Urteil des FG Hessen vom 31.03.2011

FG Frankfurt: wiedereinsetzung in den vorigen stand, gesetzliche frist, glaubhaftmachung, beweismittel, einspruch, abgabenordnung, krankheit, beweislast, fristversäumnis, datum

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Gericht:
Hessisches
Finanzgericht 3.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 K 1059/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 110 Abs 2 S 2 AO, § 294
ZPO
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob wegen Versäumung der Einspruchsfrist
dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gewährt werden müssen.
Dem Rechtsstreit liegt im wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Kläger hatte für seinen Sohn A (geboren am 19.01.1987) von der Beklagten
(der Familienkasse) Kindergeld erhalten. Mit Bescheid vom 11.06.2008 hob die
Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab dem Monat Juli 2005 auf
und forderte das für die Monate Juli 2005 bis November 2007 ausgezahlte
Kindergeld (in Höhe von insgesamt 4.466,00 €) zurück. Zur Begründung führte sie
aus: Der Kläger sei mit Schreiben vom 17.11.2007, vom 06.02.2008 und vom
18.02.2008 aufgefordert worden, bestimmte Unterlagen einzureichen und
verschiedene Fragen zu beantworten. Dieser Aufforderung sei er nicht
nachgekommen. Es könne deshalb nicht festgestellt werden, ob für die Zeit ab
dem Monat Juli 2005 ein Anspruch auf Kindergeld bestehe.
Am 22.09.2008 ging bei der Familienkasse ein von dem Kläger persönlich
verfasstes Schreiben ein. Dort ist unter anderem wörtlich ausgeführt: „Für das
persönliche Gespräch am 18.09.2008 ... möchte ich mich nochmals bedanken. Ich
erläuterte Ihnen, dass ich wegen eines Burn-Out und einer damit verbundenen
depressiven Erkrankung längere Zeit nicht in der Lage war, meine persönlichen
Angelegenheiten zu ordnen. Ich bitte Sie daher höflichst, mich bezüglich des
Kindergeldanspruches wieder in den vorigen Stand (zurück-) einzusetzen.“
In dem Schreiben war eine Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie Dr. X mit
Datum vom 18.09.2008 beigefügt. Darin heißt es wörtlich: „Der oben genannte
Patient befindet sich in meiner ambulanten nervenärztlichen Behandlung. Er leidet
seit ca. fünf Jahren an einer depressiven Erkrankung. Deshalb war er in dieser Zeit
über längere Zeiträume arbeitsunfähig. Durch die antidepressive Medikation ist
eine Stabilisierung der Symptomatik eingetreten.“
Die Familienkasse teilte dem Kläger mit Schreiben vom 24.09.2008 daraufhin
folgendes mit: Das am 18.09.2008 eingegangene Schreiben werde als Einspruch
gewertet. Allerdings reiche die dabei vorgelegte Arztbescheinigung für eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aus. Es werde eine Bescheinigung
darüber benötigt, dass der Kläger daran gehindert gewesen sei, gegen den
Bescheid vom 11.06.2008 innerhalb der einmonatigen Einspruchsfrist einen
Einspruch einzulegen beziehungsweise durch einen Bevollmächtigten einlegen zu
lassen. Mit Schreiben vom 20.10.2008 erinnerte die Familienkasse nochmals an
die Erledigung des vorgenannten Schreibens.
Mit Schreiben vom 10.11.2008 teilte der Prozessbevollmächtigte der
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Mit Schreiben vom 10.11.2008 teilte der Prozessbevollmächtigte der
Familienkasse mit, er sei vom Kläger gebeten worden, „die Frage der
weitergehenden ärztlichen Bescheinigung zu erörtern ...“ Wörtlich führte er aus:
„Letztlich müsste unser Mandant, der selbstständig ist, ungern in einer
Behördenakte eine ärztliche Aussage dahingehend, dass er zeitweise
geschäftsunfähig war.“
Die Familienkasse erließ am 19.03.2003 eine Einspruchsentscheidung, durch die
sie den Einspruch als unzulässig verwarf. Zur Begründung führte sie hierzu aus:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne dem Kläger nicht gewährt werden.
