Urteil des FG Köln vom 08.09.2010

FG Köln (vollziehung, aussetzung, aufhebung, verfügung, grundsatz der prozessökonomie, zweifel, mit an sicherheit grenzender wahrscheinlichkeit, interesse, antrag, begründung)

Finanzgericht Köln, 13 K 960/08
Datum:
08.09.2010
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 K 960/08
Rechtskraft:
I R 91/10
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Verfügungen vom 24. November 2005 und
vom 10. Mai 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.
Februar 2008 sowie die Verfügung vom 30. Juni 2009 über die
Aussetzung der Vollziehung von Körperschaftsteuer, Zinsen und
Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer 2000 in wechselnder Höhe
rechtswidrig waren.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des
Koste-nerstattungsanspruchs der Klägerin vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren über die Rechtmäßigkeit der
Aufhebung/Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides ohne Antrag bzw.
später gegen den ausdrücklichen Wunsch der Klägerin.
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Die Klägerin war im Streitjahr ein unter dem Namen H GmbH agierendes Unternehmen
im ...bereich. Der Name der Klägerin wurde später in G GmbH und im November 2009 in
den heutigen Namen der Klägerin geändert.
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Die Klägerin wurde zunächst auf der Basis der Körperschaftsteuererklärung unter dem
26. März 2002 für das Streitjahr 2000 im Wesentlichen erklärungsgemäß unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung veranlagt.
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Von 2002 bis 2004 fand bei ihr eine Außenprüfung des Finanzamtes für Groß- und
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Konzernbetriebsprüfung E - im Folgenden: Bp - statt, die zunächst mit dem
Prüfungsbericht vom 29. Oktober 2004 sowie einem Teilbericht des Bundesamtes für
Finanzen vom 14. Oktober 2004 endete. Auf der Basis dieser Prüfungsberichte erließ
der Beklagte unter dem 14. Dezember 2004 einen geänderten Bescheid über
Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Feststellungen gemäß § 47 Abs. 2 des
Körperschaftsteuergesetzes - KStG - 2000, mit dem die Körperschaftsteuer auf ... Mio. €,
die Zinsen gem. § 233a der Abgabenordnung - AO - auf ... Mio € und der
Solidaritätszuschlag auf ... Mio. € festgesetzt wurden. Insgesamt ergab sich eine
Nachzahlung in Höhe von ... Mio. €. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid vom
14. Dezember 2004 genommen.
Dagegen wendete sich die Klägerin mit fristgerecht erhobenem Einspruch. Mit ihm
wandte sie sich gegen verschiedene Prüfungsfeststellungen bezüglich der
Abschreibung von Lizenzen, Aktivierungsfragen, Fragen der Bildung von
Rechnungsabgrenzungsposten - RAP - sowie außensteuerlicher und europarechtlicher
Fragestellungen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Einspruchsschreiben und die
Einspruchsbegründung vom 8. April 2005 verwiesen. Die festgesetzten Steuern und
Nebenleistungen wurden fristgerecht an den Beklagten gezahlt.
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Bereits im August 2005 bekundete die Bp gegenüber dem Beklagten, dass dem
Einspruch der Klägerin bezüglich der RAP im Umfang von ca. ... Mio. DM im Streitjahr
(Bemessungsgrundlage) stattgegeben werden könne (dies setzte allerdings eine
erhebliche Verböserung in 1999 voraus).
7
Ohne Antrag der Klägerin verfügte der Beklagte - nach entsprechender Weisung des
Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen vom 26. September 2005 - unter dem 24.
Oktober 2005 die Aufhebung der Vollziehung auf den Tag der Fälligkeit (17. Januar
2005) hinsichtlich der gesamten Nachforderungsbeträge von ... Mio. € (Blatt 28 d. A.).
Die Verfügung enthielt keine Begründung und keine Rechtsbehelfsbelehrung.
Vordruckmäßig wurde auf die eventuelle Verzinsung nach § 237 AO hingewiesen.
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Der Weisung des Ministeriums lagen mehrere Berichte und Vermerke der
Oberfinanzdirektion B zu Grunde, mit denen unter Berücksichtigung korrespondierender
Besteuerung bei der Klägerin und ihrer Muttergesellschaft Berechnungsmodelle für die
denkbaren unterschiedlichen Abschlüsse der Rechtsbehelfsverfahren erstellt worden
waren. Anhaltspunkte für eine allein auf die Klägerin orientierte Ermessensausübung
bezüglich der Aufhebung der Vollziehung des hier streitbefangenen
Körperschaftsteuerbescheides sind diesen Unterlagen nicht zu entnehmen.
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Aufgrund der Aufhebungsverfügung wurden die zuvor von der Klägerin gezahlten
Steuern und steuerliche Nebenleistungen am 28. Oktober 2005 durch den Beklagten
erstattet.
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In der Folgezeit fanden Erörterungen zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits sowie
der Betriebsprüfung und der Oberfinanzdirektion statt. Diese führten dazu, dass unter
dem 24. November 2005 eine Aussetzungsverfügung über die streitigen Beträge von
... Mio. € Körperschaftsteuer, ... Mio. € Zinsen zur Körperschaftsteuer und ... Mio. €
Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer (in der Summe ... Mio. €) erging. Die
Aussetzung der Vollziehung - AdV - erfolgte ab dem 28. Oktober 2005.
11
Die Begründung der Aussetzungsverfügung beginnt mit dem Hinweis, dass die
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Aufhebung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 2 Satz 1 AO keinen Antrag voraussetze.
Sie könne vielmehr auch von Amts wegen erfolgen. Weitere Voraussetzungen seien im
Gesetz hierzu nicht genannt. Die sonst gültigen Voraussetzungen (ernstliche Zweifel,
unbillige Härte ...) beträfen nur die AdV auf Antrag (§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO). Weiterhin
sei anerkannt, dass die Finanzverwaltung auch haushaltsmäßige Erwägungen
berücksichtigen könne.
Zur weiteren Begründung verwies der Beklagte auf die Einwendungen der Klägerin
gegen die bilanzsteuerlichen Wertungen der Bp. Sowohl hinsichtlich der Frage der
Abschreibungen als auch hinsichtlich der Aktivierungsfragen und der RAP habe die
Klägerin stichhaltige Argumente vorgetragen, welche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
von dem Beklagten vertretenen Auffassung zur Folge hätten. Die Anwendung des § 28
Abs. 4 des Körperschaftsteuergesetzes - KStG - a.F. berücksichtigte der Beklagte mit
ausführlicher Begründung unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs -
BFH - vom 17. Dezember 2003 I B 182/02, Sammlung der Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2004, 748 nicht. Zur Höhe des Aussetzungsbetrages wird
in der Begründung ausgeführt: " ..., sind nur noch die Beträge von der Vollziehung
ausgesetzt, die sich auf die im Einspruchsverfahren strittigen Punkte beziehen."
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Der zwischenzeitlich erstattete Teilbetrag in Höhe von ... Mio. € wurde mit Fristsetzung
zum 28. Dezember 2005 vom Beklagten angefordert und von der Klägerin entrichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Aussetzungsverfügung, die ebenfalls
keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, Bezug genommen (Blatt 29 bis 34 d. A.).
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Gegen die Verfügung vom 24. November 2005 wandte sich die Klägerin mit Einspruch
vom 30. Dezember 2005. Zur Begründung führte die Klägerin aus, dass § 361 AO eine
Schutzvorschrift für die Steuerpflichtigen sei. Daher sei der gesetzliche
Ermessensspielraum im Interesse des Steuerpflichtigen auszuschöpfen. Dies sei
vorliegend nicht geschehen, da die Aufhebung der Vollziehung gerade nicht im
Interesse der Klägerin gewesen sei, was sich bereits aus der fristgerechten Zahlung der
Steuern ergebe. Der Beklagte habe die Aufhebung der Vollziehung nicht verfügt, um die
Klägerin vor einem gegebenenfalls ungerechtfertigten Steuerzugriff zu bewahren,
sondern um der Klägerin den steuerlichen Nachteil der gesetzlichen Verzinsungspflicht
mit deutlich über dem Marktzins liegenden Zinsniveau, verbunden mit der
Nichtabzugsfähigkeit der Zinsen, aufzubürden. Damit liege ein Ermessensfehlgebrauch
vor, weil die Aufhebung der Vollziehung nur der Verfolgung haushaltsmäßiger
Erwägungen diene und damit genau das Gegenteil dessen bewirke, was der
Gesetzgeber bezweckt habe.
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Hinsichtlich der Anwendung von § 28 Abs. 4 Körperschaftsteuergesetz a.F. verwies die
Klägerin auf die Selbstbindung der Finanzverwaltung durch Abschnitt 78 Abs. 5 Satz 3
Körperschaftsteuerrichtlinien – KStR - 1995 und ein entsprechendes
Bundesfinanzministerium - BMF - Schreiben. Zum anderen wäre auch bei unterstellter
Nichtanwendung der Verwendungsfestschreibung und Ausstellung einer geänderten
Steuerbescheinigung durch die Klägerin wegen des zum 30. Juni 2002 vollzogenen
Rechtsformwechsels des Anteilseigners von einer AG in eine KG und des im Zuge
dessen untergehenden Körperschaftsteuerverlustvortrages gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 des
Umwandlungssteuergesetzes - UmwStG - wegen ausreichender
Verlustverrechnungsmöglichkeiten keine materielle Änderung zu erwarten.
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In der Folgezeit verhandelte die Klägerin wegen der streitigen Sachverhalts- und
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Rechtsfragen im Wesentlichen mit dem Betriebsprüfungsfinanzamt. Dabei kam es zu
einer Einigung dahingehend, dass die Klägerin die Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG
a.F. bei einem für sie erfolgreichen Einspruch akzeptieren würde, wenn sie insoweit
nicht mit Aussetzungszinsen belastet werde (vgl. Schreiben der Bp vom 19. Januar
2007 und Schreiben der Klägerin vom 24. Januar 2007 jeweils an den Beklagten).
