Urteil des FG Saarland vom 16.04.2008

FG Saarbrücken: verwaltungsakt, neue tatsache, erlass, widerruf, rechtswidrigkeit, rücknahme, vertrauensschutz, verschulden, fahrlässigkeit, einspruch

FG Saarbrücken Urteil vom 16.4.2008, 2 K 2123/04
Nach begünstigender Aufhebung eines Haftungsbescheids Erlass eines den gleichen
Gegenstand regelnden Haftungsbescheids nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs.
2 oder des § 131 Abs. 2 AO
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die haftungsweise Inanspruchnahme des Klägers für
Umsatzsteuerschulden des Jahres 1996 der D GmbH (künftig: GmbH).
Die GmbH wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 10. Juli 1995 errichtet.
Unternehmensgegenstand war der Einkauf und Verkauf von Werbeleistungen insbesondere
im Bereich des Teleshoppings. Alleiniger Geschäftsführer der GmbH war der Kläger (Bl. 11
Dok). Die GmbH wurde am 13. Oktober 1999 wegen Vermögenslosigkeit aus dem
Handelsregister gelöscht.
Da die GmbH ihren Erklärungspflichten zunächst nicht nachkam, ergingen am 29. März
1999 Schätzungsbescheide zur Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer
der Jahre 1996 und 1997. Aufgrund dieser Bescheide wurde der Kläger mit
Haftungsbescheid vom 21. Juni 1999 (künftig: Haftungsbescheid I) als Haftungsschuldner u.
a. in Höhe von 1.532 DM für die Umsatzsteuer 1996 der GmbH in Anspruch genommen
(Bl. 18 Haft). Der Kläger legte gegen die Schätzungsbescheide und den Haftungsbescheid I
Einspruch ein und reichte am 8. September 1999 die Körperschaft-, Gewerbe- und
Umsatzsteuerklärungen 1996 und 1997 ein (Bl. 16, 19 USt). Am 17. November 1999
erließ der Beklagte u.a. einen gemäß der Erklärung geänderten Umsatzsteuerbescheid für
1996, der zu einer um 108.250 DM höheren Steuer führte; der geänderte
Umsatzsteuerbescheid 1997 führte dagegen im Vergleich zum Schätzungsbescheid zu
einer um 97.930 DM niedrigeren Steuer.
Am 25. November 1999 hob der Beklagte den Haftungsbescheid I auf, da sich auf Grund
der nachgereichten Steuererklärungen die im Haftungsbescheid enthaltene Steuerschuld
auf null DM verringert habe. Die Nachzahlung aufgrund der Umsatzsteuererklärung 1996
war dabei nicht berücksichtigt, da diese erst zum 20. Dezember 1999 fällig war.
Am 9. Mai 2000 erließ der Beklagte gegenüber dem Kläger einen weiteren
Haftungsbescheid (künftig: Haftungsbescheid II) in Höhe von 113.253 DM für
Umsatzsteuer 1996 der GmbH nebst Zinsen. Den hiergegen gerichteten Einspruch (Bl. 2
Rbh) wies der Beklagte mit seiner Einspruchsentscheidung vom 2. April 2004 (Bl. 9) als
unbegründet zurück.
Am 21. April 2004 hat der Kläger Klage erhoben. Er beantragt sinngemäß (Bl. 2), den
Haftungsbescheid vom 9. Mai 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. April
2004 aufzuheben.
Der Kläger ist der Ansicht, der Erlass des Haftungsbescheids II sei unzulässig gewesen; die
Aufhebung des Haftungsbescheids I stelle einen begünstigenden Verwaltungsakt dar, der
nur unter den Voraussetzungen des § 131 Abs. 2 AO bzw. - nach Auffassung des BFH -
denen des § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen oder widerrufen werden dürfe. Diese
Voraussetzungen lägen indes im Streitfall nicht vor. Der Kläger genieße mithin
Vertrauensschutz.
Im Übrigen seien die Haftungsvoraussetzungen nicht gegeben. Der Kläger habe nicht
schuldhaft gehandelt. Die Umsatzsteuerabschlusszahlung 1996 und die
Umsatzsteuererstattung 1997 korrespondierten inhaltlich; sie resultierten aus dem
Umstand, dass für die im Dezember 1996 ausgestrahlten Werbespots die entsprechenden
Ausgangsrechnungen erst Anfang Januar 1997 geschrieben und verbucht worden seien.
