Urteil des FG Saarland vom 15.07.2003

FG Saarbrücken: verwaltungsakt, richterliche frist, untätigkeitsklage, einspruch, erlass, anfechtungsklage, hauptsache, vorverfahren, gebühr, verrechnung

FG Saarbrücken Urteil vom 15.7.2003, 1 K 8/03
Untätigkeitsklage wegen doppelter Untätigkeit des FA: Zulässigkeit der Klage bei Erlass des
beantragten, aber eine ungünstige Entscheidung beinhaltenden Abrechnungsbescheids
während des Klageverfahrens, Wahlrecht zwischen Fortführung der Untätigkeitsklage oder
Einspruchseinlegung gegen Abrechnungsbescheid, Tatbestandsmerkmal "beantragter
Verwaltungsakt"
Leitsätze
Erlässt das Finanzamt im Zuge einer zulässigen Untätigkeitsklage, der ein
Untätigkeitseinspruch vorangegangen ist, den Verwaltungsakt, der jedoch dem Antrag des
Steuerpflichtigen nicht oder nicht in vollem Umfang entspricht, so hat der Steuerpflichtige
die Wahl, entweder gegen den Bescheid Einspruch einzulegen und das Klageverfahren für
erledigt zu erklären oder aber das Klageverfahren als Anfechtungsklage gegen den
Bescheid fortzusetzen.
Tatbestand
Der Beklagte hat am 2. August 2001 gegenüber der Klägerin den Umsatzsteuerbescheid
1999 erlassen, der einen Erstattungsbetrag (incl. Zinsen) i.H.v. 575.878,38 DM
(294.441,94 EUR) auswies (Bl. 6). Unter den Beteiligten entstand Streit darüber, ob dieser
Betrag vom Beklagten durch Verrechnung beglichen worden ist (Bl. 2 ff.). Mit Schriftsatz
vom 16. Oktober 2001 stellte die Klägerin den Antrag, den streitigen Betrag an sie
auszuzahlen (Bl. 18). Nachdem der Beklagte auf diesen Antrag hin nichts weiter
unternahm, legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 10. Juli 2002 Untätigkeitseinspruch ein.
Als der Beklagte auch daraufhin weder zahlte noch einen rechtsbehelfsfähigen
Abrechnungsbescheid erließ, erhob die Klägerin am 10. Januar 2003 Klage. Sie beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 561.833,38 DM nebst 6% Zinsen p.A. seit
dem 3. September 2001 zu zahlen (Bl. 1).
Der Beklagte wurde vom Vorsitzenden aufgefordert, zur Klageschrift der Klägerin bis zum
10. Februar 2003 Stellung zu nehmen. Eine Aussetzung und Fristsetzung nach § 46 Abs. 1
Satz 3 FGO erfolgte nicht. Am 7. Februar 2003 erließ der Beklagte einen
Abrechnungsbescheid, wonach die Forderung der Klägerin erloschen sei und übersandte
diesen dem Gericht (Bl. 30). Gleichzeitig erklärte er den Rechtsstreit in der Hauptsache für
erledigt, weil er nunmehr den Abrechnungsbescheid - wenn auch nicht im gewünschten
Sinne - erlassen habe (Bl. 29, 42 f.). Eine Klage gegen den ablehnenden
Abrechnungsbescheid sei gemäß § 44 Abs. 1 FGO nur nach Durchführung eines
entsprechenden Vorverfahrens zulässig.
Die Klägerin hat keine Erledigungserklärung abgegeben. Ihrer Auffassung nach ist der
Rechtsstreit nicht erledigt, weil der Beklagte durch seinen Abrechnungsbescheid nicht in
ihrem Sinne entschieden habe (Bl. 33 f.).
Durch Zwischengerichtsbescheid vom 16. Mai 2003 hat der Senat die Klage für zulässig
erklärt und die Revision zugelassen. Der Beklagte hat fristgerecht Antrag auf mündliche
Verhandlung gestellt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und das Protokoll der
mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 FGO zulässig.
Die Klägerin hat unstreitig in zulässiger Weise Untätigkeitseinspruch (§ 347 Abs. 1 S. 2 AO)
und sodann Klage nach § 46 Abs. 1 S. 1 FGO erhoben, nachdem der Beklagte die
entsprechenden Eingaben der Klägerin jeweils über 6 Monate lang ohne Angabe von
Gründen nicht beschieden hat. Zweifelhaft ist bezüglich der Zulässigkeit des
Klageverfahrens nur, ob die Klage dadurch nachträglich unzulässig geworden ist, dass der
Beklagte am 7. Februar 2003 einen Abrechnungsbescheid erlassen hat, der den
Zahlungsanspruch der Klägerin verneint.
Zu Recht weist der Beklagte darauf hin, dass eine Klage nach § 46 FGO, die sich gegen
eine doppelte Untätigkeit des Finanzamtes (bezüglich des Erlasses des beantragten
Bescheides und bezüglich des Untätigkeitseinspruchs) richtet, ihrer Art nach eine
Verpflichtungsklage ist. Denn dieses Verfahren kann bei andauernder Untätigkeit des
Finanzamtes nur dadurch im Sinne eines Klägers entschieden werden, dass das Gericht
das Finanzamt zum Erlass eines Verwaltungsaktes verurteilt. Es muss sich hierbei stets
um einen konkreten, inhaltlich bestimmten Verwaltungsakt (z.B. die Einkommensteuer
2000 auf 15.000 DM festzusetzen) und nicht nur um die abstrakte Verpflichtung des
Finanzamtes handeln, den Einspruch - mit welchem Inhalt auch immer - überhaupt zu
bescheiden.
Vorliegend hat der Beklagte im Zuge des (Verpflichtungs-) Klageverfahrens den noch
ausstehenden Verwaltungsakt erlassen. Dadurch kann im Wege einer Klageänderung, die
als sachdienlich anzusehen ist (§ 67 Abs. 1 S. 1 FGO), aus der ursprünglichen
Verpflichtungsklage eine Anfechtungsklage werden, soweit die Klägerin das Klageverfahren
fortsetzen möchte und sie es - aus welchen Gründen auch immer - nicht vorzieht, gegen
den Bescheid Einspruch einzulegen und ihre Rechte zunächst im Einspruchsverfahren
wahrzunehmen. § 68 FGO greift nach seinem Gesetzeswortlaut ("...der angefochtene
Verwaltungsakt...") im Falle der Untätigkeitsklage nach Untätigkeitseinspruch nicht ein. Ein
Kläger hat also in einer solchen Verfahrenssituation die Wahlmöglichkeit, entweder das
Klageverfahren gegen den zwischenzeitlich erlassenen, ablehnenden Verwaltungsakt
fortzusetzen oder gegen den Bescheid Einspruch einzulegen und das Klageverfahren in der
Hauptsache für erledigt zu erklären.
Entscheidet er sich - wie im Streitfall - für die Fortsetzung des Klageverfahrens, dann ist die
Anfechtungsklage ebenfalls - wie die zuvor erhobene Verpflichtungsklage - nach § 46 Abs. 1
S. 1 FGO zulässig. Denn die Vorschrift differenziert nicht zwischen den beiden Klagearten.
Es ist ihr insbesondere nicht - wie der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vorgetragen
hat - zu entnehmen, dass gegen den erstmals erlassen Bescheid zwangsläufig ein
Einspruchsverfahren durchzuführen wäre. Der Passus des § 46 Abs. 1 S. 1 FGO "... ohne
vorherigen Abschluss des Vorverfahrens..." zieht eine solche Folgerung nicht zwingend
nach sich. Das "nicht abgeschlossene Vorverfahren" in diesem Sinne ist auch für das
Anfechtungsverfahren der Untätigkeitseinspruch, den das Finanzamt über Gebühr lange
unbearbeitet gelassen hat. Es ist einem Kläger, dessen Anliegen das Finanzamt in der
Vergangenheit bereits zwei Mal nicht bearbeitet hat, nicht zuzumuten, dass sich dies
möglicherweise ein drittes Mal - nämlich in dem Einspruchsverfahren gegen den im
Klageverfahren erlassenen Bescheid - wiederholt.
Dies lässt sich wertungsmäßig auch dem § 46 Abs. 1 S. 3 FGO entnehmen, der im Falle
einer gerichtlichen Fristsetzung nur die "stattgebende" Einspruchsentscheidung oder den
Erlass des "beantragten Verwaltungsaktes" als erledigende Ereignisse anerkennt.
"Beantragter Verwaltungsakt" ist nicht nur ein seiner Art nach beantragter Verwaltungsakt
(z.B. Erlass des Einkommensteuerbescheides 2000), sondern der inhaltlich konkret
beantragte Verwaltungsakt (z.B. Festsetzung der Einkommensteuer 2000 i.H.v. 15.000
DM). Wird nicht der i.d.S. "beantragte", sondern ein Steuerbescheid mit anderem,
ungünstigerem Inhalt erlassen, dann wird das Klageverfahren gegen den fraglichen
Bescheid fortgesetzt, ohne dass ein Einspruchverfahren durchgeführt werden müsste.
Entsprechendes muss zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen in den Fällen des § 46
Abs. 1 S. 1 FGO, in denen - wie im Streitfall - keine richterliche Frist gesetzt worden ist
gelten. Der Senat sieht sich mit dieser Rechtsauffassung in Übereinstimmung mit dem FG
Köln (Urteil vom 21. November 2001 6 K 1134/01, EFG 2002, 1245, Az. des BFH: I B
31/02) und dem Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 13. Januar 1983 5 C 114/81, NJW
1983, 2276, DVBl. 1983, 84).
Die Klage war demzufolge durch Zwischenurteil für zulässig zu erklären (§ 97 FGO). Das
Verfahren wird gegen den ablehnenden Abrechnungsbescheid vom 7. Februar 2003
fortgesetzt.
Die Zulassung der Revision erfolgt gemäß § 115 Abs. 2 FGO, da über die Rechtsfrage -
soweit ersichtlich - höchstrichterlich noch nicht entschieden worden ist.