Weiterhin ergab die Entwicklung des Rechtsbehelfsverfahrens, dass sich die
Streitpunkte auf einen Betrag von ... Mio. € Körperschaftsteuer sowie ... Mio. €
Solidaritätszuschlag reduzierten (vgl. Schreiben der Bp vom 19. Januar 2007).
Nachdem das Landesfinanzministerium eine Erledigung des Rechtsbehelfsverfahrens
unter Verzicht auf die Aussetzungszinsen abgelehnt hatte, reduzierte der Beklagte unter
dem 10. Mai 2007 die Aussetzungsbeträge entsprechend den Berechnungen der Bp
unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Teileinigung der Beteiligten auf ... Mio. €
Körperschaftsteuer, ... Mio. € Zinsen zur Körperschaftsteuer und ... Mio. €
Solidaritätszuschlag. Der Beklagte wies darauf hin, dass der Einspruch gegen die
zwangsweise Aussetzung der Vollziehung dadurch nicht entschieden sei. Eine
vollständige Aufhebung der Aussetzung der Vollziehung komme nicht in Betracht, weil
bei summarischer Prüfung noch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung
bestünden. Die Klägerin habe dargelegt, dass sie im Falle des Obsiegens im
Rechtsbehelfsverfahren eine Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG nicht bedingungslos
akzeptieren werde (Blatt 35/36 d. A.).
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Das Rechtsbehelfsverfahren gegen die Steuerfestsetzungen dauert an. Der Stand des
Verfahrens im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung des Beklagten lässt sich aus dem
Schriftsatz des Beklagten vom 7. Februar 2008 und der erneut geänderten
Aussetzungsverfügung vom 30. Juni 2009 ersehen.
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Der Einspruch gegen die Aufhebung/Aussetzung der Vollziehung des
Körperschaftsteuerbescheides 2000 wurde mit Einspruchsentscheidung vom 19.
Februar 2008 als unbegründet zurückgewiesen. Der Beklagte ließ offen, ob der
Einspruch zulässig sei. Unter Berücksichtigung der begünstigenden Wirkung einer AdV
stelle sich zumindest die Frage, ob die Klägerin beschwert im Sinne des § 350 AO sei.
Zumindest sei der Einspruch aber unbegründet. Es bestünden erhebliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerfestsetzungen. Insoweit wiederholt der
Beklagte die Ausführungen aus der Aussetzungsverfügung zur Anwendung des § 28
Abs. 4 KStG a.F. und nimmt im Übrigen auf die Einspruchsbegründung der Klägerin
vom 8. April 2005 Bezug.
20
Unter Bezugnahme auf die einschlägigen Vorschriften (§§ 5, 361 AO) vertritt der
Beklagte die Auffassung, dass es grundsätzlich auch möglich sei, gegen die
wirtschaftlichen Interessen eines Steuerpflichtigen AdV zu gewähren. Nach dem
Konzept des Gesetzes sei bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Steuerbescheide das Ermessen der Finanzverwaltung dahingehend
reduziert, dass grundsätzlich AdV zu gewähren sei. Zwar sei im Streitfall durch die
Zahlung der Steuern das gegenteilige Interesse der Klägerin deutlich geworden, der
Beklagte erachte es aber als ermessensgerecht im Hinblick auf die offenkundig
vorhandenen ernstlichen Zweifel der AdV Vorrang vor dem entgegenstehenden
Zahlungsinteresse der Klägerin einzuräumen. Es sei nicht in § 361 AO bestimmt, dass
die Finanzbehörde eine dahingehende Güterabwägung mit stets zwingendem Ergebnis
je nach bestehendem Zahlungsinteresse vorzunehmen habe, noch entspreche es dem
Sinn und Zweck des § 361 AO dem Rechtsbehelfsführer gerade durch Nichtgewährung
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vorläufigen Rechtsschutzes wirtschaftliche Zinsvorteile zu Lasten der öffentlichen Hand
einzuräumen. Im Weiteren vertritt der Beklagte die Auffassung, dass die Entscheidung
über die AdV nicht von dem aktuellen Marktzinsniveau abhängen könne. Soweit die
Klägerin einen Ermessensfehlgebrauch wegen vorrangiger Verfolgung
haushaltsrechtlicher Erwägungen unterstelle, sei dem entgegenzuhalten, dass der Staat
jedenfalls auch die Möglichkeit und Verpflichtung habe, im Rahmen seiner
Entscheidungen budgetäre Risikovorsorge zu betreiben und dabei unter Wahrung
rechtsstaatlicher Bedingungen fiskalische Interessen berücksichtigen dürfe. Der
exekutiven Steuerverwaltung könne insoweit für die Dauer von Rechtsbehelfsverfahren
nicht abverlangt werden, zu Lasten der freien Kreditwirtschaft als öffentliche
Kreditinstitute zu fungieren. Die allein auf ihre wirtschaftlichen Interessen abzielenden
Argumente der Klägerin könnten den Beklagten unter Berücksichtigung des
Gleichheitsgedankens nicht veranlassen, sein Ermessen bei der Anwendung des § 361
AO abweichend auszuüben. Die öffentlichen Interessen stünden der Interessenlage der
Klägerin zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar vorrangig entgegen. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung (Blatt 22 bis 27 d. A.) verwiesen.
Dagegen wandte sich die Klägerin zunächst mit der Anfechtungsklage, mit der sie die
Aufhebung der Verfügung(en) über die Aussetzung der Vollziehung in Gestalt der
Einspruchsentscheidung begehrte.
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Im Hinblick auf weitere Teileinigungen im Rahmen des Einspruchsverfahrens hat der
Beklagte unter dem 30. Juni 2009 eine erneut geänderte Verfügung über die
Aussetzung der Vollziehung erlassen. Danach waren ... Mio. € Körperschaftsteuer, ...
Mio. € Zinsen zur Körperschaftsteuer und ... Mio. € Solidaritätszuschlag zu
Körperschaftsteuer 2000 von der Vollziehung ausgesetzt.
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Nach Ladung zum Termin der mündlichen Verhandlung im Juni 2010 teilte der Beklagte
unter dem 30. August 2010 mit, dass die Zuständigkeit für die Klägerin auf das
Finanzamt E übergegangen sei. Für das Klageverfahren wurde eine geänderte
Steuernummer des Beklagten vergeben. Am Tag vor der mündlichen Verhandlung
beendete der Beklagte - auf Anweisung des Landesfinanzministeriums - die am 24.
November 2005 angeordnete und mit Verfügungen vom 10. Mai 2007 und 30. Juni 2009
reduzierte Aussetzung der Vollziehung mit Wirkung zum 7. September 2010. Die
Klägerin wurde aufgefordert die bisher ausgesetzten Steuerbeträge bis spätestens 11.
Oktober 2010 zu entrichten.
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Mit der Übersendung der Kopie der Aufhebungsverfügung erklärte der Beklagte
gegenüber dem Gericht den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Er beantragte,
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen. Die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 FGO
seien im Streitfall nicht erfüllt. Im Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung
hätten ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Körperschaftsteuerbescheides bestanden, so dass die Aufhebung der Vollziehung
rechtmäßig gewesen sei. Insbesondere durch die Rechtsentwicklung zur Frage der
Europarechtswidrigkeit des § 28 Abs. 4 KStG a.F. seien diese ernstlichen Zweifel
aktuell nicht mehr gegeben, so dass die Aufhebung der Vollziehung in die
Rechtswidrigkeit "hineingewachsen" sei.
25
Das zwischenzeitlich zuständig gewordene Finanzamt E hat dem Erlass der
Aufhebungsverfügung und der Fortführung des Verfahrens durch den Beklagten noch
während der mündlichen Verhandlung fernmündlich zugestimmt. Die schriftliche
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Bestätigung ist vor Entscheidung in der Sache beim Finanzgericht eingegangen.
Unter Bezugnahme auf die geänderte prozessuale Lage begehrt die Klägerin seither im
Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage die Feststellung, dass die angefochtenen
Verfügungen über die Aufhebung und Aussetzung der Vollziehung rechtswidrig
gewesen seien.
27
Zur Begründung trägt sie weiterhin unter Bezugnahme auf den im Wesentlichen
unstreitigen oben dargestellten Sachverhalt vor, dass zwischen den Beteiligten
ursprünglich maximal der Betrag von ... Mio. € streitig gewesen sei, später
gegebenenfalls der vom Beklagten mit der Verfügung vom 10. Mai 2007 ausgesetzte
Betrag.
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Von diesen Beträgen ausgehend könne sich ein Schaden aus der aufgezwungenen
Aussetzung der Vollziehung ergeben. Insoweit verweist sie zunächst darauf, dass sie
sich zu einem Zinssatz zwischen 2,091% und 4,3031% am Markt refinanziert habe.
Diese Zinsen seien abzugsfähig, so dass sich die reale Belastung auf 1,262% bis
2,991% reduziere. Dem stehe die gesetzliche Verzinsung in Höhe von 6% gegenüber.
In Anbetracht der fehlenden steuerlichen Abzugsfähigkeit dieser Zinsen ergebe sich
daher eine Zinsdifferenz zwischen 4,738% und 3,009% für den maßgeblichen Zeitraum.
Diese Zinsdifferenz entspreche dem der Klägerin im Falle des Unterliegens drohenden
Schaden.