Der angefochtene Bescheid habe eine vollständige und verständliche Belehrung
über Form und Frist des Einspruchs enthalten. Bei Beachtung der erforderlichen
Sorgfalt hätte der Kläger diese Frist einhalten können.
Mit der Klage wendet sich der Kläger, weiter vertreten durch den
Prozessbevollmächtigten, gegen die Einspruchsentscheidung der Familienkasse.
Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte im wesentlichen vor: Der Kläger
habe während des fraglichen Zeitraums (Monate Juni bis September 2008) und
schon längere Zeit vorher an einer Depressionserkrankung gelitten, die es ihm
subjektiv unmöglich gemacht habe, alltägliche und berufliche Aufgaben so zu
erledigen, wie es von einer psychisch gesunden Person erwartet und verlangt
werden könne. Aufgrund seiner Erkrankung sei er nicht in der Lage gewesen, die
an ihn gerichteten Postsendungen zu öffnen. So habe er es auch bei der Sendung
mit dem angefochtenen Bescheid gehalten. Der behandelnde Arzt sei bei
Abfassung der hier vorliegenden Bescheinigung davon ausgegangen, dass nur
eine absolute Handlungsunfähigkeit eine Wiedereinsetzung rechtfertigen könne.
Einen solchen Sachverhalt habe er jedoch nicht bescheinigen können, da es bei
einer Depression gerade Teil des Krankheitsbildes sei, dass sich die
Handlungsunfähigkeit nur auf Teilbereiche des Lebens beziehe, und zwar oft
gerade auf solche, in denen gewissenhaftes und sorgfältiges Handeln erforderlich
sei. Entgegen den Ausführungen der Familienkasse in der Einspruchsentscheidung
komme es auf die in dem Bescheid enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung nicht an.
Denn der Kläger habe diese als solche zunächst nicht zur Kenntnis genommen.
Im Laufe des weiteren Verfahrens hat der Prozessbevollmächtigte eine unter dem
Datum vom 14.06.2009 verfasste und von dem Kläger unterzeichnete
„Versicherung an Eides Statt“ vorgelegt. Wegen des Inhalts dieser Erklärung wird
auf Blatt 25 der Gerichtsaktebezug genommen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Einspruchsentscheidung vom 19.03.2009 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie unter anderem aus: Die ärztliche Bescheinigung vom
18.09.2008 reiche nicht aus, um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
rechtfertigen. Es fehlten zeitliche Angaben. Und zudem werde lediglich eine
zeitweise Arbeitsunfähigkeit für den Kläger bescheinigt. Die persönliche Erklärung
des Klägers könne zu keinem anderen Ergebnis führen.
Die den Streitfall betreffenden Akten der Familienkasse waren Gegenstand des
Verfahrens.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
1. Die Familienkasse hat den Einspruch – im Ergebnis – zu Recht als unzulässig
verworfen. Dass sie hierfür unzutreffende Gründe angeführt hat, spielt für die
Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung keine Rolle.
Der Kläger hat, wie zwischen den Beteiligten nicht streitig, die gesetzliche
Einspruchsfrist nicht gewahrt. Er hat zwar wegen dieser Fristversäumung
rechtzeitig einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Die
von ihm geltend gemachten Wiedereinsetzungsgründe hat er aber nicht in der
gebotenen Weise glaubhaft gemacht.
Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ist einem Beteiligten, der
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Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ist einem Beteiligten, der
ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb
eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO).
Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im
Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO).
Die Erfordernisse an die Glaubhaftmachung ergeben sich aus § 294 der
Zivilprozessordnung (ZPO). Danach kann sich die betreffende Person zwar aller
Beweismittel bedienen, dabei auch der Versicherung an Eides Statt (Abs. 1). Eine
Beweisaufnahme, die nicht sofort erfolgen kann, ist jedoch unstatthaft (Abs. 2).