Diese Verschiebung sei auch dem Beklagten, der 1997 und 1998 jeweils
Umsatzsteuersonderprüfungen für die betreffenden Jahre durchgeführt habe, nicht
aufgefallen. Den Kläger treffe auch deshalb kein Verschulden, weil er mit Einreichung der
Steuererklärung für die Jahre 1996 und 1997 einen Verrechnungsantrag gestellt habe, der
vom Beklagten nicht beachtet worden sei. Eine Pflichtverletzung des Klägers könne nur
darin gesehen werden, dass dieser die Umsatzsteuer 1996 um einen Monat verspätet in
die Voranmeldung aufgenommen habe. Insoweit fehle es aber an der Kausalität einer
etwaigen Pflichtverletzung für den entstandenen Schaden. Denn die geringfügig zu spät
angemeldete Steuer sei seinerzeit gezahlt worden.
Der Beklagte beantragt sinngemäß (Bl. 31f), die Klage als unbegründet abzuweisen.
Im Streitfall habe § 130 Abs. 2 AO dem Erlass eines erneuten Haftungsbescheids nicht
entgegen gestanden. Denn beide Haftungsbescheide beträfen unterschiedliche
Sachverhalte: Haftungsbescheid I die Umsatzsteuer 1996 aufgrund des
Schätzungsbescheids, Haftungsbescheid II die Umsatzsteuer 1996 nach Ergehen des
Änderungsbescheids.
Der Kläger habe nicht nur zu verantworten, dass die Umsatzsteuervoranmeldungen zum
Jahresende 1996 und Jahresanfang 1997 gravierende Mängel aufgewiesen hätten; er habe
auch schuldhaft die Umsatzsteuerjahreserklärungen 1996 und 1997 erst am 8.
September 1999 und damit erheblich verspätet eingereicht. Dieses Verschulden sei kausal
für den eingetretenen Schaden. Der Beklagte habe zwischen Mai 1997 und Februar 1998
insgesamt 524.685 DM im Erstattungsweg an die GmbH ausgezahlt. Hätte der Kläger die
Umsatzsteuerjahreserklärung 1996 rechtzeitig am 31. Mai 1997 abgegeben, wäre es
mithin zu einer vollständigen Verrechnung der Umsatzsteuerschuld gekommen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogenen
Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
1.
(Haftungsbescheid II) ist die günstige Rechtsposition des Klägers nach Aufhebung des
Haftungsbescheids vom 21. Juni 1999 (Haftungsbescheid I) beseitigt worden. Dies ist nach
den Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens zur Rücknahme bzw. des Widerrufs
begünstigender Verwaltungsakte (§§ 130 Abs. 2, 131 Abs. 2 AO) zu Unrecht geschehen
a) Nach § 130 Abs. 1 AO können rechtswidrige Verwaltungsakte grundsätzlich
uneingeschränkt zurückgenommen und durch andere Verwaltungsakte ersetzt werden.
Diese Vorschrift wird aufgrund des rechtsstaatlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes
für begünstigende Verwaltungsakte eingeschränkt. Begünstigende Verwaltungsakte
können nach § 130 Abs. 2 AO nur unter bestimmten dort aufgeführten Voraussetzungen
zurückgenommen werden. Auch für rechtmäßige nicht begünstigende Verwaltungsakte gilt
nach § 131 Abs. 1 AO der Grundsatz der freien Widerrufbarkeit; der Widerruf ist jedoch
unzulässig, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder
aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Auch im Rahmen des § 131 AO ist aus
Gründen des Vertrauensschutzes der Widerruf begünstigender Verwaltungsakte
eingeschränkt (§ 131 Abs. 2 AO).
aa) Im Streitfall stellt der den Haftungsbescheids I aufhebende Bescheid vom 25.
November 1999 einen begünstigenden Verwaltungsakt dar. Begünstigende
Verwaltungsakte sind solche, die in Form einer selbstständigen Regelung einen rechtlichen
Vorteil gewähren oder bestätigen. Nach diesem Grundsatz stellt die Rücknahme
beziehungsweise der Widerruf eines Haftungsbescheids einen begünstigenden
Verwaltungsakt dar, da die belastende Wirkung des ursprünglichen Haftungsbescheids
beseitigt wird (BFH vom 22. Januar 1985 VII R 112/81, BStBl II 1985, 562).