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Nach Überzeugung der Klägerin hat die verfügte AdV zu einer Rechtsverletzung geführt,
da sie sich nicht in einer begünstigenden Rechtsfolge erschöpfe, sondern infolge der
Tatbestandswirkung im Rahmen des § 237 Abs. 1 AO auch nachteilige
Rechtswirkungen für die Verzinsungspflicht zur Folge habe. Im Falle des Unterliegens
der Klägerin in der Hauptsache seien grundsätzlich ohne jegliches Ermessen des
Beklagten Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO festzusetzen, wenn es nicht zu einem
Erlass der Zinsen gemäß § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO komme.
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Es sei zu beachten, dass auch begünstigende Verwaltungsakte eine anfechtbare
Rechtsverletzung enthielten, wenn der aus dem Verwaltungsakt resultierende konkrete
Vorteil später in einen größeren Nachteil umschlagen könne. Auch diese
Voraussetzung sei im Hinblick auf die Tatbestandswirkung der AdV gegeben, da ihr
eine adäquate Anlage der liquiden Mittel zu annähernd gleichen Zinskonditionen nicht
möglich sei.
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Nach Überzeugung der Klägerin besteht auch unter Berücksichtigung der Entscheidung
des BFH vom 26. September 2007 I R 43/06, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2008, 134
ein Rechtsschutzinteresse, da Ihr mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit der
Aussetzung der Vollziehung von Amts wegen die Durchsetzung eines Anspruchs auf
Erlass der Aussetzungszinsen eröffnet werde.
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Die Klage sei auch begründet, da der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen
fehlerhaft ausgeübt habe. Die Verfügung vom 25. Oktober 2005 enthalte keinerlei
Begründung. Sie sei über die Höhe des gesamten Nachzahlungsbetrages erfolgt,
obwohl insoweit in weiten Teilen kein Streit bestanden habe. Letztlich sei sie
rückwirkend auf den Zeitpunkt der Fälligkeit (17. Januar 2005) angeordnet worden.
Diese Aspekte deuteten darauf hin, dass zum 24. Oktober 2005 von dem eingeräumten
Ermessen kein Gebrauch gemacht worden sei, also ein Ermessensausfall vorliege. Ein
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Teil der dargestellten Fehler sei zwar in der Verfügung vom 24. November 2005
korrigiert worden. Gleichwohl bestehe bei einer Gesamtschau der in dieser Verfügung
vorgetragenen Argumente der Verdacht, dass es dem Beklagten ausschließlich darum
gegangen sei, das aus § 237 AO folgende Zinsrisiko während der Dauer des
Rechtsbehelfsverfahrens - gegen ihren Willen - auf sie abzuwälzen.
Die Ermessensmängel der Verfügungen aus dem Jahr 2005 würden durch die
Aussetzungsverfügung vom 10. Mai 2007 nicht beseitigt. Die nachgeholte Begründung
verdecke lediglich die tatsächlichen Erwägungen für die Gewährung der Aufhebung der
Vollziehung. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der Beklagte entgegen der bei der
AdV im November 2005 geäußerten Rechtsauffassung nunmehr auf die ernstlichen
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Körperschaftsteuerbescheides abstelle. Das
Abstellen auf § 28 Abs. 4 KStG a.F. sei im Übrigen zur Begründung ungeeignet, da sie
unter der Bedingung des Zinsverzichts angekündigt habe, die Rechtsfolge des § 28
Abs. 4 KStG a.F. zu akzeptieren. Unter Bezugnahme auf ein Schreiben der
Betriebsprüfung vom 19. Januar 2007 (Blatt 99/100 d. A.) verweist die Klägerin insoweit
nochmals darauf, dass bei Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG a.F. selbst bei Obsiegen
nur eine marginale Steuererstattung in Betracht komme (wegen der Einzelheiten
insoweit wird auch auf die Schreiben vom 27. Januar und 25. September 2009, Blatt 114
bis 117 und 127/128 d. A.). Die Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG a.F. entspreche dem
Gesetz und den KStR.
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Der Beklagte habe weiterhin die systematischen Wertungen des § 361 AO verkannt, der
nach ganz herrschender Meinung der Durchbrechung des Grundsatzes der generellen
sofortigen Vollziehbarkeit nicht bestandskräftiger öffentlicher Geldverwaltungsakte zum
besonderen Schutz des Steuerpflichtigen diene. Dieser Konzeption des Gesetzes
entspreche auch die Regelung in § 10 Nr. 2 letzter Halbsatz KStG, wonach die
Aussetzungszinsen nicht von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen
werden können.
35
Das Abstellen des Beklagten auf eine budgetäre Risikovorsorge oder fiskalische
Interessen liege außerhalb des gesetzgeberischen Zweckes des § 361 Abs. 2 AO. Die
gegenteilige, verwaltungsnahe Literatur basiere auf der Verkennung der einschlägigen
Literatur zur Aussetzung der Vollziehung bei verfassungswidrigen Steuergesetzen.
36
Es stelle auch ein widersprüchliches Verhalten dar, wenn der Beklagte ihr die AdV
aufdränge, andererseits aber im Hauptsacheverfahren zu dem Ergebnis gelange, dass
der Körperschaftsteuerbescheid rechtmäßig sei. Ein solches Auseinanderklaffen der
Entscheidungen im vorläufigen und endgültigen Rechtsschutz sei nur zulässig, wenn
die Gewährung der AdV dem potentiellen Willen des Steuerpflichtigen entspreche oder
sogar von ihm ausgehe (Antrag). Ansonsten zwinge der Grundsatz rechtmäßigen
Verwaltungshandelns die Finanzbehörden zur Einheitlichkeit der Beurteilung im
vorläufigen und endgültigen Rechtsschutz.
37
Bei der Entscheidung sei auch die fehlende Symmetrie in der steuerlichen Behandlung
von Erstattungs- und Aussetzungszinsen zu berücksichtigen. Diese Asymmetrie enge
das Ermessen der Finanzverwaltung ein.
38
Der Rekurs des Beklagten auf Art. 3 des Grundgesetzes - GG - vermöge nicht zu
überzeugen. Die aufgezwungene Aufhebung der Vollziehung sei vielmehr der absolute
Ausnahmefall.
39
Letztlich weist die Klägerin darauf hin, dass eine Lösung des vorliegenden Verfahrens
auch in einem teilweisen Zinsverzicht liegen könne. Aus ihrer Sicht ist es vorstellbar
über eine Zinsfestsetzung die von ihr zwischenzeitlich generierten Netto-Zinserträge
beziehungsweise die ersparten Finanzierungsaufwendungen abzuschöpfen. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf die Klagebegründungsschrift vom 9. Juni 2008
verwiesen.
40
Die sich aus der kurzfristigen Veränderung der Bescheidlage ergebenden Rechtsfragen
wurden im Rahmen der mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten erörtert. Wegen
der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, die
Aufhebungsverfügung und das Erledigungsschreiben vom 7. September 2010 sowie die
Zustimmung des Finanzamtes E vom 8. September 2010 Bezug genommen.
41
Die Klägerin beantragt,
42
die Rechtswidrigkeit der Verfügung von 24. Oktober 2005 über die Aufhebung der
Vollziehung sowie der Verfügungen vom 24. November 2005, 10. Mai 2007 über
die Aussetzung der Vollziehung von Körperschaftsteuer, Zinsen zur
Körperschaftsteuer sowie Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer 2000 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2008 und der
Aussetzungsverfügung vom 30. Juni 2009 festzustellen.
43
Der Beklagte beantragt,
44
die Klage abzuweisen.
45
Im Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung hätten ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheides bestanden. Die
Aufhebung der Vollziehung sei daher rechtmäßig gewesen. Zur Begründung verweist er
insoweit auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend führt er aus, dass der Bezug auf
§ 28 Abs. 4 KStG a.F. in den Aussetzungsverfügungen sehr wohl sachlich begründet
gewesen sei. Daneben hätten die weiteren bilanzsteuerrechtlichen Zweifelsfragen
bestanden. Erst mit der Folgeentscheidung zu dem Verfahren Burda des Europäischen
Gerichtshofs durch den BFH sei die Klärung erfolgt, dass die Ausstellung einer
Steuerbescheinigung die Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG ggfls. zwingend zur Folge
habe. Erst dadurch sei die Aussetzung der Vollziehung rechtswidrig geworden.
46
Er vertritt weiterhin die Auffassung, dass etwaige Ermessensfehler und -mängel der
ursprünglichen Aussetzungs- und Aufhebungsverfügungen durch eine rechtmäßige
Ermessensausübung im Rahmen der Einspruchsentscheidung irrelevant würden.
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Er habe auch nicht gegen die Wertentscheidungen des Gesetzgebers verstoßen. Auch
bestehe keine Verpflichtung bei Gewährung der AdV von Amts wegen einen
Abhilfebescheid zu erlassen.
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Ferner sei die Klägerin nicht durch die Aussetzungsverfügung unmittelbar beschwert. Es
gehe letztlich nur um die Frage des Zinsrisikos, was aber nicht zum eigentlichen
Regelungsinhalt der Aussetzungsverfügung gehöre.
49
Wegen des weiteren Vorbringens nach Erlass der Aufhebungsverfügung vom 7.
50
September 2010 wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, die
Aufhebungsverfügung und das Erledigungsschreiben vom 7. September 2010 Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
51
Hinsichtlich des Antrages auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der zwischenzeitlich
aufgehobenen Aufhebungsverfügung vom 24. Oktober 2005 ist die Klage unzulässig (I.).
Die weitere Klage hinsichtlich des Antrages auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der
Verfügungen vom 24. November 2005 und allen nachfolgenden Verfügungen über
Aufhebung und Aussetzung der Vollziehung ist zulässig und begründet (II.).