Insofern beschränkt sich das Verfahren der Glaubhaftmachung auf so genannte
präsente Beweismittel. Stehen präsente Beweismittel zur Verfügung, können sie
nicht durch eine eidesstattliche Versicherung ersetzt werden. Gelingt dem
Beteiligten die Glaubhaftmachung nicht, hat er nach den Regeln der objektiven
Beweislast (Feststellungslast) die Nachteile zu tragen (vgl. Rätke in Klein,
Abgabenordnung, 10. Auflage, § 110 Rdnr. 47; Söhn in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 110 AO,
Rdnr. 520).
Die Glaubhaftmachung ist alleinige Aufgabe des Beteiligten bzw. seines
Bevollmächtigten. Der Grundsatz der Amtsermittlung gilt hier nicht. Der Beteiligte
kann allerdings die Tatsachenangaben zur Glaubhaftmachung der
Wiedereinsetzungsgründe im Sinne des § 110 AO noch im gerichtlichen Verfahren
nachholen, jedenfalls bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz. Insofern gilt für die
Glaubhaftmachung nicht die in § 110 Abs. 2 Satz 2 AO festgelegte Regel, wonach
die Wiedereinsetzungsgründe selbst innerhalb der Antragsfrist von einem Monat
vorzubringen sind (vgl. Rätke in Klein, a.a.O., § 110 Rdnr. 46; Pahlke in
Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Auflage, Rdnr. 89; jeweils mit weiteren
Nachweisen zur Rechtsprechung).
Krankheit kann nur ausnahmsweise Grund für eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand sein. So entschuldigt Krankheit eine Fristversäumnis etwa dann,
wenn es dem betreffenden Beteiligten unmöglich oder unzumutbar ist, die
fristwahrende Handlung selbst vorzunehmen oder durch einen Vertreter
vornehmen zu lassen. Ein solcher Fall ist in der Regel nur dann anzunehmen, wenn
die Krankheit ganz plötzlich oder unvorhersehbar auftritt oder wenn sie so schwer
ist, dass die betreffende Person zur Fristwahrung tatsächlich außer Stande ist. Eine
psychische Erkrankung in der Form einer Depression rechtfertigt eine
Wiedereinsetzung nur in besonderen Ausnahmefällen (vgl. Söhn in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 110 AO Rdnr. 147; Rätke in Klein, a.a.O., §
110 Rdnr. 9; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung).
Macht der betreffende Beteiligte eine Erkrankung als Wiedereinsetzungsgrund
geltend, muss er grundsätzlich ein ärztliches Attest vorlegen, aus dem sich die
Schwere und die Dauer der Erkrankung und damit das fehlende Verschulden an
der Fristversäumnis ergeben. Bei einer psychischen Erkrankung muss der
bescheinigende Arzt zudem in dem Attest angeben, aufgrund welcher
Untersuchungsergebnisse er die Schwere der psychischen Erkrankung festgestellt
hat (vgl. Rätke in Klein, a.a.O., § 110 Rdnr. 47 mit weiteren Nachweisen zur
Rechtsprechung).
Im Streitfall hätte ein Arztattest vorgelegt werden müssen, in dem sinngemäß die
Aussage enthalten gewesen wäre, während des hier fraglichen Zeitraums (Monate
Juni und Juli 2008) sei der Kläger durch seine Depressionserkrankung so schwer
belastet gewesen, dass von ihm nicht hätte erwartet werden können, die alltäglich
anfallenden Behördenangelegenheiten zu erledigen. Diesen Anforderungen genügt
die von dem Facharzt für Psychiatrie Dr. X erstellte Bescheinigung nicht. Dort ist
nämlich nur allgemein die Rede von einer „ambulanten nervenärztlichen
Behandlung“, von einer seit fünf Jahren bestehenden „depressiven Erkrankung“,
von einer „über längere Zeiträume“ bestehenden Arbeitsunfähigkeit sowie von
einer derzeit gegebenen „Stabilisierung der Symptomatik“. Es fehlen hierbei
insbesondere Angaben zu Tatsachen, die konkret dem hier fraglichen Zeitraum
zugeordnet werden könnten. So lässt sich der Bescheinigung nur die Aussage
entnehmen, der Kläger sei zu irgendwelchen Zeiten während der letzten fünf Jahre
„arbeitsunfähig“ gewesen, derzeit befinde er sich jedenfalls in einem besseren
Zustand.
