Urteil des FG Saarland vom 21.01.2010

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FG Saarbrücken Urteil vom 21.1.2010, 2 K 1173/08
Kindergeld für halbtags als Küchenhilfe beschäftigtes behindertes Kind: Prüfung der
Fähigkeit zum Selbstunterhalt auch bei Beschäftigung am freien Arbeitsmarkt
Leitsätze
Bei der nach Rechtsprechung des BFH anzustellenden Gesamtbetrachtung bei
Beantwortung der Frage, ob eine Behinderung des Kindes in erheblichem Umfang
ursächlich dafür ist, dass sich das Kind nicht selbst unterhalten kann (BFH vom 29.5.2009
III R 16/07, BFH/NV 2009, 1639) ist der Hinweis darauf, dass das Kind "auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt tätig" sei, nicht zielführend. Gerade dann, wenn die Integration
behinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt das erklärte gesellschaftliche Ziel
ist, bedeutet dies keineswegs, dass zwangsläufige Konsequenz der Beschäftigung dieses
Menschen mit Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt der "Quasi-Wegfall der
Behinderung" ist und die nicht existenzsichernde Beschäftigung letztlich auf dem freien
Willen des betreffenden Menschen mit Behinderung beruht. Vielmehr enthebt die
Arbeitssuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und die dort anzutreffende -
unzureichende - Beschäftigung nicht von Feststellungen zu der Frage, inwieweit die
Behinderung die wesentliche Ursache für eben diese Situation setzt.
Tenor
Der Bescheid vom 6. Februar 2008 in Form der Einspruchsentscheidung vom 19. März
2008 wird aufgehoben und der Klägerin ab Januar 2008 Kindergeld bewilligt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, sofern nicht die
Klägerin zuvor Sicherheit leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Mutter der am 28. April 1985 geborenen Tochter N. Sie streitet mit der
Beklagten um die Berechtigung zum Erhalt von Kindergeld für N ab Januar 2008. Bei N liegt
ausweislich des Bescheides des Landesamtes für Soziales, Gesundheit und
Verbraucherschutz vom 22. März 2007 ein Grad der Behinderung von 50 vor (Bl. 54). Bei
Feststellung des Grads der Behinderung wurden eine frühkindliche Hirnschädigung, ein
organisches Psychosyndrom sowie eine Angststörung berücksichtigt (Bl. 54). N arbeitet
nach einer Ausbildung als Hauswirtschaftshelferin halbtags als Küchenhilfe (Bl. 19). Ihre
monatlichen Einkünfte betragen 550 Euro (Bl. 7).
Mit Bescheid vom 6. Februar 2008 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes ab
Januar 2008 auf, da nach Auffassung der Beklagten die Behinderung von N nicht ursächlich
dafür sei, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne (KiG, Bl. 43). Den
hiergegen von der Klägerin am 13. Februar 2008 eingelegten Einspruch (KiG, Bl. 46) wies
die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 19. März 2008 (KiG, Bl. 54 ff.) als
unbegründet zurück.
Am 21. April 2008 hat die Klägerin Klage erhoben (Bl. 1).
Sie beantragt sinngemäß (Bl. 2), den Bescheid vom 6. Februar 2008 in Form der
Einspruchsentscheidung vom 19. März 2008 aufzuheben und ihr ab Januar 2008
Kindergeld zu bewilligen.
Die Klägerin macht geltend, N sei aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, angesichts
der Zustände auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Arbeitsstelle zu finden, die ihr die
notwendigen Einkünfte zur Sicherung ihres Lebensunterhalts gewährleisten könnte. Die
erforderliche Ursächlichkeit sei insbesondere auch deswegen gegeben, weil ihr die Beklagte
keinen entsprechenden Arbeitsplatz vermitteln könne.
Die Beklagte beantragt (Bl. 18), die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bestreitet die notwendige Ursächlichkeit der Behinderung bezüglich der
Gewährleistung ausreichender Einkünfte.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung durch den Berichterstatter anstelle des Senats einverstanden erklärt (Bl. 19).
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogenen
Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Kindergeld
für ihre Tochter N ab Januar 2008 gegen die Beklagte zu. Der angefochtene Bescheid ist
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
1. Rechtsgrundlagen
Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht
für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es
wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen
ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B.
mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten)
arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem
eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG führt eine Behinderung aber nur
dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den
Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten (Ursächlichkeit); dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen
(gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (BFH vom 19.
November 2008 III R 105/07, BFH/NV 2009, 638).
Indessen ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der
Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes
nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01,
BStBl II 2002, 486).
Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die
Feststellung in ärztlichen Gutachten - z.B. von der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit
oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen - sein, das Kind sei nach
Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige,
mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen
Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben (s.
Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem
X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.6.3.1 Abs. 4, BStBl I 2004, 743). Selbst
wenn nach den Gutachten eine "vollschichtige Tätigkeit" für möglich gehalten wird, ist die
theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln,
aber allein nicht geeignet, die (Mit-) Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen.
Entscheidend kann nur die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten
Kindes sein (s. im Einzelnen BFH vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BStBl II 2002,
486; vom 28. Mai 2009 III R 16/07, BFH/NV 2009, 1639).
Die Behinderung muss nicht die alleinige Ursache für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich
selbst zu unterhalten. Andererseits reicht eine einfache Mitursächlichkeit nicht aus;
vielmehr folgt aus dem Tatbestandsmerkmal des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG "... wegen
... Behinderung außerstande ist", dass die Mitursächlichkeit der Behinderung erheblich sein
muss (s. im Einzelnen BFH vom 19. November 2008 III R 105/07, BFH/NV 2009, 638; vom
28. Mai 2009 III R 16/07, BFH/NV 2009, 1639). Die Frage, ob eine Behinderung für die
mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang
mitursächlich ist, ist dabei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu
entscheiden.
2. Anwendung im Streitfall
Im Streitfall ist die Tochter der Klägerin auf Grund ihrer Behinderung nicht in der Lage, sich
Im Streitfall ist die Tochter der Klägerin auf Grund ihrer Behinderung nicht in der Lage, sich
den erforderlichen Lebensunterhalt zu sichern. Die von N erzielten Einkünfte liegen
unterhalb des Existenzminimums von N. Der Senat schließt sich insoweit den – von der
Beklagten nicht angegriffenen - Berechnungen der Klägerin (Bl. 7) an.
Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Streitfalls ist der Senat davon
überzeugt, dass die Behinderung von N ursächlich für ihre mangelnde Fähigkeit zum
Selbstunterhalt ist. Zwar kann der Umstand, dass ein Arbeitnehmer – wie N – nicht
vollschichtig arbeitet und aus diesem Grund über geringere Einkünfte verfügt, auch den
Gegebenheiten des Arbeitsmarktes oder sonstigen Gründen geschuldet sein, die außerhalb
einer Behinderung liegen, wobei nachvollziehbar ist, dass gerade auch die Zustände des
„ungeschützten“ Arbeitsmarktes Menschen mit Behinderungen besonders stark treffen.
Anhaltspunkte außerhalb der Behinderung von N liegen indessen im Streitfall nicht vor. Es
kann letztlich offen bleiben, ob der Umstand, dass sich der Arbeitgeber von N auch nach
der Umwandlung der Stelle in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis nicht zu einer zeitlichen
Aufstockung entschlossen hat, auf eine ausreichende personelle Besetzung der Küche oder
auf eine möglicherweise eingeschränkte Leistungsfähigkeit von N zurückführen lässt. Denn
jedenfalls ist es der Beklagten – worauf die Klägerin zu Recht hinweist - bislang nicht
gelungen ist, N in eine Vollzeitstelle zu vermitteln, wobei unterstellt wird, dass N einer
solchen Belastung überhaupt standhalten würde. Die von der Klägerin geschilderten
Umstände (Bl. 21) lassen aber eher einen anderen Schluss zu.
Insoweit ist der Hinweis der Beklagten (Bl. 19), N sei „auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
tätig“, im Übrigen nicht zielführend. Gerade dann, wenn die Integration behinderter
Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt das erklärte gesellschaftliche Ziel ist (vgl. dazu
etwa den Koalitionsvertrag Saarland vom November 2009, S. 61), bedeutet dies
keineswegs, dass zwangsläufige Konsequenz der Beschäftigung dieses Menschen mit
Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt der „Quasi-Wegfall der Behinderung“ ist und die
nicht existenzsichernde Beschäftigung letztlich auf dem freien Willen des betreffenden
Menschen mit Behinderung beruht. Vielmehr enthebt die Arbeitssuche auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt und die dort anzutreffende – unzureichende – Beschäftigung
nicht von Feststellungen zu der Frage, inwieweit die Behinderung die wesentliche Ursache
für eben diese Situation setzt.
Dies führt zum Erfolg der Klage.
3.
Der Urteilsausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der der Beklagten auferlegten Kosten
beruht auf § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V. mit § 707 Nr. 10, 711 ZPO.
Für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO fehlte es an den gesetzlichen
Voraussetzungen.
Die Entscheidungsbefugnis des Berichterstatters anstelle des Senats ohne mündliche
Verhandlung stützt sich auf §§ 79 a Abs. 3, 4; 90 Abs. 2 FGO.