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Nach Aufhebung der Aussetzung der Vollziehung mit Wirkung auf den Tag vor der
mündlichen Verhandlung ist im vorliegenden Verfahren - entsprechend den geänderten
Anträgen der Beteiligten - gemäß § 100 Abs. 1 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO
- nur noch im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage über die Rechtmäßigkeit der
zwischenzeitlich gemäß § 124 AO erledigten Aufhebungsverfügung vom 24. Oktober
2005 und der (ebenfalls erledigten) Aufhebungs-/ Aussetzungsverfügungen vom 24.
November 2005 mit allen späteren Korrekturen zu entscheiden.
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Nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO kann das Gericht, wenn sich ein mit der Klage
angefochtener Verwaltungsakt im Verlaufe des Klageverfahrens erledigt hat, auf Antrag
des Klägers durch Urteil aussprechen dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen
ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Die
Erledigung darf auch schon vor Einleitung des außergerichtlichen
Rechtsbehelfsverfahrens und vor Klagerhebung eingetreten sein (vgl. Tipke in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, - AO/FGO -, § 100 FGO Rdnr.
52 mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH -).
54
Weitere Voraussetzung der zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage ist, dass die für
die Anfechtungsklage im Gesetz vorgeschriebenen Prozess- (Sachurteils-)
voraussetzungen zumindest bis zum Eintritt des die Hauptsache erledigenden
Ereignisses erfüllt waren (vgl. BFH-Urteil vom 17. Juli 1985 I R 20014/82, BFHE 144,
333, BStBl II 1986, 21; Tipke a.a.O., § 100 FGO Rdnr. 51; Lange in Hübschmann/ Hepp/
Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, - AO/FGO -, § 100 FGO Rdnr. 171
m.w.N.).
55
Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein berechtigtes Interesse i. S. d. § 100 Abs. 1
Satz 4 FGO jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende Interesse rechtlicher,
tatsächlicher oder wirtschaftlicher Art (BFH-Urteile vom 10. Februar 2010 XI R 3/09,
BFH/NV 2010, 1450 mit Anm. von Steinhauff in juris Praxisreport; vom 26. September
2007 I R 43/06, BStBl II 2008, 134; vom 9. November 1994 XI R 33/93, BFH/NV 1995,
621; Lange in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 100 FGO Rdnr. 172, 176
m.w.N.; Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 100 FGO Rdnr. 54 m.w.N.). Dieses kann sich
zum einen daraus ergeben, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit die
Voraussetzung für den Eintritt einer vom Kläger erstrebten weiteren Rechtsfolge ist
(BFH-Urteil vom 12. Januar 1995 IV R 83/92, BFHE 177, 4, BStBl II 1995, 488; Lange
a.a.O., § 100 FGO Rdnr. 172 m.w.N.). Zum anderen kann es daraus abzuleiten sein,
dass ein konkreter Anlass für die Annahme besteht, das Finanzamt werde die vom
Kläger für rechtswidrig erachtete Maßnahme in absehbarer Zukunft wiederholen (BFH-
Urteile vom 29. April 1980 VII K 5/77, BFHE 130, 568, BStBl II 1980, 593; vom 28. Juni
56
2000 X R 24/95, BFHE 192, 32, 40, BStBl II 2000, 514, 518; vom 20. April 2004 VIII R
88/00, BFH/NV 2004, 1103; Lange a.a.O., § 100 FGO Rdnr. 173 m.w.N.). Schließlich
kann es unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitierung (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994
VII R 14/94, BFHE 176, 201, BStBl II 1995, 210) sowie deshalb bestehen, weil die
begehrte Feststellung voraussichtlich in einem beabsichtigten und nicht völlig
aussichtslosen Schadensersatzprozess erheblich sein wird (vgl. dazu BFH-Urteil vom
18. Mai 1976 VII R 108/73, BFHE 119, 26, BStBl II 1976, 566; BFH-Beschluss vom 15.
Mai 2002 I B 8/02, I S 13/01, BFH/NV 2002, 1317; Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 100
FGO Rdnr. 57 m.w.N.).
Auch hat der BFH die Fortsetzungsfeststellungsklage gegen
Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide für zulässig angesehen, wenn sich die
Vorauszahlungsbescheide durch Erlass des Jahressteuerbescheides erledigten, die
Vorauszahlungsbescheide aber von der Vollziehung ausgesetzt waren und die
jeweiligen Steuerpflichtigen besorgen mussten, auf Aussetzungszinsen in Anspruch
genommen zu werden (vgl. BFH-Urteile vom 29. November 1984 V R 146/83, BFHE
143, 101, BStBl II 1985, 370 und vom 21. Juni 1990 V R 97/84, BFHE 161, 196, BStBl II
1990, 804).
57
I. Dies führt für den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verfügung über die
Aufhebung der Vollziehung vom 24. Oktober 2005 zur Unzulässigkeit der
Fortsetzungsfeststellungsklage, da kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der
Rechtswidrigkeit dieser Verfügung festgestellt werden kann (1.) und außerdem die
gegen diese Verfügung gerichtete Anfechtungsklage unzulässig war (2.).
58
1. Im hier zu entscheidenden Fall liegt nach Überzeugung des erkennenden Senates
und entgegen der Auffassung der Klägerin keiner der vorgenannten Fälle, die
typischerweise die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage begründen
können, vor.
59
Es ist zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits nicht umstritten, dass die Festsetzung
von Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO nicht davon abhängt, ob die Aufhebung oder
Aussetzung der Vollziehung zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist (vgl. z. B. BFH-Urteil
vom 18. Juli 1994 X R 33/91, BFHE 175, 294, BStBl II 1995, 4) . Aussetzungszinsen
fallen deshalb auch dann an, wenn der Beklagte (das Finanzministerium) die
rechtlichen Voraussetzungen für die Aufhebung oder Aussetzung der Vollziehung
unzutreffend beurteilt hat. Die Tatbestandswirkung der entsprechenden Verfügungen
kann durch die Feststellung, dass die Verfügungen rechtswidrig gewesen seien, nicht
beseitigt werden. Insoweit unterscheiden sich die Verfahren bzgl. der erledigten
Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide von der hier streitbefangenen isolierten
Anfechtung der Aussetzungsverfügungen.
60
Auch eine konkrete Wiederholungsgefahr kann im vorliegenden Verfahren nicht
festgestellt werden. Die Vertreter des Beklagten und des Finanzministeriums haben in
der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Senats bekundet, dass nach
Aufhebung der hier angegriffenen Verfügungen keinerlei Aussetzungsverfügungen im
Rechtsbehelfsverfahren hinsichtlich der zwischen den Beteiligten streitbefangenen
Besteuerungsgrundlagen bezüglich der Körperschaftsteuer 2000 mehr erlassen würden.
Ein Rehabilitierungsinteresse ist weder behauptet noch ersichtlich.
61
Auch aus sonstigen Gründen (vgl. wegen weiterer Einzelfälle der Rechtsprechung
62
Steinhauff a.a.O.) ergibt sich kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Verfügung vom 24. Oktober 2005.
Von der Verfügung vom 24. Oktober 2005 über die Aufhebung der Vollziehung des
streitbefangenen Körperschaftsteuerbescheides und der Bescheide über die
Nebenleistungen gehen keinerlei Rechtswirkungen - insbesondere wegen möglicher
Zinsen oder Säumniszuschläge - aus, die die Klägerin belasten könnten.
63
Die Aufhebung der Vollziehung erfolgte am 24. Oktober 2005, die Erstattung der zuvor
von der Klägerin geleisteten Beträge am 28. Oktober 2005. Bereits am 24. November
2005 wurde die Aufhebungsverfügung über ca. ... Mio. € durch die Verfügung über die
(Aufhebung) Aussetzung der Verfügung über ca. ... Mio. € ab dem 28. Oktober 2005
ersetzt. Eine eventuelle Verzinsung der ca. ... Mio. € ab dem 28. Oktober 2005 beruht auf
der gesondert angefochtenen Verfügung vom 24. November 2005.
64
Für die überschießenden ca. ... Mio. € kann sich keine Zinsauswirkung gegeben. Nach
§ 237 Abs. 1 S. 1 AO werden Aussetzungszinsen nur für die geschuldeten Beträge,
hinsichtlich deren die Vollziehung ausgesetzt wurde, festgesetzt. Die Klägerin schuldete
aber von der Fälligkeit am 17. Januar 2005 bis zum 28. Oktober 2005 keine Beträge, da
sie die Steuern fristgerecht gezahlt hatte. Auch für den Zeitraum von der Erstattung am
28. Oktober 2005 bis zur Ersetzung der Aufhebungsverfügung durch die
Aussetzungsverfügung vom 24. November 2005 (Zinslaufende im Sinne des § 237 Abs.
2 Satz 1 AO; vgl. dazu im BFH-Beschluss vom 29. Mai 2007 VIII B 205/06, BFH/NV
2007, 1634 m. w. N.) können keine Aussetzungszinsen festgesetzt werden, da nach
§ 238 Abs. 1 S. 2 AO Aussetzungszinsen nur für volle Monate festzusetzen sind. Der
Zeitraum vom 28. Oktober bis 24. November 2005 umfasst aber keinen ganzen Monat.
65
Auch die Festsetzung von Säumniszuschlägen ist nicht zu befürchten, da die
Tatbestandswirkung der später ersetzten Aussetzungsverfügung vom 24. Oktober 2005
dazu führt, dass Säumniszuschläge - soweit man überhaupt von einer Entstehung
ausgeht - jedenfalls nicht erhoben werden dürfen (vgl. zur Tatbestandswirkung von
später aufgehobenen Aussetzungsbeschlüssen BFH-Urteil vom 14. September 1978 V
R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58; BFH-Beschluss vom 23. November 1994 V B
166/93, BFH/NV 1995, 662).