Gerade angesichts der Gesamtumstände des Streitfalles waren konkrete Angaben
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Gerade angesichts der Gesamtumstände des Streitfalles waren konkrete Angaben
über den aktuellen Gesundheitszustand des Klägers unverzichtbar. So war der
Kläger (nach seinen eigenen Angaben) während des fraglichen Zeitraums wie auch
in den Jahren davor selbstständig tätig. Insofern musste er für die betreffenden
Bereiche seiner Lebensgestaltung schon eine gewisse Nervenstärke aufbringen.
Dass dies für andere Lebensbereiche, etwa wie hier für bestimmte
Behördenangelegenheiten, so nicht gewesen sein sollte, kann nicht einfach
unterstellt werden. Immerhin war der Kläger im November 2008 in der Lage, bei
der Familienkasse einen – formal einwandfreien – Neuantrag für Kindergeld zu
stellen und zum Beleg eine – umfassende und optisch detailliert gestaltete –
Zusammenstellung anzufertigen.
Es wäre dem Kläger durchaus möglich und auch zumutbar gewesen, von dem
behandelnden Arzt ein weiteres Attest anzufordern, in dem die notwendigen
Angaben über seinen aktuellen Gesundheitszustand und die damit verbundenen
Umstände enthalten gewesen wären. Jedenfalls ist er von der Familienkasse
zweimal dazu aufgefordert worden (Schreiben vom 24.09.2008 und vom
20.10.2008). Allein die von der Familienkasse verwandte (und am
Gesetzeswortlaut orientierte) Formulierung zum notwendigen Inhalt des
Arztattestes („... dass Sie daran gehindert waren, ...“) war für den Kläger – objektiv
wie subjektiv – kein Grund, der Sache nicht weiter nachzugehen. Zum einen war er
– tatsächlich – in der Lage, den Prozessbevollmächtigten zur Rechtsberatung und
behördlichen Vertretung heranzuziehen. Zum anderen hätte er – nach objektiven
Maßstäben – aufgrund einer entsprechenden Beratung durch den
Prozessbevollmächtigten zu der Erkenntnis kommen müssen, dass das von der
Familienkasse geforderte Arztattest für ihn rechtlich keine Nachteile bringen
würde, und zwar weder im Sinne einer Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 des
Bürgerlichen Gesetzbuches) noch im Sinne einer unbefugten Offenbarung an
Außenstehende (§ 30 AO, Steuergeheimnis).
Das Gericht war nicht verpflichtet, die im Rahmen der Klagebegründung
angebotenen Beweismittel zu berücksichtigen. Dem Antrag, den behandelnden
Arzt, Dr. X, als Zeugen zuhören, war nicht zu entsprechen, weil es sich hierbei
nicht um ein präsentes Beweismittel im Sinne des § 294 ZPO handelt. Die
eidesstattliche Versicherung, die der Prozessbevollmächtigte im Laufe des
Klageverfahrens vorgelegt hat, war zur Glaubhaftmachung ungeeignet, weil hierfür
die Vorlage eines ärztlichen Attestes möglich gewesen wäre und diese als
präsentes Beweismittel nicht durch eine eidesstattliche Versicherung ersetzt
werden konnte. Hinzukommt, dass diese eidesstattliche Versicherung von dem
Kläger selbst als dem betroffenen Beteiligten und damit nicht von einer dritten
Person stammt.
Das Gericht ist sich durchaus bewusst, welche Härten die vorliegende
Entscheidung für den Kläger mit sich bringt. Diese Härten hätten aber unter
Umständen vermieden werden können, wenn der Kläger auf die (wohlmeinenden)
Hinweise der Familienkasse angemessen reagiert hätte. Wenn er aber stattdessen
– aus hier nicht nachvollziehbaren Gründen – durch den Prozessbevollmächtigten
vortragen lässt, das von der Familienkasse geforderte Arztattest sei von ihm nicht
gewollt, muss er (im Sinne der objektiven Beweislast) die entsprechende Nachteile
tragen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung
(FGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.