Urteil des FG Münster vom 15.03.2007

FG Münster: berufsunfähigkeit, anknüpfung, einkünfte, freibetrag, altersgrenze, einspruch, begriff, anpassung, bindungswirkung, publikumsgesellschaft

Finanzgericht Münster, 14 K 3073/06 E
Datum:
15.03.2007
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 K 3073/06 E
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
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I.
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Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 des
Einkommensteuergesetzes (EStG).
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Der am 26. Dezember 1945 geborene Kläger war Kommanditist der
O**********************************gesellschaft ********************GmbH & Co. (O*********
GmbH & Co. KG). Die O********* GmbH & Co. KG verkaufte mit Vertrag vom 8. Mai 2000
die "N**********", ihr einziges Schiff. Die "N**********" wurde am 16. Juni 2000 an den
Erwerber übergeben.
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Ausweislich der Mitteilungen für 2000 über die gesonderte und einheitliche Feststellung
von Besteuerungsgrundlagen des Finanzamtes I********************** vom 22. November
2002 und vom 9. September 2003 hatte der Kläger als Beteiligter der O********* GmbH &
Co. KG nach Anwendung des § 15a EStG anzusetzende steuerpflichtige
Veräußerungsgewinne und andere tarifbegünstigte Einkünfte gem. §§ 16, 34 EStG in
Höhe von 39.604,36 DM erzielt.
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Der gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte
Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8. April 2003 erfasste zwar die laufenden
Einkünfte aus der Beteiligung des Klägers an der O********* GmbH & Co. KG
entsprechend den Angaben der Mitteilung über die gesonderte und einheitliche
Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 22. November 2002 mit 0 DM, der
Veräußerungsgewinn hingegen blieb unberücksichtigt.
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Am 22. Juli 2005 änderte der Beklagte den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8.
April 2003 gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO erneut und legte der Besteuerung des
Klägers nunmehr um den Veräußerungsgewinn von 39.604,00 DM erhöhte Einkünfte
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aus Gewerbebetrieb zugrunde. Der Bescheid nimmt Bezug auf die Mitteilung zur
gesonderten und einheitlichen Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 9.
September 2003 und enthält den Hinweis, dass innerhalb der Rechtsbehelfsfrist die
Nachholung eines Antrags auf ermäßigte Besteuerung gem. § 34 Abs. 1 EStG möglich
sei.
Mit seinem Einspruch vom 4. August 2005 beantragte der Kläger die Gewährung eines
Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG. Der Beklagte wies den Einspruch als unbegründet
zurück. Die Gewährung des Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG scheide aus, da der
Kläger im Zeitpunkt der Veräußerung das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet habe
(Einspruchsentscheidung vom 19. Juni 2006). Der Wortlaut des Gesetzes spreche dafür,
dass der Steuerpflichtige bereits im Veräußerungszeitpunkt das 55. Lebensjahr
vollendet haben müsse. Dies gelte auch für den Wortlaut des § 34 Abs. 3 EStG. Zudem
sei nach dem Sinn und Zweck der Regelung von einer Anknüpfung des Freibetrages an
das Dispositionsrecht des Steuerpflichtigen auszugehen. Schließlich weise das BMF-
Schreiben vom 20. Dezember 2005 (IV B 2-S 2242-18/05) klarstellend darauf hin, dass
der Zeitpunkt der Veräußerung maßgeblich sei.
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Mit der sodann erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der
Ansicht: Für die Gewährung des Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG reiche es aus,
dass er das 55. Lebensjahr im Veranlagungszeitraum 2000 vollende. Nicht erforderlich
sei, dass er es bereits im Veräußerungszeitpunkt vollendet habe. Dies ergebe sich aus
dem Wortlaut des Gesetzes. Außerdem sei das Ende des Veranlagungszeitraumes
maßgeblich, weil die Steuer zu diesem Zeitpunkt entstehe (§ 36 Abs. 1 EStG). Diese
Auffassung widerspreche auch nicht dem Wortlaut des § 34 Abs. 3 EStG, der im
Streitjahr noch nicht anwendbar gewesen sei. Außerdem lasse § 34 Abs. 1 EStG keinen
Rückschluss auf die Regelung des § 16 Abs. 4 EStG zu. Schließlich sei das BMF-
Schreiben vom 20. Dezember 2005 für den Streitfall nicht bindend.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 22. Juli 2005 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 19. Juni 2006 zu ändern und die
Einkommensteuer ohne Berücksichtigung des gem. § 16 Abs. 4 EStG
steuerfreien Veräußerungsgewinnes in Höhe von 39.604,00 DM niedriger
festzusetzen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verweist zur Begründung auf die Darlegungen der Einspruchsentscheidung.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung der mündlichen
Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) verzichtet.
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II.
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Die Klage ist unbegründet.
