Urteil des FG Hamburg vom 10.04.2014

FG Hamburg: aufenthaltserlaubnis, ausweisungsgrund, illegale einreise, öffentliche sicherheit, trennung, ausnahmefall, lebensgemeinschaft, emrk, visumpflicht, illegaler aufenthalt

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1. Die besonderen, eine Ausnahme von der (negativen) Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
begründenden Umstände können darauf beruhen, dass der Ausländer mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist
und der Ausweisungsgrund allein in der Einreise ohne das erforderliche Visum und dem anschließenden illegalen Aufenthalt
besteht.
2. Das Regel-/Ausnahmeverhältnis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wird in dem Fall, dass familiäre Bindungen im Bundesgebiet
zu berücksichtigen sind, nicht durch § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verdrängt.
3. Liegt eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor und sind auch die übrigen
Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt, liegt ein Anspruch auf Erteilung im Sinne des § 5 Abs. 2
Satz 2 1. Altern. AufenthG vor, sodass von der Nachholung des Visumverfahrens abgesehen werden kann.
4. Zu den Anforderungen an die Ermessensbetätigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG.
5. Das Visumverfahren nachzuholen ist nicht allein deshalb unzumutbar im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Altern. AufenthG,
weil wegen des im Herkunftsland des Ausländers noch zu leistenden Wehrdienstes eine Trennung der Eheleute von ca. 15
Monaten droht.
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht 4. Senat, Urteil vom 10.04.2014, 4 Bf 19/13
§ 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 2 S 1 AufenthG, § 5 Abs 2 S 2 AufenthG, § 27 Abs 3 S 2
AufenthG, § 39 Nr 5 AufenthV, Art 13 EWGAssRBes 1/80, Art 41 EWGAbkTURZProt
Verfahrensgang
vorgehend VG Hamburg, 24. Januar 2013, Az: 11 K 1667/12, Urteil
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom
24. Januar 2013 geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 1. September 2011 und des
Widerspruchsbescheids vom 21. Juni 2012 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter
Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des
Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor
der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages
leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des
Zusammenlebens mit seiner deutschen Ehefrau.
Der … 1983 in … /Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Im Dezember
2002 wurde er während seines illegalen Aufenthalts in Hamburg vorläufig festgenommen
und mit Bescheid vom 20. Februar 2003 wegen illegalen Aufenthalts ausgewiesen. Der
Bescheid wurde öffentlich zugestellt.
Am 14. April 2011 beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur
Familienzusammenführung und eine Duldung, um seine Verlobte, die deutsche
Staatsangehörige M., heiraten zu können. Er teilte mit, er sei am 6. März 2010 mit Hilfe
eines Schleppers auf dem Landweg in die Bundesrepublik eingereist und habe hier Arbeit
gesucht. Im Mai 2010 habe er seine Verlobte kennengelernt, bei der er seit September
2010 wohne. Wehrdienst habe er in der Türkei noch nicht geleistet. Die Beklagte erteilte
dem Kläger am 18. April 2011 eine Duldung, die fortwährend verlängert wurde. Gegen die
Ausweisung erhob der Kläger Widerspruch und machte u.a. geltend, sie sei nicht
ordnungsgemäß zugestellt worden.
Am … 2011 heiratete der Kläger seine Verlobte.
Durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 11. August 2011 wurde der Kläger wegen
illegaler Einreise in Tateinheit mit illegalem Aufenthalt zu einer Geldstrafe von 60 Tages-
sätzen verurteilt.
Mit Bescheid vom 1. September 2011 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG oder § 25
Abs. 5 AufenthG ab. Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 28. September 2011
Widerspruch.
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtete das Berufungsgericht mit
Beschluss vom 9. Mai 2012 (4 Bs 15/12, juris) die Beklagte, die beabsichtigte
Abschiebung des Klägers einstweilen auszusetzen. Mit Schreiben vom 14. Juni 2012
teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie betrachte die Ausweisungsverfügung vom 20.
Februar 2003 als obsolet und habe diese im Register gelöscht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2012 wies die Beklagte den Widerspruch des
Klägers zurück. Sie verwies u.a. darauf, nach der Aufhebung der Ausweisung vom 20.
Februar 2003 sei die Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 AufenthG weggefallen. Der Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis stehe aber entgegen, dass es an den allgemeinen
Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG fehle. Es liege ein Ausweisungsgrund i.S.d.
