdrücklich
hingewiesen und ausgeführt, daß das Vollstreckungsgericht eigenständig prüfen muß, ob
Lockerungen in der Vergangenheit rechtmäßig untersagt worden sind, so daß sich der
Gefangene die Einschränkung der dem Gericht zur Verfügung stehenden
Tatsachengrundlage zurechnen lassen muß. Diese Pflicht besteht selbst dann, wenn die
Rechtmäßigkeit der Versagung von Lockerungen bereits Gegenstand gerichtlicher
Überprüfung im Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz war (vgl. BVerfG a.a.O.). Die
vom Bundesverfassungsgericht geforderte Einflußnahme der Vollstreckungsgerichte auf
die vollzugliche Praxis bei rechtswidrig verweigerten Lockerungen geht bis zur Festlegung
eines zukünftigen Entlassungszeitpunktes nach § 454 a Abs. 1 StPO, um die
Vollzugsbehörde zu bestimmen, die Zwischenzeit zur angemessenen Erprobung des
Verurteilten in Lockerungen zu nutzen. Dies setzt aber voraus, daß gutachterliche
Erkenntnisse des Gerichts den Vollzugsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgabe zur
Verfügung stehen und umgekehrt (vgl. Schmid bei Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal,
StVollzG 5. Aufl., § 182 Rdn. 21; Arloth, StVollzG 2. Aufl., § 182 Rdn. 11).
Gerade der Vergleich des Verhaltens des Verurteilten vor der Inhaftierung mit dem nach
Verbüßung von nahezu zwei Dritteln der Strafe gibt Aufschluß darüber, ob sich seine
Legalprognose durch den Vollzug und die dortigen Behandlungsmaßnahmen verbessert
hat oder ob und warum sie erfolglos geblieben sind. Die durch ein solches Gutachten
vermittelte breite Kenntnis der Persönlichkeit des Gefangenen bietet die dafür
erforderliche Grundlage und eröffnet der Vollzugsanstalt die Möglichkeit, die Effektivität
ihrer bisherigen Behandlungsmaßnahmen zu überprüfen und in der letzten Phase des
Vollzuges die Zeit zu nutzen, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Prognose zu
verbessern und auch die Entlassungsvorbereitung enger auf die persönlichen
Erfordernisse des Verurteilten abzustimmen.
ee) Hinzu tritt der Umstand, daß sich die Vollstreckungsgerichte in ihren Entscheidungen
ausführlich mit den ihnen vorliegenden Gutachten auseinandersetzen und deren Inhalt
bereits auf diese Weise der Vollzugsbehörde bekannt wird. Gerade in dem den
Beschwerdeführer betreffenden Beschluß vom 19. August 2008 – 2 Ws 332/08 – hat sich
der Senat wegen der gegen den Inhalt des Gutachtens geführten Angriffe der
Beschwerde sehr ausführlich mit dessen Inhalt auseinandergesetzt und ihn auf diese
Weise zwangsläufig wiedergegeben. Die Vollstreckungsgerichte wären auch nicht
gehindert, in ihre Entscheidungen weite Teile der Gutachten einzurücken, solange nur sie
nicht den Eindruck erwecken, keine eigenständige Entscheidung getroffen zu haben,
sondern dem Sachverständigen lediglich unkritisch gefolgt zu sein (vgl. Senat, Beschluß
vom 14. Januar 2008 – 2 Ws 747/07 -).
ff) Die Anforderung der anläßlich von solchen Entscheidungen erstatteten Gutachten ist
auch gemäß § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2b BDSG gerechtfertigt.
Die Anstalt wäre durch nichts gehindert, ihrerseits denselben Sachverständigen mit der
Erstattung eines Gutachtens zur Lockerungsprognose zu beauftragen (siehe oben bb).
Ein solches Gutachten hätte zwar gegenüber einer gemäß § 454 Abs. 2 StPO verfaßten
Expertise einen anderen gesetzlichen Ausgangspunkt und mithin eine andere
Fragestellung: Zu prüfen wären vornehmlich die lockerungsrelevanten Gesichtspunkte
der Flucht- und Mißbrauchsgefahr, wohingegen das Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 StPO
an der Prognose ausgerichtet ist, wie sich der Proband verhalten wird, sobald er in die
Freiheit gelangt.
Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um kriminalprognostische Gutachten, bei
denen im wesentlichen dieselben wissenschaftlichen Denkmuster und
testpsychologischen Instrumente zum Einsatz kommen. Ein nach § 454 Abs. 2 StPO
erstattetes Gutachten ist trotz seiner andersartigen Fragestellung in der Lage, wertvolle
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erstattetes Gutachten ist trotz seiner andersartigen Fragestellung in der Lage, wertvolle
Hinweise zur Vollzugsgestaltung zu geben, solange nur die Justizvollzugsanstalt die
unterschiedliche Ausgangsfrage beachtet und die Ergebnisse des Sachverständigen
nicht unreflektiert auf die Mißbrauchsgefahr überträgt (vgl. Senat, Beschluß vom 27.
August 2009 – 2 Ws 279/09 Vollz -).
Die erneute Beauftragung desselben Sachverständigen mit einem streckenweise
überwiegend identischen Auftrag entfaltete einen unverhältnismäßigen Aufwand.
Überwiegend schutzwürdige Interessen des Gefangenen werden durch die
Datenerhebung nicht beeinträchtigt, wie die vorstehenden (oben dd) Ausführungen
belegen.
c) Damit korrespondierend folgt aus § 479 Abs. 2 Satz 2 StPO das Recht der
Strafvollstreckungskammer, der Übersendungsanforderung zu entsprechen (oder das
Gutachten von sich aus zu übersenden, wenn sie es für erforderlich hält) (vgl. Senat,
Beschlüsse vom 14. April 2010 – 2 Ws 8-9/10 Vollz – und 24. März 2010 – 2 Ws 24 und
81/10 Vollz -).
Ebenso verleiht § 180 Abs. 1 StVollzG der Justizvollzugsanstalt das Recht der
Verarbeitung (vgl. § 3 Abs. 4 BDSG) und Nutzung, das im Vollstreckungsverfahren
erstattete Gutachten und die damit verbundene Datenerhebung in die
Gefangenenpersonalakte aufzunehmen und es für Entscheidungen des Vollzugs zu
verwenden, ohne daß es der Zustimmung des Verurteilten bedarf.
Dabei wird sie allerdings den Grundsatz zu beherzigen haben, daß die Zahl derjenigen,
die davon Kenntnis erlangen klein gehalten und auf diejenigen Personen beschränkt wird,
denen – im wesentlichen durch die Teilnahme an der Vollzugskonferenz (§ 159 StVollzG)
die Verantwortung für die Entscheidungen über das Vollzugsgeschehen obliegt, § 183
StVollzG.
Soweit der Beschwerdeführer behauptet, das über ihn erstellte Gutachten „kursiere“
bereits in der Justizvollzugsanstalt Tegel im Bereich der Teilanstalt III hat der Senat
mangels weiterer Angaben jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich andere als die
nach § 183 StVollzG berechtigten Personen unbefugt Zugang zu den
Gefangenenpersonalakten verschafft haben.
3. Soweit das hier gegenständliche Gefährlichkeitsgutachten auch die Krankenakten des
Verurteilten auswertet, spricht dies nicht gegen seine Aufnahme in die Personalakten
des Gefangenen und seine Verwertbarkeit im Vollzug. Diese Informationen sind mit
Zustimmung des Gefangenen dem Gutachter bekannt geworden, der seinerseits
gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft nicht der Schweigepflicht unterliegt.
Sie liegen als Gegenstand des Strafvollstreckungsverfahrens allen daran Beteiligten
sowie berechtigten Empfängern offen. Diese Berechtigung kann nicht ihrerseits durch
das Vorhandensein schützenswerter Daten nur deshalb in Zweifel gezogen werden, weil
sich der Gefangene ihres Schutzes gegenüber dem, wie er wußte, nicht der
Schweigepflicht unterliegenden Sachverständigen entäußert hat. Ein Übermaß der
Datenerhebung ist in der Erhebung durch den Sachverständigen und dessen
Auswertung nicht zu sehen und vom Beschwerdeführer im Vollstreckungsverfahren auch
nicht beanstandet worden.
Ob das Gutachten den erforderlichen Qualitätsstandards entspricht, ist keine
datenschutzrechtliche Frage. Im übrigen hat der Senat in seiner oben bezeichneten
Entscheidung vom 19. August 2008 – 2 Ws 332/08 -, auf die wegen weiterer Einzelheiten
verwiesen wird, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers dargelegt, daß diese
Standards eingehalten waren.
Der Verwertung dieser persönlichen Daten steht deshalb auch § 182 StVollzG nicht
entgegen. Unabhängig davon, daß nicht erkennbar ist, daß dem gerichtlich bestellten
Sachverständigen während der Begutachtung über die gutachterliche Fragestellung
hinaus Geheimnisse anvertraut worden sind, die dieser unzulässigerweise in seinem
Gutachten verwertet hätte, ist diese Vorschrift nicht auf Ärzte und Psychologen, die im
Auftrag von Strafverfolgungsbehörden oder Gerichten Gutachten erstatten, anwendbar.
Denn ihre Erhebung erfolgt nicht aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnisses
oder therapeutischen Bündnisses zwischen dem Gefangenen und dem Arzt bzw.
Therapeuten, das durch eine Einschränkung der Weitergabe persönlicher Daten, die in
diesem Zusammenhang bekannt geworden sind, besonders geschützt wird, sondern
von vornherein zu dem dem Verurteilten bekannten und gebilligten Zweck der
gerichtlichen Verwendung im Strafvollstreckungsverfahren (vgl. Calliess/ Müller-Dietz, §
182 Rdn. 12; Arloth a.a.O.).
37 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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