66
2. Letztlich ist die Fortsetzungsfeststellungsklage hinsichtlich der Verfügung vom 24.
Oktober 2005 auch deshalb unzulässig, weil die ursprünglich erhobene
Anfechtungsklage hinsichtlich dieser Verfügung als unzulässig abzuweisen gewesen
wäre. Es fehlt insoweit an der Durchführung des nach § 44 Abs. 1 FGO erforderlichen
Vorverfahrens.
67
Die Klägerin hat die Verfügung vom 24. Oktober 2005 nicht mit dem Einspruch
angefochten. Angefochten wurde erst die Verfügung vom 24. November 2005, was sich
sowohl aus der ausdrücklichen Angabe dieser Verfügung als Streitgegenstand als auch
aus der Angabe der ausgesetzten Beträge mit ca. ... Mio. € in dem Einspruchsschreiben
vom 29. Dezember 2005 ergibt. Die spätere Klageerhebung erfolgte nach Ablauf der
Rechtsbehelfsfrist und kann daher auch als Sprungklage im Sinne des § 45 FGO
(Einspruch im Sinne des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 FGO) nicht zulässig sein.
68
In Anbetracht des Fehlens der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die
Fortsetzungsfeststellungsklage kommt es nicht darauf an, dass die angefochtene
69
Aufhebungsverfügung hinsichtlich der nicht streitbefangenen Steuerbeträge von ca. ...
Mio. € offensichtlich wegen des Fehlens eines Aussetzungsgrundes, dem Fehlen
jeglicher Ermessensausübung - der Beklagte handelte auf Anweisung des
Finanzministeriums, dessen Anweisungsschreiben ebenfalls keine
Ermessensausübung erkennen lässt - und dem Fehlen jeglicher Begründung grob
rechtswidrig war.
II. Die Klage hinsichtlich des Antrages auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der
angefochtenen Verfügung vom 24. November 2005 und aller nachfolgenden
Verfügungen ist zulässig (1.) und begründet (2.).
70
1. a) Hinsichtlich des Antrages, die Rechtswidrigkeit dieser Verfügungen festzustellen,
fehlte der Klägerin nicht das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung.
Zwar liegt - wie oben bereits dargestellt - keiner der Fälle, die typischerweise die
Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage begründen können, vor, dennoch ist
ein berechtigtes Interesse im Hinblick auf die besondere Verfahrenssituation im Streitfall
gegeben. Nach Überzeugung des Senats kann sich im Hinblick auf den Grundsatz der
Prozessökonomie (vgl. dazu von Groll in Gräber, FGO, § 100 Rdnr. 60 m.w.N.) ein
berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit zwischenzeitlich
erledigter Verwaltungsakte auch daraus ergeben, dass eine rechtskräftige gerichtliche
Entscheidung zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch von Bedeutung für die Beurteilung
der streitigen Rechtsfrage im anschließenden Zinsfestsetzungsverfahren oder -
erlassverfahren (Zinsverzicht gemäß § 237 Abs. 4 i. V. m. § 234 Abs. 2 AO) ist. Der
Senat folgt insoweit der dahingehenden Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteil vom
29. Mai 1979 VI R 21/77, BFHE 128, 148, BStBl II 1979, 650, und vom 2. November
2000 X R 156/97, BFH/NV 2001, 476, unter II.2.a), die insbesondere im Verhältnis von
Lohnsteuerermäßigungsverfahren und Lohnsteuerjahresausgleich Bedeutung entfaltete
(vgl. Nachweise bei Lange a. a. O. § 100 FGO Rdnrn. 176, 177). Der BFH hat aber auch
in einem dem Streitfall vergleichbaren Verfahren bzgl. der Rechtmäßigkeit der
Verfügung einer Aussetzung der Vollziehung die Annahme eines berechtigten
Interesses i. S. d. §100 Abs. 1 Satz 4 FGO unter Bezugnahme auf die einschlägige
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für möglich gehalten (vgl. BFH vom
26. September 2007 I R 43/06, BStBl II 2008, 134 unter II. 1. e). Der erkennende Senat
geht auch davon aus, dass der Beklagte und die hinter ihm stehenden weiteren
Finanzbehörden die abschließende Entscheidung im vorliegenden Verfahren bei der
Frage des Verzichts auf Aussetzungszinsen beachten werden.
71
Einer besonderen Darlegung des Feststellungsinteresses bedurfte es im Hinblick auf
die offensichtlichen Abläufe nicht (vgl. zur ansonsten gegebenen
Substantiierungsnotwendigkeit BFH-Urteil vom 10. Februar 2010 XI R 3/09, BFH/NV
2010, 1054 unter II.2. m. w. N.). Tritt, wie im vorliegenden Verfahren, die Erledigung des
Rechtsstreits in der Hauptsache erst im Verlauf des Klageverfahrens ein - hier nach
mehrjähriger Prozessführung einen Tag vor bzw. am Tag der mündlichen Verhandlung -
entspricht es im Hinblick auf die abgeschlossene Vorbereitung der Prozessbeteiligten
und des Gerichts dem Grundsatz der Prozessökonomie - also der Konzentration auf ein
bereits eingeleitetes Verfahren - die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Maßnahmen in
dem bereits anhängigen und unmittelbar vor dem Abschluss stehenden
Gerichtsverfahren zu klären.
72
Anders als in dem von den Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung
diskutierten vergleichbaren Verfahren vor dem Finanzgericht Düsseldorf (vgl. FG
73
Düsseldorf, Urteil vom 4. April 2006 6 K 121/06 KA, Entscheidungen der Finanzgerichte
- EFG - 2006, 1225; nachfolgend BFH, BStBl II 2008, 134), ist vorliegend auch
hinreichend sicher, dass sich die Frage des Zinsverzichtes im Sinne des § 237 Abs. 4
AO i.V.m. § 234 Abs. 2 AO stellen wird. Im Verlaufe des fortgeführten
Hauptsacheverfahrens haben die Beteiligten bereits über mehrere Streitpunkte Einigkeit
erzielt. Die Klägerin hat entsprechend ihren Rechtsbehelfsantrag eingeschränkt und der
Beklagte die Aussetzungsbeträge entsprechend reduziert. Es ist daher mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Klägerin im
Einspruchsverfahren zumindest in Höhe der zwischenzeitlich unstreitig zutreffenden
Steuerfestsetzungen (Steuerauswirkung ca. ... Mio. €) schon mangels eines
entsprechenden Antrages keine Minderung der festgesetzten Körperschaftsteuer
erreichen wird.
Der Beklagte hat weiterhin durch die Aufhebung der letzten Aussetzungsverfügung vom
30. Juni 2009 mit Wirkung zum Tag vor der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht,
dass er nunmehr davon ausgeht, dass keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit
der angefochtenen Bescheide (mehr) bestehen. Er hat die ungewöhnlich kurzfristig vor
der mündlichen Verhandlung erfolgte Aufhebung der letzten Aussetzungsverfügung vom
30. Juni 2009 damit begründet, dass die zwischen den Beteiligten während des
gesamten Rechtsstreites als - die fast die gesamte Streitsumme betreffende -
maßgeblich diskutierte Frage der Anwendung des § 28 Abs. 4 KStG a. F. durch die
Entscheidung des BFH vom 26. November 2008 I R 56/05, BFHE 224, 44, BFH/NV
2009, 847 geklärt worden sei. Daher hätte aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit die
Aussetzungsverfügung ohne jedes Zögern - nachdem dies von dem Ministerium zwei
Tage vor der mündlichen Verhandlung erkannt worden sei - aufgehoben werden
müssen. Damit hat der Beklagte indirekt erklärt, dass auch aus seiner Sicht zumindest
die Aussetzungsverfügung vom 30. Juni 2009 in vollem Umfang rechtswidrig war. Bei
Erlass dieser Verfügung war die Entscheidung des BFH seit über drei Monaten
publiziert. Bei gehöriger Erkenntnis hätte daher die Aussetzungsverfügung vom 30. Juni
2009 - so das eigene Vorbringen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung - nicht
mehr ergehen dürfen, sondern vielmehr die Aussetzung beendet werden müssen. Denn
nicht nur von Steuerberatern und Rechtsanwälten, sondern auch von der
Finanzverwaltung muss erwartet werden, dass die maßgeblichen Entscheidungen des
BFH innerhalb angemessener Frist zur Kenntnis genommen werden. Dabei kann an
dieser Stelle mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen, ob nicht auch
hinsichtlich der Beendigung der Aussetzung der Vollziehung ausschließlich darauf
abzustellen ist, wann objektiv die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Bescheide entfallen sind (so zur Beseitigung der Wirkungen der
Vollziehung bei Aufhebung der Vollziehung BFH-Beschluss vom 29. September 2003 III
S 7/03, BFH/NV 2004, 183).
74
b) Die Klage hinsichtlich des Antrages auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der
angefochtenen Verfügung vom 24. November 2005 und aller nachfolgenden
Verfügungen ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die ursprünglich erhobene
Anfechtungsklage hinsichtlich dieser Verfügung als unzulässig abzuweisen gewesen
wäre. Dies ist nicht der Fall.
75
Hinsichtlich der hier zunächst streitbefangenen Verfügungen vom 24. November 2005
und 10. Mai 2007 (gem. § 365 Abs. 3 AO zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens
geworden) ist ein ordnungsgemäßes Vorverfahren im Sinne des § 44 FGO durchgeführt
und mit der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2008 abgeschlossen worden. Die
76
fristgerecht erhobene Klage setzte sich gem. § 68 FGO an der Verfügung vom 30. Juni
2009 fort. Insoweit besteht kein Streit zwischen den Beteiligten.