§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, weil das Verhalten des Klägers den Tatbestand des § 55
Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfülle. Das Vorliegen eines abstrakten Ausweisungsgrundes sei
ausreichend. Eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG liege nicht vor. Der Sachverhalt unterscheide sich nicht von demjenigen
anderer Ausländer, die mit deutschen Staatsangehörigen die Ehe geschlossen hätten.
Der Umstand, dass es familiäre Bindungen gebe, sei allein im Rahmen der
Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen. Dabei übe
sie, die Beklagte, das Ermessen zu Ungunsten des Klägers aus. Das öffentliche Interesse
an einem geregelten Visumverfahren und damit an der staatlichen Steuerung der
Zuwanderung überwiege das Interesse des Klägers an der sofortigen Aufnahme bzw.
Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Der Kläger sei nicht mit dem
erforderlichen Visum im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eingereist. Dem
Kläger könne die Aufenthaltserlaubnis auch nicht visumfrei nach § 39 der
Aufenthaltsverordnung (AufenthV) erteilt werden. Die Voraussetzungen für ein Absehen
von der Erfüllung der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG seien nicht erfüllt. Ein
Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestehe nicht. Die Pflicht, das
Bundesgebiet vorübergehend zu verlassen, um das Visumverfahren nachzuholen, sei für
den Kläger zumutbar und verstoße nicht gegen seine Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6
Abs. 1 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK. Somit sei das Ermessen nicht eröffnet. Eine
Ausnahme von der Durchführung des Visumverfahrens im Fall des Ehegattennachzugs
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komme im Ergebnis nur nach § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Altern. AufenthG und nur in den auf
Seite 19 ff. der Fachanweisung der Behörde für Inneres und Sport zum Ausländerrecht Nr.
1/2012 aufgeführten Fällen in Betracht. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Die
Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG
lägen ebenfalls nicht vor.
Der Kläger hat am 29. Juni 2012 Klage erhoben und u.a. geltend gemacht: Ihm stehe ein
Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufentG zu. Zwar liege die negative Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG vor, es sei jedoch ein Ausnahmefall anzunehmen, weil er besonderen
Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG genieße. Von der Durchführung des
Visumverfahrens hätte die Beklagte absehen müssen. Die Beklagte habe das ihr nach § 5
Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Dieses
Ermessen sei auf Grund ihrer Fachanweisung Nr. 1/2012 gebunden, soweit darin
ausgeführt werde, dass in Fällen des Rechtsanspruchs aus familiären Gründen das
öffentliche Interesse an der ordnungsgemäßen Durchführung des Visumverfahrens
regelmäßig hinter dem durch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK gebotenen Schutz von Ehe und
Familie zurücktrete.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. September 2011 und des
Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2012 zu verpflichten, ihm eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG,
hilfsweise ihm eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide bezogen.
Der Klage hat das Verwaltungsgericht Hamburg durch Urteil vom 24. Januar 2013
stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. September 2011
und des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2012 verpflichtet, dem Kläger eine
Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu erteilen.
Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Der Kläger habe einen Anspruch auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, ohne vorher ausreisen
und das Visumverfahren durchführen zu müssen. Er erfülle die Voraussetzungen der §§
28 Abs. 1 Satz 1, Satz 5, 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Den Nachweis über deutsche
Sprachkenntnisse habe er erbracht. Auch § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stehe der Erteilung
der begehrten Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Zwar liege ein Ausweisungsgrund
vor, weil der Kläger unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist sei und sich hier illegal
aufgehalten habe. In seinem Fall liege jedoch kein Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG vor, sondern ein Ausnahmefall. Der Kläger genieße als Ehegatte einer
deutschen Staatsangehörigen nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG besonderen
Ausweisungsschutz. Diese in § 56 AufenthG zum Ausdruck kommende Wertung sei bei §
5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu berücksichtigen. Auch bestehe keine Wiederholungsgefahr.
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe auch § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht
entgegen. Der Kläger erfülle wegen seiner illegalen Einreise zwar nicht die
Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Er könne einen Anspruch auch nicht
auf § 39 Nr. 5 AufenthV stützen. Es sei aber das Ermessen für eine Entscheidung nach §
5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG eröffnet. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lägen vor. Das Ermessen der Beklagten sei zu
Gunsten des Klägers auf Null reduziert. Es sei durch die Fachanweisung Nr. 1/2012,
Seite 17 ff., 20 entsprechend gebunden.
Mit der vom Berufungsgericht mit Beschluss vom 17. April 2013 zugelassenen und am 7.