Dieser begünstigende Verwaltungsakt – die in der Abhilfeentscheidung liegende Aufhebung
des Haftungsbescheids I - wurde durch Erlass des Haftungsbescheids II seinerseits
zurückgenommen bzw. widerrufen. Zwar spricht der Haftungsbescheid II keine
ausdrückliche Änderung der Abhilfeentscheidung aus, da der in der Abhilfeentscheidung
liegende begünstigende Verwaltungsakt formell bestehen blieb und der später ergangene
Haftungsbescheid II einen eigenständigen, von der Abhilfeentscheidung unabhängigen
Verwaltungsakt darstellt. Unter Berücksichtigung des im Verwaltungsverfahren allgemein
anerkannten rechtstaatlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes bestehen aber
jedenfalls dann keine Bedenken, die Grundsätze über die Rücknahme begünstigender
Verwaltungsakte auch auf neu ergehende Haftungsbescheide anzuwenden, wenn sie - wie
hier - eine im Einspruchsverfahren erstrittene günstigere Rechtsposition der Sache nach
wieder beseitigen (vgl. BFH vom 22. Januar 1985 VII R 112/81, BStBl II 1985, 562
m.w.N.).
bb) Durch den Aufhebungsbescheid hat der Beklagte ein schutzwürdiges Vertrauen
dahingehend geschaffen, dass der Kläger hinsichtlich des Lebenssachverhalts, der
Gegenstand des Haftungsbescheids I war, nicht mehr in Anspruch genommen werden
würde.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass ein bereits ergangener
Haftungsbescheid bzw. – wie im Streitfall – dessen Aufhebung dem Erlass eines weiteren
Haftungsbescheides nur dann nicht entgegensteht, wenn dieser aufgrund eines anderen,
bisher nicht berücksichtigten Sachverhaltes ergeht, der Gegenstand eines selbständigen,
durch den ursprünglichen Haftungsbescheid nicht erfassten Haftungsanspruches ist (vgl.
BFH vom 30. August 1988 VI R 21/85, BStBl II 1989, 193, 195; vom 25. Mai 2004 VII R
29/02, BStBl II 2005, 3). Durch den Haftungsbescheid werden Verbindlichkeiten gegen den
Haftungsschuldner festgesetzt, die sich daraus ergeben, dass der Haftungsschuldner einen
bestimmten haftungsbegründenden Sachverhalt erfüllt hat und deshalb für die
Steuerschuld eines bestimmten Steuerschuldners für einen bestimmten
Besteuerungszeitraum in Anspruch genommen werden kann. Diese Elemente bestimmen
den Gegenstand des Haftungsbescheides. Entscheidend für die Zulässigkeit eines weiteren
Haftungsbescheids ist danach, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits
ergangene bzw. aufgehobene Haftungsbescheid.
Im Streitfall betraf der Haftungsbescheid II denselben Sachverhalt, der der Aufhebung des
Haftungsbescheids I zugrunde lag.
Zur Beurteilung des Haftungsanspruches wegen einer bestimmten Steuer ist auf den
Besteuerungszeitraum abzustellen, für den der Haftungsschuldner in Anspruch genommen
werden soll. So ist für die Haftungsinanspruchnahme wegen der Jahresumsatzsteuer der
Besteuerungszeitraum aufgrund des Prinzips der Abschnittsbesteuerung grundsätzlich das
Kalenderjahr (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG). Der Anspruch auf die Umsatzsteuer eines
Kalenderjahres ist nicht teilbar, denn er entsteht in dem Zeitpunkt, in dem er nach § 16
Abs. 1 und Abs. 2 UStG berechenbar ist. Dieser Zeitpunkt ist für den Jahresanspruch in
seinem gesamten Umfang das Ende des Besteuerungszeitraums, mithin das Kalenderjahr
(BFH vom 9. Mai 1996 V R 62/94, BStBl II 1996, 662, und vom 25. Mai 2004 VII R 29/02,
BStBl II 2005, 3). Der Haftungsanspruch hierfür entsteht, sobald der Tatbestand
verwirklicht ist, an den die Haftungsfolge knüpft (§ 38 AO). Das ist in der Regel - da es für
den Erlass des Haftungsbescheids weder auf die Fälligkeit, noch auf die Festsetzung der
Steuer ankommt - die Entstehung der Steuerschuld (BFH vom 25. Mai 2004 VII R 29/02,
BStBl II 2005, 3).