Die Anfechtungsklage war auch nicht im Hinblick auf eine fehlende Rechtsverletzung im
Sinne des § 40 Abs. 2 FGO unzulässig.
77
Grundsätzlich ist die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung bzw. der Aufhebung
der Vollziehung für die Steuerpflichtigen günstig. Der Finanzverwaltung wird im Umfang
der Aussetzung der Vollziehung jegliches Gebrauchmachen von den Wirkungen des
von der Vollziehung ausgesetzten Verwaltungsaktes untersagt (vgl. Birkenfeld in
Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 361 AO Rdnr. 44 ff. M. w. N.). Der Antrag des
Steuerpflichtigen, der Finanzbehörde die gegen ihn gerichteten Vollziehung des
Steuerbescheides (wieder) "zu erlauben", richtet sich daher zunächst auf eine
verfahrensmäßige Schlechterstellung und dürfte - ähnlich wie der Antrag auf eine
höhere Steuerfestsetzung (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. Juni 2009 VI R 46/07, BStBl II
2010, 72 m. w. N.) - grundsätzlich unzulässig sein, wenn sich die Aussetzung oder
Aufhebung der Vollziehung nicht in bindender Weise auf einem anderen rechtlichen
Gebiet ungünstig auswirkt, weil der Regelungsgehalt der Aussetzungsverfügung über
die bloße Hemmung der Vollziehbarkeit hinausreicht.
78
Diese Rechtssituation ist aber hinsichtlich der Aussetzung der Vollziehung gegeben.
Bei endgültig erfolglosem Rechtsbehelf führt die Aussetzung der Vollziehung in Höhe
des geschuldeten Betrages, hinsichtlich dessen die Vollziehung ausgesetzt war, zur
Verzinsung gemäß § 237 Abs. 1 Satz 1 AO. Dies entspricht dem gesetzgeberischen
Konzept, wie es bereits § 251a der Reichsabgabenordnung (vgl. dazu mit
umfangreicher Darstellung der Gesetzgebungsgeschichte Oberverwaltungsgericht für
das Land Nordrhein-Westfalen - OVG Münster - , Urteil vom 23. November 2001 3 A
1928/98, Zeitschrift für Miet- und Raumrecht - ZMR - 2002, 477) und § 4c
Steuersäumnisgesetz - StSäumG - (vgl. dazu Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, §
4c StSäumG Rdnr. 3, Stand Dezember 1975) zugrunde lag. Die Zinsen entstehen auf
Grund der Tatbestandswirkung der Aussetzungsverfügung(en) und dem endgültigen
Unterliegen des Steuerpflichtigen im Rechtsschutzverfahren. Daran hat sich auch im
Anwendungsbereich des § 237 AO nichts geändert (vgl. dazu BFH-Urteil vom 31. März
2010 II R 2/09, BFH/NV 2010, 1602).
79
Da auch für die Zeit der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes Aussetzungszinsen
festgesetzt werden können, wenn die Finanzbehörde bis zur abschließenden
Entscheidung eine Heilung des Verwaltungsaktes herbeigeführt hat (vgl. BFH/NV 2010,
1602 unter II. 2a und b), und ein Zinsverzicht im Sinne des § 237 Abs. 4 i. V. m. § 234
Abs. 2 AO nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null vom Steuerpflichtigen in einem
prozessualen Verfahren erstritten werden kann (vgl. BFH a. a. O. unter II.1.), gehen von
einer Aussetzung der Vollziehung zumindest erhebliche finanzielle Risiken aus, die es
ausgeschlossen
rechtswidrig aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung auszugehen.
80
Der Senat sieht sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit der
Revisionsentscheidung des BFH zu dem vergleichbaren Verfahren vor dem
Finanzgericht Düsseldorf, da der BFH insoweit ausdrücklich auf die Möglichkeit der
Erhebung einer Klage hingewiesen hat (vgl. BFH, BStBl II 2008, 134 unter II. 1.f).
81
2. Die Klage ist auch begründet.
82
Die angefochtenen Verfügungen über die Aufhebung der Vollziehung (Verfügung vom
24. November 2005 mit Aufhebung der Vollziehung ab dem 28. Oktober 2005) und
Aussetzung der Vollziehung (Verfügungen vom 24. November 2005, 10. Mai 2007,
Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2008 und Aussetzungsverfügung vom 30.
Juni 2009) waren jeweils in vollem Umfang wegen Zweckverfehlung (vgl. § 5 AO)
rechtswidrig.
83
Nach Überzeugung des erkennenden Senates handelt es sich bei der Aussetzung oder
Aufhebung der Vollziehung ohne Antrag des Steuerpflichtigen gemäß § 361 Abs. 2 Satz
1 AO um eine Ermessensentscheidung.
84
Der Senat kann dabei offen lassen, ob es sich bei der Entscheidung der Finanzbehörde
über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung um eine Ermessensentscheidung
oder um einen Akt der gebundenen Verwaltung handelt (vgl. zum Streitstand z.B. BFH-
Beschluss vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461; BStBl II 1968, 199 unter 4.
unter Hinweis auf BFH-Beschluss vom 28. Juni 1967 VII B 12/66, BFHE 89, 82, BStBl III
1967, 513; BFH-Beschluss vom 10. Dezember 1986 I B 121/86, BFHE 149, 6, BStBl II
1987, 389; BFH-Urteil vom 10. November 1994 IV R 44/94, BFHE 176, 303, BStBl II
1995, 814; BFH-Beschluss vom 1. April 2010, II B 168/09, BStBl II 2010, 558; Birkenfeld
in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 361 AO Rdnr. 326 m. w. N.; Seer in
Tipke/Kruse, AO/FGO § 69 FGO Rdnrn. 138, 82, 83 m. w. N.).
85
Zumindest bei der Aussetzung der Vollziehung ohne Antrag handelt es sich nach
Überzeugung des Senats um einen Ermessensverwaltungsakt. Das ergibt sich zunächst
aus dem Wortlaut des Gesetzes, wonach die Finanzbehörde, die den angefochtenen
Verwaltungsakt erlassen hat, die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen "kann",
während bei einer Entscheidung über einen Antrag des Steuerpflichtigen die
Aussetzung der Vollziehung erfolgen "soll", wenn die gesetzlichen Voraussetzungen
vorliegen (vgl. § 361 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO u. § 69 Abs. 2 Satz 1 und 2 FGO). Auch in
Rechtsprechung und Literatur wird soweit ersichtlich hinsichtlich der nur von der
Finanzverwaltung zu gewährenden Aussetzung der Vollziehung von Amts wegen von
niemand die Auffassung vertreten, dass die Finanzverwaltung bei Vorliegen ernstlicher
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes verpflichtet sei, die
Aussetzung der Vollziehung ohne Antrag des Steuerpflichtigen und gegen dessen
mutmaßliches Interesse zu gewähren. Vielmehr scheint allgemeine Auffassung zu sein,
dass die entsprechende Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) zu
treffen ist (vgl. z.B. Birkenfeld a. a. O. § 361 AO Rdnr. 325; ders. a. a. O. § 69 FGO Rdnr.
128; Seer a. a. O. § 69 FGO Rdnr. 82; Szymczak in Koch/Scholtz, AO, § 361 Rdnr. 18;
Hardtke in Kühn/von Wedelstädt, AO, § 361 Rdnr. 21, 22; Dumke in Schwarz, AO, § 361
Rdnr. 91, 6; Koch in Gräber, FGO, § 69 Rdnr. 110; im Ergebnis ebenso: Finanzgericht
Düsseldorf, EFG 2006, 1225).
86
Auch die Finanzverwaltung geht von einem derartigen Ermessen aus, wenn sie in Tz
2.1 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung - AEAO - ausführt, dass von der
Möglichkeit der Aussetzung der Vollziehung ohne Antrag insbesondere dann Gebrauch
zu machen sei, wenn der Rechtsbehelf offensichtlich begründet sei, der Abhilfebescheid
aber voraussichtlich nicht mehr vor Fälligkeit der geforderten Steuer ergehen könne.
Eine derartige Anweisung an die nachgeordneten Finanzbehörden wäre unsinnig, wenn
es sich nicht um eine Möglichkeit, sondern um eine Pflicht handelte.
87
Dies hat zur Folge, dass der erkennende Senat die Entscheidung(en) des Beklagten nur
in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen (vgl. von Groll in Gräber, FGO, § 102 Rdnr.
2 mit umfangreichen Nachweisen zu Rechtsprechung und Literatur) überprüfen kann.
Die gerichtliche Prüfung der Aussetzungsverfügungen ist daher auf die Prüfung
beschränkt, ob der Beklagte bei seinen Entscheidungen die gesetzlichen Grenzen des
Ermessens überschritten oder von dem ihm eingeräumten Ermessen in einer dem
Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
88
Zumindest ein Ermessensfehlgebrauch ist im vorliegenden Verfahren festzustellen.
89
Die aufgezwungene Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung ist grundsätzlich
ermessensfehlerhaft, wenn nicht besondere Gründe ausnahmsweise die Finanzbehörde
berechtigen, die tendenziell auf den Rechtsschutz des Bürgers ausgerichtete
Aussetzung der Vollziehung in objektiv belastender Weise gegen den Willen des
Bürgers einzusetzen (a). Derartige besondere Gründe sind weder in der ursprünglichen
Aussetzungsverfügung vom 24. November 2005 noch in der Einspruchsentscheidung
vom 19. Februar 2008 vorgebracht worden (b). Außerdem liegt in Anbetracht der
punktuellen Anwendung der Zwangsaussetzung der Vollziehung ein Verstoß gegen
den Gleichheitsgrundsatz vor (c).