Mai 2013 begründeten Berufung macht die Beklagte u.a. geltend: Zu Unrecht gehe das
Verwaltungsgericht davon aus, dass der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis kein
Ausweisungsgrund i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstehe. Der Kläger habe
einen Ausweisungsgrund verwirklicht. Es komme nicht darauf an, ob er im konkreten Fall
– etwa wegen besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG
- tatsächlich (nicht) ausgewiesen werden könne. Auch sei es unerheblich, ob die Gefahr
der Begehung neuer Straftaten drohe. Es gehe hier nicht um die Durchsetzung der
Ausweisung und ein längeres Fernhalten des Klägers, sondern nur um die Einhaltung
des Visumverfahrens, das üblicherweise drei bis vier Monate dauere und an dessen
Durchsetzung auch bei mit Deutschen verheirateten Ausländern ein öffentliches Interesse
bestehe. Der aufgrund besonderer familiärer Bindungen im Bundesgebiet bestehende
besondere Ausweisungsschutz sei allein im Rahmen der Ermessensausübung nach § 27
Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen, nicht aber bei der Prüfung eines
Ausnahmefalls nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Entgegen der Ansicht des
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Verwaltungsgerichts sei die Ausnahmeregelung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht
gegeben, weil ein gesetzlicher Anspruch nicht bestehe. Bei der illegalen Einreise träfen
zwei Tatbestandsmerkmale zusammen: der Ausweisungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG und der Visumverstoß nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Diese
Rechtsgrundlagen dürften nicht vermischt werden. Ein gesetzlicher Anspruch im Sinne
des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG könne nie vorliegen, wenn ein Ausländer zur
Eheschließung illegal eingereist sei und sich später dauerhaft hier aufhalten wolle. Ferner
sei die Annahme des Verwaltungsgerichts falsch, das Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG sei im Fall eines gesetzlichen Anspruchs aufgrund der früheren und der
nunmehr geltenden Fachanweisung der Behörde für Inneres und Sport zum
Ausländerrecht Nr. 1/2013 auf Null reduziert. Die Ausführungen auf Seite 22 der aktuellen
Fachanweisung bezögen sich auf sonstige Fälle des Rechtsanspruchs aus familiären
Gründen und ausdrücklich nicht auf Fälle des Ehegattennachzugs.
Für den Fall, dass das Berufungsgericht weiterhin von einem gesetzlichen Anspruch i.S.d.
§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ausgehe und damit das nach dieser Vorschrift gegebene
Ermessen als eröffnet ansehe, übe sie, die Beklagte, hilfsweise dieses Ermessen wie
folgt aus: Sie habe zwischen dem Interesse des Klägers an der ununterbrochenen
Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet und dem öffentlichen
Interesse an der Durchführung des Visumverfahrens abzuwägen. Das private Interesse
des Klägers ergebe sich u.a. daraus, dass ihm Kosten für Aus- und Wiedereinreise
entstünden. Außerdem wären die Eheleute etwa drei bis vier Monate getrennt. Der Kläger
habe aber die Situation selbst herbeigeführt, weil er - bereits zum zweiten Mal - bewusst
unerlaubt eingereist sei. Er habe gezeigt, dass er die Einreisevorschriften nicht einhalten
wolle und sogar in Kauf nehme, gegen Strafvorschriften zu verstoßen. Es bestehe ein
öffentliches Interesse an dem geregelten Zuzug von Ausländern, die sich auf Dauer im
Bundesgebiet niederlassen wollten. Dieses öffentliche Interesse umfasse auch die
staatliche Pflicht, Schaden von den berechtigt im Bundesgebiet lebenden Personen
möglichst abzuhalten. Dies erfordere die Kontrolle der einreisewilligen Personen, die
einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet anstrebten, vor ihrer Einreise. Das öffentliche
Interesse an der Durchführung des Visumverfahrens entfalle auch dann nicht, wenn sich
im konkreten Einzelfall herausstelle, dass der unerlaubt eingereiste Ausländer keine
konkrete Gefahr darstelle oder sonst die öffentlichen Belange nicht beeinträchtige.
Anderenfalls werde strafbares Verhalten prämiert. Die für den Kläger durch das
Nachholen des Visumverfahrens entstehenden Nachteile seien gegenüber dem
dargestellten öffentlichen Interesse von weitaus geringerer Bedeutung und stellten für ihn
auch keine unzumutbare Belastung dar.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 24. Januar 2013 zu ändern
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er macht u.a. geltend, die Beklagte verkenne, dass § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG alle
denkbaren Ausweisungsgründe betreffe, während nur § 5 Abs. 2 die Frage der
unerlaubten Einreise und Ausnahmen hiervon regle. In jedem Einzelfall, in dem ein
Ausweisungsgrund vorliege, müsse geprüft werden, ob ein Ausnahmefall gegeben sei.