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Der streitige Einkommensteueränderungsbescheid 2000 vom 22. Juli 2005, in dem der
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Beklagte die Einkünfte aus Gewerbebetrieb um einen Veräußerungsgewinn in Höhe
von 39.604,00 DM erhöht hat, verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Der Beklagte war gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 180 Abs. 1 Nr. 2 a AO verpflichtet,
den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8. April 2003 zu ändern und die
Einkommensteuer unter Berücksichtigung des gesondert festgestellten,
tarifbegünstigten Veräußerungsgewinnes festzusetzen.
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Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein
Grundlagenbescheid im Sinne von § 171 Abs. 10 AO, dem Bindungswirkung zukommt,
erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Diese Bindungswirkung verpflichtet das für
den Erlass des Folgebescheides zuständige Finanzamt, die Folgerungen aus dem
Grundlagenbescheid zu ziehen. Die Anpassung steht nicht im Ermessen der
Finanzbehörde (vgl. z. B. BFH Urteil vom 29. Juni 2005 X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749
mwN). Die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheides wird auch nicht dadurch
beseitigt, dass das Finanzamt einen ihm bereits bekannt gegebenen
Grundlagenbescheid übersehen oder diesen zunächst nicht bzw. falsch ausgewertet
hat. Wird ein zunächst nicht bzw. falsch ausgewerteter Grundlagenbescheid späterhin
geändert, so ist die Finanzbehörde verpflichtet, die aus dem Änderungsbescheid
gebotenen Konsequenzen zu ziehen (vgl. z. B. BFH Urteil vom 29. Juni 2005 X R 31/04,
BFH/NV 2005, 1749 mwN).
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Dementsprechend war der Beklagte - ungeachtet der zunächst erfolgten unzutreffenden
Auswertung des Grundlagenbescheides vom 22. November 2002 im
Einkommensteuerbescheid vom 8. April 2003 - verpflichtet, den Grundlagenbescheid
vom 9. September 2003 auszuwerten und den Veräußerungsgewinn bei der
Festsetzung der Einkommensteuer im Änderungsbescheid vom 22. Juli 2005 zugrunde
zu legen.
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Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung des Klägers hat der Beklagte – mangels
Antrag gem. § 34 Abs. 1 EStG – zu Recht lediglich noch darüber entschieden, ob und
gegebenenfalls in welcher Höhe ein Freibetrag gem. § 16 Abs. 4 EStG zu
berücksichtigen war (vgl. z. B. BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II
1995, 893). Zutreffend hat der Beklagte die Gewährung eines solchen Freibetrages
abgelehnt, da der Kläger im Zeitpunkt der Veräußerung des Mitunternehmeranteils das
55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und daher die Voraussetzungen des § 16 Abs.
4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nicht vorliegen.
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§ 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr 2000 geltenden Fassung lautet: "Hat der
Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im
sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig, so wird der
Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er
60.000 Deutsche Mark übersteigt. Der Freibetrag ist dem Steuerpflichtigen nur einmal zu
gewähren. Er ermäßigt sich um den Betrag, um den der Veräußerungsgewinn 300.000
Deutsche Mark übersteigt."
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Die bis heute – mit Ausnahme der Höhe des Freibetrages bzw. des
Ermäßigungsbetrages – gleichlautende Regelung des § 16 Abs. 4 EStG ist in dieser
Form erst durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995,
1250) entstanden. Bis dahin lautete die Regelung des § 16 Abs. 4 EStG: "Der
Veräußerungsgewinn wird zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er bei der
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Veräußerung des ganzen Betriebes 30.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung
eines Teilbetriebes oder eines Anteils am Betriebsvermögen den entsprechenden Anteil
von 30.000 Deutsche Mark übersteigt. Der Freibetrag ermäßigt sich um den Betrag, um
den der Veräußerungsgewinn bei der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebes
100.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung eines Teilbetriebes oder eines Anteils
am Betriebsvermögen den entsprechenden Teil von 100.000 Deutsche Mark übersteigt.
An die Stelle der Beträge von 30.000 Deutsche Mark tritt jeweils der Betrag von 120.000
Deutsche Mark und an die Stelle der Beträge von 100.000 Deutsche Mark jeweils der
Betrag von 300.000 Deutsche Mark, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines
55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Gewerbebetrieb
veräußert oder aufgibt."
Während § 16 Abs. 4 EStG in der Fassung bis zur Änderung durch das
Jahressteuergesetz 1996 seinem Wortlaut nach eindeutig darauf abstellte, dass die
Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe nach Vollendung des 55. Lebensjahres
erfolgt, lässt sich dies aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr
geltenden Fassung nicht zwingend herleiten. Das Gesetz spricht zwar von "hat
vollendet", lässt aber den Bezugspunkt offen, d.h. es stellt keinen zwingenden Bezug
zwischen dem Begriff der Vollendung des 55. Lebensjahres und dem Zeitpunkt der
Veräußerung bzw. alternativ dem Ende des Veranlagungszeitraumes her.
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Knüpft jedoch ein Gesetz die Gewährung des Freibetrages einerseits an ein bestimmtes
Alter des Steuerpflichtigen und andererseits an den Tatbestand der
Betriebsveräußerung, so macht aus Sicht des Senates bereits diese Anknüpfung
deutlich, dass die Begünstigung davon abhängig ist, dass die Altersgrenze bereits im
Zeitpunkt der Veräußerung erreicht ist. Die Gewährung des steuerlichen Vorteils eines
Freibetrages im Zusammenhang mit der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils
erfolgt gerade weil der Veräußerer eine bestimmte Altersgrenze erreicht hat. Wegen
dieses kausalen Zusammenhanges ist es nur folgerichtig, für die Frage, wann das 55.
Lebensjahr vollendet sein muss, auf den Zeitpunkt der Veräußerung abzustellen.
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In diesem Sinne ist auch die dem Gesetzeswortlaut nach parallel gestaltete Regelung
zur Gewährung des Freibetrages wegen dauernder Berufsunfähigkeit des Veräußerers
zu verstehen (vgl. hierzu BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995,
893). Auch hier stellt das Gesetz sprachlich keinen zwingenden Bezug zwischen dem
Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit und dem Zeitpunkt der Veräußerung bzw.
alternativ dem Ende des Veranlagungszeitraumes her. Gleichwohl ist wegen der
kausalen Verknüpfung mit dem Merkmal der dauernden Berufsunfähigkeit ersichtlich,
dass diese bereits im Zeitpunkt der Veräußerung vorgelegen haben muss.
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Somit spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift dafür, dass § 16 Abs. 4 EStG in der im
Streitjahr geltenden Fassung für die Gewährung des Freibetrages auf die Vollendung
des 55. Lebensjahres im Zeitpunkt der Veräußerung abstellt (so i. E. auch Kobor in
Herrmann/Heuer/Raupach § 16 EStG Rz 508, 509; Wendt FR 2000, 1199,1201 unter
Verweis auf BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995, 893; Wacker
in Schmidt EStG 25. Auflage 2006, § 16 Rz 579).
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Dieses Ergebnis erweist sich auch mit Blick auf die dargelegte Entstehungsgeschichte
des § 16 Abs. 4 EStG, der bis zum Jahressteuergesetz 1996 ausdrücklich auf den
Zeitpunkt der Veräußerung abgestellt hat, als zutreffend. Der Begründung zum
Jahressteuergesetz 1996 ist demgegenüber nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber
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mit der Änderung des § 16 Abs. 4 EStG auch das Merkmal der Vollendung des 55.
Lebensjahres im Zeitpunkt der Veräußerung hat ändern wollen. Vielmehr ist der Senat
davon überzeugt, dass mit der Neufassung des § 16 Abs. 4 EStG lediglich eine
sprachliche Umformulierung erfolgt ist, die – im Vergleich zur vormaligen Fassung –
weniger präzise, gleichwohl aber inhaltlich unverändert an den Zeitpunkt der
Veräußerung anknüpft.
Die Anknüpfung an den Zeitpunkt des Veräußerungsgeschäftes wird auch dem Sinn
und Zweck der Vergünstigung gerecht. Mit der Gewährung des Freibetrages soll der
Gewinn aus einer Betriebsveräußerung bzw. einer Betriebsaufgabe nicht (bzw. nicht
vollständig) der Besteuerung unterworfen werden, und zwar dann, wenn der
Steuerpflichtige ein bestimmtes Alter überschritten hat. Diese Regelung soll mithin die
Aufgabe bzw. Veräußerung ab einem gewissen Alter erleichtern, indem die damit
verbundenen steuerlichen Folgen abgemildert und soziale Härten ausgeglichen werden
(vgl. Wendt FR 2000, 1199; siehe auch Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses vom 16. Mai 2000 zum Steuersenkungsgesetz, BTDrucks. 14/3366,
S. 117). Dies wird durch die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Veräußerung
gewährleistet, und zwar insbesondere auch deshalb, weil es der Steuerpflichtige
grundsätzlich selbst in der Hand hat, den Zeitpunkt der Veräußerung zu wählen. Der
Umstand, dass es dem Kläger wegen der besonderen Ausgestaltung der O*********
GmbH & Co. KG als Publikumsgesellschaft nicht möglich war, den Zeitpunkt der
Veräußerung des Schiffes zu bestimmen, steht dem nicht entgegen.
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Im Streitfall hatte der Kläger weder im Zeitpunkt des Abschlusses des schuldrechtlichen
Kaufvertrages am 8. Mai 2000 noch im Zeitpunkt der Übergabe des Schiffes am 16. Juni
2000 - und damit dem (spätesten) Zeitpunkt der Veräußerung im Sinne des § 16 EStG
(vgl. hierzu BFH Urteil vom 21. September 1995, IV R 1/95, BStBl II 1995, 893, Wendt
FR 2000, FR 2000, 1199) - das 55. Lebensjahr vollendet.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2
Nr. 1 FGO) zuzulassen.
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