90
a) Nach § 361 Abs. 2 Satz 1 AO "kann" die Finanzbehörde die den angefochtenen
Verwaltungsakt erlassen hat, die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Das
Gesetz nennt in § 361 Abs. 2 Satz 1 AO mit Ausnahme des Kontexts, also den
Aussetzungsgründen in § 361 Abs. 2 Satz 2 AO, keine näheren Vorgaben zu den
Voraussetzungen hierfür und nach welchen Gesichtspunkten die Finanzbehörde ihr
durch die Vorschrift eingeräumtes Ermessen auszuüben hat.
91
Es ist daher zunächst Sache der Finanzgerichte, Voraussetzungen und Grenzen dieser
Befugnis im Rahmen der Auslegung und Anwendung des Steuerrechts näher zu
bestimmen. Dabei haben sie dem verfassungsrechtlichen Gebot, effektiven
Rechtsschutz zu gewähren, Rechnung zu tragen.
92
In der Vergangenheit ergaben sich bei der Auslegung des § 361 Abs. 2 Satz 1 AO i. V.
m. § 5 AO keine durchgreifenden Probleme. Wenn das wohlverstandene Interesse des
Steuerpflichtigen die Aufhebung oder Aussetzung der Vollziehung eines Bescheides
nahelegte, der Steuerpflichtige aber aus mangelnder Rechtskenntnis oder für ihn
unklarer Verfahrenslage heraus, trotz des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes oder des Vorliegens einer
unbilligen Härte, einen solchen Antrag nicht stellte, wurde - gelegentlich im Kontext
eines in späterem Verfahrensstadium gestellten Antrages auf Aussetzung der
Vollziehung - die Aufhebung der Vollziehung von Amts wegen verfügt. Die Aussetzung
der Vollziehung entsprach dabei dem mutmaßlichen Willen des Steuerpflichtigen und
lag unstreitig im Bereich zweckgerechter Ausübung des der Finanzbehörde in § 361
Abs. 2 S. 1 AO eingeräumten Ermessens (so übereinstimmend auch Seer, Aufgedrängte
Aussetzung der Vollziehung, Die Unternehmensbesteuerung - Ubg - 2008, 249 und
Koepsell/ Wallbrodt, Aufhebung und Aussetzung der Vollziehung gegen den Willen des
Steuerpflichtigen, Die Information über Steuer und Wirtschaft - INF - 2006, 822).
93
Demgegenüber handelt es bei dem Streitfall um einen Beispielsfall der erst in jüngerer
Vergangenheit zu beobachtenden Aufhebung oder Aussetzung der Vollziehung gegen
den (ausdrücklichen) Willen des Steuerpflichtigen. Insoweit liegt ein bisher in der
94
Rechtsprechung noch nicht geklärtes Phänomen vor, das ganz augenscheinlich auf
Seiten der Finanzverwaltung mit dem Ziel der Ausnutzung des Zinsgefälles zwischen
den Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO und den Marktzinsen zur Anwendung
gebracht wird (vgl. Seer Tipke/Kruse, AO/FGO, § 361 AO Rdnr. 5 und § 69 FGO Rdnr.
9). Auch im Streitfall spielte die Zinsüberlegung, wie sich sowohl aus den vorgelegten
Akten als auch aus den Seiten 5 und 6 der Einspruchsentscheidung klar ergibt, auf
Seiten des Beklagten - wie auch der Klägerin - eine überragende Rolle.
Nach Überzeugung des erkennenden Senats liegt die aufgezwungene Aussetzung oder
Aufhebung der Vollziehung regelmäßig außerhalb des Bereichs ermessensgerechter
Entscheidungen im Rahmen des § 361 Abs. 2 S. 1 AO, da der vorläufige Rechtsschutz
im Steuerrecht der verfassungsrechtlich gebotenen Verwirklichung des
Individualrechtsschutzes bei - trotz anhängiger Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel -
vollziehbaren Verwaltungsakten dient (aa) und kein im Rahmen der
Ermessensausübung gem. § 361 Abs. 2 S. 1 AO zu berücksichtigendes schutzwürdiges
Interesse des Staates besteht, vom Gesetz nicht generell vorgesehene Zinsrisiken auf
den Steuerpflichtigen abzuwälzen (ab).
95
aa) Die Aussetzung der Vollziehung dient grundsätzlich dem vorläufigen Rechtsschutz
des Steuerpflichtigen (vgl. statt vieler Seer a. a. O. § 69 FGO Rdnr. 1; ders., Ubg 2008,
249), sie ist Ausfluss der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes -
GG - (vgl. z.B. Birkenfeld a. a. O. § 361 AO Rdnr. 23; Kirchhof, Rechtsstaatliche
Anforderungen an den Rechtsschutz in Steuersachen, Deutsche Steuerjuristische
Gesellschaft - DStJG - Band 18, 17, 36f. jeweils mit Nachweisen zur Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -).
96
Nach der Rechtsprechung des BVerfG (z. B. Beschluss vom 13. Juni 1979 1 BvR
699/77, Entscheidungen des BVerfG - BVerfGE - 51, 268) hat Art. 19 Abs. 4 GG gerade
im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes eine erhebliche Bedeutung. "Sie liegt auch
darin, die "Selbstherrlichkeit" der vollziehenden Gewalt gegenüber dem Bürger zu
beseitigen (...). Daher soll nicht nur jeder Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers
eingreift, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig der richterlichen Prüfung
unterstellt werden (...), sondern es sollen durch Art. 19 Abs. 4 GG auch irreparable
Entscheidungen, die durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme
eintreten können, soweit wie möglich ausgeschlossen werden."
97
Zur Aussetzung der Vollziehung im Steuerrecht führt das BVerfG in einer aktuellen
Entscheidung (BVerfG-Beschluss vom 22. September 2009 1 BvR 1305/09, Deutsches
Steuerrecht - DStR - 2009, 2146) aus: "Art. 19 Abs. 4 GG garantiert insbesondere auch
effektiven vorläufigen Rechtsschutz. Denn wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch
Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher
Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher
vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei
(endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig
gemacht werden können. Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die
Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den
Eilrechtsschutz (...). Sind dem Richter im Interesse einer angemessenen
Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese im konkreten
Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Sie dürfen nicht
zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven
Rechtsschutz führen (...)."
98
Der Senat versteht die Vorschriften über die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 361
AO und § 69 FGO und die einstweilige Anordnung gem. § 114 FGO im Lichte der
dargestellten exemplarischen Entscheidungen des BVerfG als Konkretisierungen des
grundgesetzlich vorgegebenen effektiven Rechtsschutzes. Sie dienen nahezu
ausschließlich dem Zweck des Individualrechtsschutzes (ebenso Seer, Ubg 2008, 249).
Die Einbeziehung der finanziellen Interessen des Staates in die Abwägung bei der
Ermessensentscheidung gemäß § 361 Abs. 2 S. 1 AO führt daher nach Überzeugung
des erkennenden Senats regelmäßig zu einem Ermessensfehlgebrauch.
99
Dem gegenteiligen, insbesondere von Koepsell/ Wallbrodt (INF 2006, 822) vertretenen
Ansatz, es finde sich kein plausibler Grund dafür, warum nicht das finanzielle Interesse
des Staates als Abwägungskriterium bei der Gewährung ungewollten vorläufigen
Rechtsschutzes einbezogen werden solle, vermag der Senat bereits im Ansatz nicht zu
folgen. Es findet sich vielmehr - von Ausnahmefällen abgesehen - kein plausibler Grund
dafür, warum das finanzielle Interesse des Staates bei der Entscheidung über die
Gewährung des dem Individualrechtsschutz dienenden vorläufigen Rechtsschutzes
eine Bedeutung entfalten sollte.
100
Dabei ist auch zu beachten, dass die Finanzbehörde durch die Festsetzung der
angefochtenen Steuern die unmittelbare Ursache des Rechtsbehelfsverfahrens setzt.
Bei rechtmäßigem Verwaltungsvollzug muss die Behörde dabei nach der Gewährung
rechtlichen Gehörs (§ 91 AO) zu der Überzeugung gekommen sein, dass die von ihr
festgesetzte Steuer der tatsächlich verwirkten Steuer entspricht (§ 85 AO). Die die
Aussetzung der Vollziehung ermöglichenden ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Verwaltungsaktes dürften daher regelmäßig keine überwiegenden
Zweifel darstellen, da die Finanzbehörde bei Vorliegen überwiegender Zweifel die
Steuer nicht hätte festsetzen dürfen.
101
Die bisher bekannt gewordenen Fälle der Aussetzung der Vollziehung gegen den
Willen des Steuerpflichtigen betreffen - wie auch der vorliegende Fall - bei
ordnungsgemäßer Mitwirkung des Steuerpflichtigen im Wesentlichen ausermittelte
Lebenssachverhalte und reine Rechtsstreitigkeiten. Für derartige Fälle ist eine
Aussetzung der Vollziehung gegen den Willen des Steuerpflichtigen regelmäßig nicht
ermessensgerecht.
102
ab) Auch die Zinsvorschriften beziehungsweise die gesetzgeberischen Konzepte, die
diesen zu Grunde liegen, bieten keine Anhaltspunkte dafür, dass eine mit den
finanziellen Interessen des Staates begründete Aussetzung der Vollziehung gegen den
Willen des Steuerpflichtigen im Rahmen des gesetzgeberischen Konzeptes liegt.
103
Der Einführung der Aussetzungszinsen lag der Gedanke zu Grunde, einen gerechten
Ausgleich zwischen dem Zinsvorteil des Steuerpflichtigen und dem Zinsverlust des
Steuergläubigers herbeizuführen (ebenso mit umgekehrten Vorzeichen der gedankliche
Ansatz der gleichzeitig eingeführten Prozesszinsen). Dieses Konzept lag bereits § 251a
der Reichsabgabenordnung (vgl. dazu mit umfangreicher Darstellung der
Gesetzgebungsgeschichte OVG Münster, Urteil vom 23. November 2001 3 A 1928/98,
ZMR 2002, 477) und § 4c Steuersäumnisgesetz - StSäumG - (vgl. dazu Tipke/Kruse,
Reichsabgabenordnung, § 4c StSäumG Rdnr. 3, Stand Dezember 1975) zugrunde.
Daran hat sich im Anwendungsbereich des § 237 AO nichts geändert (vgl. dazu BFH-
Urteil vom 31. März 2010 II R 2/09, BFH/NV 2010, 1602).
104
Es war das ausdrückliche Ziel des Gesetzgebers, durch die Einführung der Zinsen
zugleich unnötige Steuerprozesse zu vermeiden, die zuvor im Hinblick auf die - die
geringen sonstigen Kosten erfolgloser Prozesse übersteigenden - Zins- und
Liquiditätsvorteile bei gewährter Aussetzung der Vollziehung geführt worden waren (vgl.
dazu OVG Münster, ZMR 2002, 477). Ziel des Gesetzgebers war es also u.a., auf das
Klageverhalten der Steuerpflichtigen einzuwirken. Anhaltspunkte für den Willen des
Gesetzgebers, eine Verzinsungspflicht für Fälle, in denen der Staat die Annahme
angebotener Steuerzahlungen ablehnt, einzuführen, bestehen nicht.
105
Insoweit weicht der hier zu entscheidende Fall einer auf einer Ermessensentscheidung
beruhenden (teilweise sicheren) Verzinsungspflicht grundlegend von dem generell
abstrakten Konzept der Vollverzinsungszinsen gemäß § 233a AO ab (vgl. zur
Verfassungsmäßigkeit insoweit: BVerfG-Beschluss vom 3. September 2009 1 BvR
2539/07, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 2010, 171)
106
b) Der Beklagte hat im Rahmen seiner Ermessensentscheidungen keine Überlegungen
angestellt, die ausnahmsweise eine Aufhebung oder Aussetzung der Vollziehung
gegen den Willen der Klägerin rechtfertigen könnten.
107
Der Senat kann dabei dahingestellt sein lassen, in welchen Sonderfällen
ausnahmsweise eine Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung gegen den Willen
des Steuerpflichtigen ermessensgerecht erscheinen könnte. Der Senat sieht insoweit z.
B. mögliche Anwendungsfälle, wenn die Finanzverwaltung in Fällen eines erkannten
Fehlers im Vorgriff auf eine beabsichtigte Abhilfe (vgl. Tz 2.1 des AEAO zu § 361) oder
bei Verstößen des Steuerpflichtigen gegen seine Mitwirkungspflichten mit der Folge der
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO) ggf. die Aussetzung der
Vollziehung auch gegen den Willen des Steuerpflichtigen verfügen würde (vgl. insoweit
auch die besonderen Zinsregelungen in § 236 Abs. 3 AO).
108
Der Beklagte hat aber die ursprüngliche Aussetzungsverfügung u.a. auf die Annahme
die antragsfreie Aufhebung der Vollziehung sei nicht an die Voraussetzungen der
ernstlichen Zweifel oder unbilligen Härte gebunden, gestützt. Eine derartige Überlegung
ist nach Überzeugung des Senats grundsätzlich rechtsfehlerhaft und kann die
Zwangsaussetzung nicht stützen. Praktisch das gesamte Schrifttum verlangt auch in den
Fällen des § 361 Abs. 2 S. 1 AO das Vorliegen der allgemeinen
Aussetzungsvoraussetzungen (z.B. Birkenfeld a. a. O. § 361 AO Rdnrn. 325, 326; ders.
a. a. O. § 69 FGO Rdnr. 128; Seer a. a. O. § 69 FGO Rdnr. 54; Pahlke in Pahlke/König,
AO, § 361 Rdnr. 27; Dumke in Schwarz, AO, § 361 Rdnr. 91; im Ergebnis ebenso:
Finanzgericht Düsseldorf, EFG 2006, 1225). Die im Übrigen vorgebrachten Argumente
bezüglich des Vorliegens rechtlicher Zweifel sind ebenfalls ungeeignet einen
Ausnahmefall für die berechtigte Zwangsaussetzung zu begründen.
109
Auch im Rahmen der Einspruchsentscheidung hat der Beklagte keine Begründung
gegeben, die eine zwangsweise Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen könnte. Das
Vorbringen bezüglich der rechtlichen Zweifel ist nicht hinreichend. Der Senat lässt
insoweit offen, inwieweit die vorgetragenen Rechtsüberlegungen im Zeitpunkt der
Einspruchsentscheidung ernstliche Zweifel erzeugen konnten. Zumindest im Zeitpunkt
des Erlasses der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen
Aussetzungsverfügung vom 30. Juni 2009 lagen diese Zweifel nach dem eigenen
Vorbringen des Beklagten nicht mehr vor.
110
Unabhängig davon sind die weiteren Erwägungen, die der Beklagte im Rahmen der
Einspruchsentscheidung angestellt hat, ungeeignet (ausnahmsweise) die
Rechtmäßigkeit einer zwangsweisen Aussetzung der Vollziehung zu begründen. Der
Beklagte hat insoweit lediglich die finanziellen Interessen der Klägerin und des Staates
gegeneinander abgewogen. Die finanziellen Interessen des Staates sind aber - wie
oben dargelegt - regelmäßig bei der Frage der zwangsweisen Gewährung der
Aussetzung der Vollziehung ohne Bedeutung.
111
c) Letztlich liegt auch deshalb ein Ermessensfehler vor, weil die Entscheidung für die
Zwangsaussetzung mit dem Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 GG nicht zu vereinbaren ist.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches
gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. (vgl. BVerfG, HFR - 2010,
171 m.w.N.). Für den Bereich der Ermessensverwaltung bedeutet dies, dass erst eine
Ermessensabweichung, also eine Abweichung der Behörde von einer einheitlichen
Ermessenspraxis ohne zureichenden Grund, zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes
und damit einem Ermessensfehler führt (vgl. Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO
Rdnr. 50 m.w.N.).
112
Eine solche Ermessensabweichung liegt im Streitfall vor. Wie dem erkennenden Senat
aus der langjährigen Befassung mit Aussetzungsverfahren aus dem gesamten
Gerichtsbezirk bekannt ist, erfolgt eine Aussetzung der Vollziehung gegen den Willen
des Steuerpflichtigen nur in einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen und
soweit ersichtlich nur bei erheblichen Streitwerten. Soweit sich der Beklagte in der
Einspruchsentscheidung zur Begründung der Aussetzung der Vollziehung auf die
Gleichmäßigkeit der Gesetzesanwendung beruft, handelt es sich daher nach
Überzeugung des Senats um eine mit der bisherigen Verwaltungspraxis im Widerspruch
stehende Scheinbegründung.
113
Eine Aussetzung der Vollziehung gegen eine ausdrückliche Regelung in den
Körperschaftsteuerrichtlinien, wie sie im vorliegenden Fall vorgenommen wurde, ist
tatsächlich absolut außergewöhnlich. Wenn man z. B. die 78 Erlasse zu § 361 AO, die
für den Zeitraum zwischen 2004 und 2008 in der von Felix/Carlé begründeten
Steuererlasskartei - StEK - dokumentiert sind, überprüft, stellt man vielmehr fest, dass in
der Mehrzahl aller Fälle den Finanzämtern die Gewährung der Aussetzung der
Vollziehung ausdrücklich untersagt wird. In den verbleibenden Fällen wird die
Gewährung der Aussetzung der Vollziehung erlaubt, aber nicht vorgegeben.
114
Demgegenüber finden sich in der Verfügung der Oberfinanzdirektion Koblenz vom 13.
Juli 2009 S 0464/S0632A-St352, StEK Nr. 25 zu § 237 AO, Überlegungen, wie die
Zinsauswirkungen einer im Einzelfall aus Rechtsgründen gegen den Willen des
einzelnen Steuerpflichtigen eintretenden Aussetzung der Vollziehung (Grundlagen-/
Folgebescheid) durch Entgegennahme freiwilliger Zahlungen vermieden werden
können.
115
Gründe, die im Streitfall die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten, vermag der
Senat nicht zu erkennen. Insbesondere ist eine Differenzierung nach der Höhe der
streitigen Steuerschuld bei der Aussetzung der Vollziehung für eine Rechtfertigung der
Ungleichbehandlung ungeeignet. Insoweit unterscheidet sich die Aussetzung der
Vollziehung von den einer Differenzierung zugängigen Fragen der Intensität der
Sachaufklärung (vgl. AEAO zu § 88, 194 AO und die Regelungen der
116
Betriebsprüfungsordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 S. 3 FGO. Die Beteiligten streiten im
vorliegenden Verfahren indirekt ausschließlich über die Aussetzungszinsen gemäß
§ 237 AO. Da die Aufhebungsverfügung vom 24. Oktober 2005 keinerlei
Zinsauswirkungen hatte, fällt sie bei der Berechnung der Unterliegensquoten nicht ins
Gewicht.
117
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 115 Abs.
2 Nr. 1 FGO zugelassen. Die Frage der Zulässigkeit einer aufgedrängten Aussetzung
der Vollziehung stellt sich, wenn das Marktzinsniveau weiterhin niedrig bleibt und die in
der Literatur geäußerte Annahme (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rdnr. 9)
einer zunehmenden Anwendung zutreffen sollte, in einer Vielzahl von
Besteuerungsverfahren und lässt daher eine klarstellende Entscheidung des
Bundesfinanzhofs erforderlich erscheinen.
118
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155
FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
119