Bei dieser Prüfung sei es aber verfehlt, auf die Rechtsfolgen abzustellen, die sich aus der
Feststellung eines Ausnahmefalls im Hinblick auf die Ausnahmemöglichkeiten des § 5
Abs. 2 Satz 2 AufenthG ergäben. Die Beklagte sei zu Unrecht im Hinblick auf ihr Ziel, die
Visumpflicht durchzusetzen, in Fällen wie dem vorliegenden generell der Ansicht, dass
eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
nicht angenommen werden könne. Gerade wenn diese Regelerteilungsvoraussetzung mit
dem Grundrecht aus Art. 6 GG und mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbaren sei, müsse ein
Ausnahmefall anerkannt werden.
Im Hinblick auf das der Beklagten nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufentG eingeräumte
Ermessen bestehe eine Ermessensbindung aufgrund der nunmehr geltenden
Fachanweisung Nr. 1/2013. Die in der Fachanweisung für den Fall des § 5 Abs. 2 Satz 2
2. Altern. AufenthG beim Ehegattennachzug bindend festgelegten
Ermessenserwägungen gälten auch für den Fall eines gesetzlichen Anspruchs nach § 5
Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG. Eine voraussichtlich lange Dauer der Trennung von
Familienangehörigen aufgrund der Nachholung des Visumverfahrens rechtfertige einen
ausnahmsweisen Verzicht auf die Nachholung aus familiären Gründen. Eine solch lange
Trennung sei wegen des 15-monatigen Wehrdienstes zu erwarten. Die im Rahmen des §
5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG von der Beklagten jetzt angestellten
Ermessenserwägungen seien fehlerhaft, weil die Beklagte von einer Trennungszeit von
drei bis vier Monaten für die Dauer des Visumverfahrens ausgehe, der in der Türkei bei
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seiner Rückkehr noch abzuleistende Militärdienst aber 15 Monate betrage. Die
Ermessenerwägungen seien auch deshalb zu beanstanden, weil die Beklagte geltend
mache, der Gesetzgeber halte auch in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich am
Visumverfahren fest. Damit verkenne die Beklagte, dass das ihr nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG eingeräumte Ermessen gerade ermögliche, hiervon anzusehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die
Gerichtsakte, die Gerichtsakte des Verfahrens 4 Bs 15/12, die Sachakten der Beklagten
und den Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die Türkei vom 26. August 2012 Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet. Das Verwaltungsgericht hat
der Klage zu Unrecht vollen Umfangs stattgegeben. Die zulässige Klage des Klägers hat
nur insoweit Erfolg, als die Beklagte verpflichtet wird, über seinen Antrag auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG unter Berücksichtigung
der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden; insoweit ist das angefochtene
Urteil des Verwaltungsgerichts abzuändern. Die darüber hinausgehende Berufung hat
keinen Erfolg.
I.
Die zulässige Klage des Klägers ist teilweise begründet.
Der Bescheid vom 1. September 2011 und der Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2012
sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten, soweit die Beklagte
seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG zum Zweck des Zusammenlebens mit seiner deutschen Ehefrau abgelehnt hat
(dazu unter 1.). Die Sache ist aber nicht spruchreif. Deshalb hat der Kläger lediglich einen
Anspruch darauf, dass die Beklagte über seinen Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entscheidet
(§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, dazu unter 2.).
1. Die Beklagte hat es in rechtswidriger Weise abgelehnt, dem Kläger die beantragte
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf
Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (st. Rspr., BVerwG, Urt. v.
13.6.2013, 10 C 24.12, juris Rn. 8; Urt. v. 7.4.2009, 1 C 17.08, BVerwGE 133, 329, juris
Rn. 10). Daher ist dem Begehren des Klägers das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der
Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des
Änderungsgesetzes vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3556), zu Grunde zu legen.
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht nicht
bereits § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. Denn aus dem Schreiben der Beklagten
vom 14. Juni 2012 ergibt sich, dass sie die Ausweisungsverfügung vom 20. März 2012
aufgehoben hat. Dies hat sie im Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2012 bestätigt.