Danach war im Streitfall Gegenstand der Aufhebung des Haftungsbescheids I u.a. die
Umsatzsteuerschuld 1996 der GmbH. Der gleiche Anspruch ist auch Gegenstand des
Haftungsbescheids II; denn der Anspruch auf die Jahressteuer für ein bestimmtes
Kalenderjahr ist, wie oben ausgeführt, ein Gesamtanspruch, der nicht teilbar ist.
b) Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob die Aufhebung des Haftungsbescheids I
rechtmäßig oder - hinsichtlich der Umsatzsteuer 1996 - rechtswidrig war. Der von ihm
ausgehende Vertrauensschutz würde sowohl einer Rücknahme (§ 130 AO) als auch einen
Widerruf (§ 131 AO) entgegenstehen. Denn im Streitfall lagen weder die Voraussetzungen
des § 131 Abs. 2 AO noch die des § 130 Abs. 2 AO vor.
Nach § 131 Abs. 2 AO darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt u.a.
widerrufen werden, wenn die Finanzbehörde aufgrund nachträglich eingetretener
Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Die Tatsache muss
nachträglich eingetreten, nicht nur nachträglich erkannt oder in ihrer Rechtserheblichkeit
bewusst werden (Rüsken, in: Klein, AO, 8. Aufl. § 131 Rn. 11). Der Aufhebungsbescheid
erging, nachdem der Kläger die Umsatzsteuererklärung 1996 der GmbH beim Beklagten
eingereicht und der Beklagte den geänderten Umsatzsteuerbescheid, der Grundlage des
Haftungsbescheids II war, erlassen hatte. Die geänderte Umsatzsteuerfestsetzungen stellt
mithin keine neue Tatsache dar, die den Beklagten berechtigt hätte, den
Aufhebungsbescheid nicht zu erlassen.
Auch die Voraussetzungen einer Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakts (§ 130 Abs. 2 AO) lagen im Streitfall nicht vor. Nach § 130 Abs. 2 AO darf
ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt u.a dann zurückgenommen werden,
wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung
unrichtig oder unvollständig waren (§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO), oder seine Rechtswidrigkeit
dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war (§ 130
Abs. 2 Nr. 4 AO).
Der Kläger hat den Aufhebungsbescheid - seine Rechtswidrigkeit unterstellt - nicht durch
Angaben erwirkt, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Denn
zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheids hatte der Kläger - wie oben
ausgeführt - seiner Erklärungspflicht genügt und der Beklagte die sich hieraus ergebende
Umsatzsteuer 1996 bereits festgesetzt. Die (unterstellte) Rechtswidrigkeit des
Aufhebungsbescheides war dem Kläger auch nicht bekannt oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht bekannt. Es genügt hierfür nicht, dass der Begünstigte die Umstände
kennt, die bei zutreffender rechtlicher Würdigung die Rechtswidrigkeit zur Folge haben. Er
muss das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts selbst haben (Rüsken, in:
Klein, AO, 8. Aufl. § 130 Rn. 48 m.w.N.). Hiervon kann im Streitfall bereits deshalb nicht
ausgegangen werden, weil der Beklagte in seinem Aufhebungsbescheid ausdrücklich auf
die nachgereichten Steuererklärungen und die sich hieraus ergebenden Verrechnungen
Bezug nahm. Der Aufhebungsbescheid war mithin nicht erkennbar rechtswidrig.
Da dem Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids II folglich bereits Gründe des
Vertrauensschutzes entgegenstanden, bedurfte die Frage, ob im Streitfall die
Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme des Klägers vorlagen, keiner weiteren
Prüfung mehr.
2.
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 FGO i.V.m. §§ 708
Nr. 10, 711 ZPO.
Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage sah der Senat keine Veranlassung zur Zulassung
der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO.