Urteil des KG Berlin vom 14.03.2017

KG Berlin: wiederaufnahme des verfahrens, strafbefehl, widerruf, rechtliches gehör, rechtskräftiges urteil, bewährung, straftat, rechtskraft, lüge, geldstrafe

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Gericht:
KG Berlin 2.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 602/07 - 2 Ws
361/07, 1 AR 602/07,
2 Ws 361/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 56f Abs 1 S 1 Nr 1 StGB, § 263
StGB, § 410 Abs 3 StPO
Widerruf der Strafaussetzung: Bewährungswiderruf aufgrund
eines rechtskräftigen Strafbefehls
Leitsatz
1. Beruht die Verurteilung wegen der Anlasstat auf einem Strafbefehl, muß die Befugnis, sich
allein auf
deren Rechtskraft zu stützen, mit Blick auf diejenigen Besonderheiten des summarischen
Verfahrens
beschränkt werden, die typische Risiken für die Ermittlung des wahren Sachverhalts bergen;
denn sie
beeinträchtigen die Verlässlichkeit des Erkenntnisses, aus dem das Widerrufsgericht den
Schluß zieht, der
Verurteilte habe in der Bewährungszeit eine neue Tat begangen.
2. Das für den Widerruf zuständige Gericht darf seine Entscheidung dann nicht ungeprüft auf
eine durch
einen rechtskräftigen Strafbefehl festgestellte Straftat stützen, wenn nebeneinander
kumulativ zwei
Voraussetzungen gegeben sind:
a) Der Strafbefehl ist nur auf den hinreichenden Tatverdacht gestützt. Die aus den Akten
erkennbare
Beweislage läßt eine an Sicherheit grenzende Überzeugungsbildung nicht zu.
b) Der Beschuldigte wollte sich gegen den Strafbefehl zur Wehr setzen oder hat dies bereits
getan, und
die Rechtskraft ist ohne eine den Strafbefehl anerkennende Willensentschließung des
Beschuldigten
allein aufgrund seines prozessualen Versäumnisses eingetreten.
[Bestätigung von: KG, Beschluß vom 1. März 2000 – 5 Ws 58/00 – = NStZ-RR 2001, 136] so
auch KG, Beschluß vom 7. Juni 2007 – 2 Ws 361/07 -
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin
- Strafvollstreckungskammer – vom 5. April 2007 aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft, die Strafaussetzung in dem Verfahren H 16/ 152 PLs
4445/02 VRs = 544 StVK 303/05 zu widerrufen, wird zurückgewiesen.
Es wird festgestellt, daß in dem Verfahren N 15/2 Ve Js 2276/99 VRs – 544 StVK 304/05
die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nicht widerrufen ist.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten insoweit entstandenen
notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin verurteilte den Beschwerdeführer jeweils zu zehn
Monaten Freiheitsstrafe
a) am 2. Juli 2001 – 339 Ds 23/00 - = N 15/2 Ve Js 2276/99 VRs – 544 StVK
304/05 – wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs infolge Alkoholgenusses
in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und
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b) am 7. Mai 2004 – 323 Ds 52/03 - = H 16/ 152 PLs 4445/02 VRs – 544 StVK
303/05 – wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Diese Strafen verbüßte der Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt Düppel. Mit
gleichlautenden Beschlüssen vom 3. Juni 2005 setzte die Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Berlin die Vollstreckung der Reststrafen aus beiden Verurteilungen
nach Verbüßung von jeweils zwei Dritteln mit Wirkung zum 1. Juli 2005 zur Bewährung
aus, bestimmte die Bewährungszeit jeweils auf drei Jahre und unterstellte den
Verurteilten der Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer.
Am 31. Oktober 2006 erging gegen den Beschwerdeführer ein – inzwischen wegen
Versäumung der Einspruchsfrist rechtskräftiger – Strafbefehl des Amtsgerichts
Tiergarten, durch den er wegen Betruges zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 15
Euro verurteilt ist. Deswegen beantragte die Staatsanwaltschaft in dem Verfahren H
16/152 PLs 4445/02 VRs (oben b) den Widerruf der Strafaussetzung. In dem Verfahren N
15/2 Ve Js 2276/99 VRs (oben a) reagierte die Vollstreckungsbehörde nicht.
Durch Beschluß vom 5. April 2007, der beide Aktenzeichen trägt, widerrief die
Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung – ausweislich der Beschlußformel – nur
hinsichtlich des Urteils vom 7. Mai 2004 (Verfahren H 16/152 PLs 4445/02 VRs) gemäß §
56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB wegen neuer Straffälligkeit. Zu dem anderen Verfahren
(oben a) schweigt der Beschluß. Gleichwohl wurde eine Abschrift der Entscheidung zu
beiden Bewährungsheften genommen.
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) hat Erfolg.
1. Das Rechtsmittel betrifft ausschließlich den in dem Verfahren H 16/152 PLs 4445/02
VRs ausgesprochenen Widerruf. In dem Verfahren N 15/2 Ve Js 2276/99 VRs hat die
Strafvollstreckungskammer trotz der Nennung von dessen Aktenzeichen (im
Beschlußeingang) die Strafaussetzung nicht widerrufen. Der Senat spricht dies im Tenor
dieser Beschwerdeentscheidung ausdrücklich aus, um zu vermeiden, daß die Reststrafe
aus jenem Verfahren – die (mangels anfechtbarer Entscheidung) von der Beschwerde
nicht erfaßt ist – für vollstreckbar gehalten wird.
2. Die Beschwerde hat Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
StGB nicht vorliegen.
a) Der Beschwerdeführer dringt allerdings im Verfahren über den Widerruf nicht mit dem
Vorbringen durch, er sei in den zugrundeliegenden Verkehrsstrafsachen zu Unrecht
verurteilt worden, denn er habe erst im Jahre 2004 seinen 1982 in der ehemaligen DDR
erworbenen Führerschein wieder ausgehändigt bekommen. Daher könne er erst jetzt
beweisen, daß er mehrfach zu Unrecht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt
worden sei.
aa) Die zugrundeliegenden Verurteilungen können im Vollstreckungsverfahren nicht in
Frage gestellt werden. Die Vollstreckungsgerichte haben die Richtigkeit und
Vollständigkeit der Urteile und deren Feststellungen, über deren Vollstreckbarkeit sie zu
befinden haben, als bindend hinzunehmen (vgl. Senat ZfStrVO 1996, 247). Es gehört
deshalb auch nicht zu den Aufgaben des Senats, im Vollstreckungsverfahren zu
überprüfen, ob die Fahrerlaubnis tatsächlich existiert, rechtlich wirksam ist und nicht
zwischenzeitlich anläßlich einer der zahlreichen Verurteilungen des Beschwerdeführers
entzogen worden ist.
Der Verurteilte kann die Urteile nur gemäß den Vorschriften über die Wiederaufnahme
des Verfahrens gemäß §§ 359 Nr. 5 StPO ff. bekämpfen, was er hinsichtlich des Urteils
vom 7. Mai 2004 auch bereits durch Antrag vom 25. April 2007 getan hat. Sein dort
gleichzeitig gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gäbe im
Widerrufsverfahren nur Anlaß zur Nachfrage, ob das Wiederaufnahmegericht diesem
Antrag inzwischen entsprochen hat. Denn nur dann wäre der Widerruf gehemmt. Der
Senat hat im Streitfall allerdings davon abgesehen, das Ergebnis des
Wiederaufnahmeverfahrens abzuwarten, weil die sofortige Beschwerde aus anderen
Gründen Erfolg hat.
bb) Der Senat weist den Beschwerdeführer auch auf folgendes hin: Der Fund des
Führerscheins - welche rechtliche Bedeutung ihm auch zukommen mag – betrifft nicht
die Richtigkeit der Verurteilung wegen Straßenverkehrsgefährdung infolge
Alkoholgenusses; denn dieses Verhalten wäre auch bei vorliegender Fahrerlaubnis
strafbar und würde sogar seinerseits zu deren Entziehung führen (§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr.
1 StGB).
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b) Der Senat ist nicht davon überzeugt, daß sich der Beschwerdeführer während der
Bewährungszeit strafbar gemacht hat.
Nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB ist die Strafaussetzung zur Bewährung zu
widerrufen, wenn der Verurteilte während der Bewährungszeit eine neuerliche Straftat
begangen hat, die die ursprünglich günstige Prognose aufhebt, und mildere Mittel als der
Widerruf nicht ausreichen. Dabei muß die schuldhafte (vgl. KG StV 1988, 26) Begehung
der Straftat zur Überzeugung des den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung
befindenden Gerichts feststehen (vgl. BVerfG NStZ 1987, 118), ohne daß eine Bindung
an die rechtskräftige Entscheidung eines anderen Gerichts gegeben ist (OLG Düsseldorf
StV 1996, 45 und VRS 95, 253; KG NStZ-RR 2001, 136; Lackner/Kühl, StGB 25. Aufl., § 56
f Rdn. 3; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl., § 56 f, Rdn. 7; Stree in NStZ 1992, 153, 157).
Dieses darf sich zwar auf ein rechtskräftiges Urteil (vgl. OLG Zweibrücken StV 1991, 270
mit weit. Nachw.) oder einen rechtskräftigen Strafbefehl (vgl. Senat NStZ-RR 2001, 136)
stützen und dadurch die Überzeugung von Art und Ausmaß der Schuld des Täters
gewinnen. Dies gilt aber dann nicht, wenn die Gründe eines rechtskräftigen Urteils den
Schuldspruch nicht tragen (vgl. Senat NStZ-RR 2005, 94; Lackner/Kühl aaO mit weit.
Nachw.) oder wenn ein Strafbefehl nur auf den hinreichenden Tatverdacht gestützt ist,
eine Überzeugungsbildung nicht zuläßt und der Verurteilte sich gegen ihn erkennbar zur
Wehr setzen wollte (vgl. Senat NStZ-RR 2001, 136). So liegt es hier.
Zwar ist der Beschwerdeführer der von der „Premia Win GmbH“ gegen ihn erhobenen
Forderung mit der Lüge entgegengetreten, nicht er, sondern ein Dritter habe sich auf
deren Website unter Benutzung seiner Kennung eingewählt und die von dem
Unternehmen behaupteten Umsätze verursacht. Die „Premia Win GmbH“ sah daraufhin
davon ab, ihre Forderung ihm gegenüber weiterhin geltend zu machen und zeigte den
angeblichen unbekannten Dritten bei der Kriminalpolizei an. Nachdem diese ermittelt
hatte, daß es keinen Dritten gab, gab er seine Lüge zu. Dieser Sachverhalt erfüllt indes
noch nicht den Tatbestand des Betruges. Denn der Beschwerdeführer hielt die
(möglicherweise unter § 762 BGB fallende) Forderung der GmbH aus – näher
bezeichneten – plausiblen Gründen für unwirksam. Ihm wird mit dem Strafbefehl kein
Eingehungsbetrug in Form der betrügerischen Vorspiegelung der Zahlungsbereitschaft
vorgeworfen, sondern ein sogenannter Erfüllungsbetrug, bei dem der Gläubiger mittels
einer Täuschung davon abgebracht werden soll, einen ihm zustehenden Anspruch
geltend zu machen (vgl. Tiedemann in LK-StGB 11. Aufl., § 263 Rdn. 229). Der
Tatbestand des Betruges in dieser Form setzt eine wirksam bestehende Forderung
voraus. Nichtige Forderungen sind nicht geschützt (vgl. Tiedemann in LK, § 263 StGB,
Rdn. 151). Unklar bleibt nach der im Strafbefehl enthaltenen Schilderung des
Tatgeschehens, ob die Forderung, die – nicht näher bezeichnete – „Spiele“ betraf,
gemäß § 134 BGB in Verbindung mit § 284 StGB nichtig war und ob die Anerkennung der
– inhaltlich unbekannt gebliebenen – AGB durch den Verurteilten zivilrechtlich wirksam
war, geschweige denn, ob sie einer Inhaltskontrolle standgehalten hätten. Geworben
wurde angeblich damit, daß die Teilnahme drei Monate gratis sei. Die Zuteilung der
Gewinnspiele auf den Teilnehmer erwies sich für den Beschwerdeführer als
unüberschaubar, so daß er bereits am nächsten Tag die Anmeldung rückgängig
gemacht haben und an keinem Spiel teilgenommen haben will. Angesichts des zuvor
lügenhaften Verhaltens des Beschwerdeführers gegenüber den ermittelnden
Polizeibeamten sind diese Angaben zwar mit Vorsicht zu betrachten. Das Angebot des
angeblich geschädigten Unternehmens jedenfalls hinterläßt aber einen dubiosen
Eindruck, und es hat auch schon zu zahlreichen beschwerdeführenden Stimmen im
Internet Anlaß gegeben, die das Gebaren des Unternehmens und seiner Betreiber mit
dem volkstümlich verwendeten Wort „Abzocke“ zusammenfassen lassen. Daher läßt
sich ohne nähere Ermittlungen in dessen Bereich eine strafrechtlich schützenswerte
Forderung mit einem im Rechtsleben beachtlichen wirtschaftlichen Wert nicht
begründen.
c) Da der Beschwerdeführer die Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl versäumt hat,
muß er wegen dessen Rechtskraft zwar die Geldstrafe und die Verfahrenskosten
bezahlen. Ein Widerruf einer Freiheitsstrafe läßt sich auf diesen Sachverhalt aber nicht
stützen. Der Fall gibt dem Senat Anlaß, nochmals auf die Gefahren hinzuweisen, die eine
vorschnelle Beantragung eines Strafbefehls für die Gewinnung eines materiell
zutreffenden Ergebnisses birgt. In seinem Beschluß vom 28. September 2006 – 5 Ws
519/06 - hat er ausgeführt:
„Daher entsprach die Beantragung eines Strafbefehls durch die
Amtsanwaltschaft Berlin nicht Nr. 175 Abs. 1 RiStBV, die den Abschluß der Ermittlungen
voraussetzen. Praktisch haben die Amtsanwaltschaft und ihr folgend das Amtsgericht
das Verteidigungsvorbringen als nicht existent behandelt und auf diese Weise das Risiko
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das Verteidigungsvorbringen als nicht existent behandelt und auf diese Weise das Risiko
auf die Verurteilte abgewälzt, durch eigene oder fremde Saumseligkeit den ersten
Zugang zum Gericht zu verlieren und mit ihrer Darstellung des Geschehens um ihr
rechtliches Gehör gebracht zu werden. Dieses Risiko hat sich danach auch verwirklicht.“
So lag es hier. Der rechtlich unbeholfene, wenn auch gerichtserfahrene Verurteilte hatte
sich in einen für ihn nachteiligen Kokon einer feindseligen Haltung gegenüber der Polizei
zurückgezogen und zur Lüge gegriffen. Dieses bei Beschuldigten einfacher Denkungsart
häufig anzutreffende defizitäre Fehlverhalten darf nicht dazu führen, die greifbar
erforderlichen Ermittlungen zu unterlassen.
3. Der Senat hebt daher den angefochtenen Beschluß auf und weist den Antrag der
Staatsanwaltschaft zurück. In dem Verfahren, in dem über den Widerruf noch nicht
entschieden ist (vgl. oben 1.) läßt sich ein Widerruf ebenfalls nicht begründen.
4. Die Kosten des Rechtsmittels fallen der Landeskasse Berlin zur Last, weil kein anderer
dafür haftet. Die Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung
des § 467 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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