Die für die Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis erforderlichen besonderen
Erteilungsvoraussetzungen (hierzu unter a) sowie die für jeden Aufenthaltstitel
erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG liegen
vor (hierzu unter b). Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht zwingend
entgegen, dass der Kläger ohne das erforderliche Visum eingereist ist, da der Beklagten
Ermessen eingeräumt ist, von dieser Anforderung abzusehen (hierzu unter c). Die
Beklagte hat von diesem Ermessen allerdings nicht bzw. fehlerhaft Gebrauch gemacht
(hierzu unter d).
a) Die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für die beantragte Aufenthaltserlaubnis
zum Zwecke der Familienzusammenführung liegen vor.
Der Kläger hat für einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nachgewiesen, dass er den Aufenthaltstitel als Ehegatte
seiner deutschen Ehefrau erstrebt, um mit ihr in der Bundesrepublik zusammenzuleben.
Zweifel daran, dass der Kläger mit seiner Ehefrau eine eheliche Lebensgemeinschaft
führt, bestehen nicht.
Der Kläger erfüllt zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auch
die in §§ 28 Abs. 1 Satz 5, 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vorgesehene Voraussetzung,
sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können. Er hat
bereits im Verwaltungsverfahren einen Nachweis darüber vorgelegt, dass er die deutsche
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Sprache auf dem Niveau A1 beherrscht (Bescheinigung des Diakonie – Cafes „Why Not“
vom 23.1.2012). Unerheblich ist, dass der Kläger die deutschen Sprachkenntnisse erst in
der Bundesrepublik erworben und nachgewiesen hat (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v.
12.9.2011, 4 Bs 153/11, m.w.N., n.v.). Weder dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AufenthG noch der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 173 f.) lässt sich
entnehmen, dass der Nachweis über deutsche Sprachkenntnisse zwingend vor der
Einreise erbracht werden muss. Deshalb besteht kein Grund, von dem allgemeinen
Grundsatz für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage abzuweichen und nicht auf den
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v.
12.9.2011, 4 Bs 153/11; Beschl. v. 27.9.2010, 2 Bs 183/10, NordÖR 2011, 250). Dies wird
auch von der Beklagten nicht mehr in Zweifel gezogen.
b) Die für jeden Aufenthaltstitel erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen
des § 5 Abs. 1 AufenthG sind ebenfalls erfüllt.
aa) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel
voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dahinstehen kann, ob eine Berechnung
des Einkommens der Eheleute ergeben würde, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt
in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel sichern kann. Denn auch
ein möglicher Anspruch des Klägers auf öffentliche Leistungen stünde der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Die Aufenthaltserlaubnis zur
Familienzusammenführung mit einem deutschen Ehepartner soll nach § 28 Abs. 1 Satz 3
AufentG in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in den Fällen des Satzes
1 Nr. 1 erteilt werden. Besondere Umstände, die es gebieten, ausnahmsweise entgegen
der gesetzlichen Regel den Ehegattennachzug von einer Sicherung des
Lebensunterhalts abhängig zu machen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 4.9.2012, 10 C 12.12,
BVerwGE 144, 141, juris Rn. 30), liegen nicht vor.
bb) Der Kläger ist im Besitz eines gültigen Nationalpasses (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).
cc) Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ebenfalls
gegeben. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis setzt danach in der Regel voraus, dass
kein Ausweisungsgrund vorliegt. Ein Ausweisungsgrund liegt zwar vor, allerdings steht
dieser der Erteilung nicht entgegen, da eine Ausnahme von der Regel anzunehmen ist.
(1) Ein Ausweisungsgrund liegt vor. Der Kläger, der nach eigenen Angaben am 6. März
2010 illegal in die Bundesrepublik eingereist ist, hat durch diese illegale Einreise und
durch seinen anschließenden (nach eigenem Vortrag) 13-monatigen illegalen Aufenthalt
einen Ausweisungsgrund verwirklicht.
Ein Ausweisungsgrund i. S. d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG liegt dann vor, wenn einer der
Tatbestände der §§ 53 bis 55 AufenthG erfüllt ist. Das ist der Fall. Der Kläger hat einen
nicht geringfügigen Rechtsverstoß im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG begangen. Er
hat durch seine illegale Einreise und den illegalen Aufenthalt bis April 2011 gegen §§ 4,
14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verstoßen und damit den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2
und 3 AufenthG vorsätzlich verwirklicht. Vorsätzlich begangene Straftaten stellen
grundsätzlich keinen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne von § 55
Abs. 2 Satz 2 AufenthG dar (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.6.1998, 1 C 27.96, BVerwGE 107, 58,
juris Rn. 27). Die hier begangenen Verstöße rechtfertigen nicht ausnahmsweise eine
andere Bewertung.
Für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes ist die Verwirklichung des Tatbestandes
des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ausreichend, ohne dass es in diesem Zusammenhang auf
die Zulässigkeit der Ausweisung im Einzelfall und das Eingreifen eines besonderen
Ausweisungsschutzes ankommt (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand Juli 2013, § 5
Rn. 55 f.). Es ist somit nicht erforderlich, dass der Ausländer ermessensfehlerfrei
ausgewiesen werden könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2002, 1 C 8/02, BVerwGE 116,
378, juris Rn. 20; OVG Hamburg, Beschl. v. 26.10.2011, 5 Bs 158/11, AuAS 2012, 2, juris
Rn. 18; Beschl. v. 21.7.2010, 3 Bs 58/10, AuAS 2010, 256, juris Rn. 14; BayVGH, Beschl.
v. 3.1.2007, 24 CS 06.2634, juris Rn. 13).
Der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geht nicht § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
als speziellere Regelung im – hier vorliegenden - Fall eines Verstoßes gegen
Einreisevorschriften vor. Diese weitere allgemeine Erteilungsvoraussetzung verlangt die
Einreise mit dem erforderlichen Visum und regelt damit die Verletzung von
Einreisevorschriften ausdrücklich als einen der Erteilung eines Aufenthaltstitels
entgegenstehenden Tatbestand; sie sieht ein eigenständiges Prüfungs- und
Entscheidungsprogramm vor. Der Verstoß gegen Visumvorschriften hindert aber nicht die
Prüfung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Zwar könnte die innere Systematik des § 5 Abs. 1
Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG darauf hindeuten, dass solche
Ausweisungsgründe von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausgeschlossen
sind, die Gegenstand der Regelung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind. Allerdings ist §
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5 Abs. 2 AufenthG nicht als in diesem Sinne speziellere Regelung zu verstehen. Die
Vorschrift steht ausdrücklich neben dem allgemein und umfassend formulierten Abs. 1 mit
der Folge, dass der konkrete Sachverhalt sowohl an der (negativen)
Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als auch an der
Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu messen ist (so im
Ergebnis: BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, 278, juris Rn. 21, 23, 24;
Urt. v. 16.11.2010, 1 C 17.09, BVerwGE 138, 122, juris Rn. 24, 27).
(2) Im Fall des Klägers liegt nicht der Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor.
Vielmehr ist ein Ausnahmefall gegeben mit der Folge, dass der bestehende
Ausweisungsgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht.
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG hindert ein Ausweisungsgrund die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis in der Regel, d.h. nur dann, wenn nicht ein Ausnahmefall
anzunehmen ist. Dieser ist für jede einzelne Norm und für jeden Einzelfall zu prüfen. Ein
Ausnahmefall liegt vor, wenn ein atypischer Sachverhalt gegeben ist, der sich von der
Menge gleich liegender Fälle durch besondere Umstände unterscheidet, die so
bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht des der
Regelerteilungsvoraussetzung zugrunde liegenden öffentlichen Interesses beseitigen.
Auch Rechtsgründe, etwa verfassungsrechtliche Wertentscheidungen, insbesondere aus
Art. 6 Abs. 1 GG, können die Annahme eines Ausnahmefalles gebieten (vgl. BVerwG, Urt.
v. 13.6.2013, 10 C 16.12, InfAuslR 2013, 364, juris Rn. 16; Urt. v. 22.5.2012, 1 C 6.11,
BVerwGE 143, 150, juris Rn. 11; Urt. v. 26.8.2008, 1 C 32.07, BVerwGE 131, 370, juris
Rn. 27; OVG Bautzen, Beschl. v. 7.3.2013, 3 A 132/12, juris Rn. 56; OVG Hamburg,
Beschl. v. 16.6.2011, 3 Bf 361/06, BA S. 4 f.; OVG Bremen, Beschl. v. 27.10.2009, 1 B
224/09, ZAR 2010, 32, juris Rn. 25; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand Juli 2013, § 5 Rn.
22, 62; Hailbronner, AuslR, Stand April 2013/Juni 2011, § 5 Rn. 6). Ob ein solcher
Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar (BVerwG, Urt. v. 22.5.2012, 1 C 6.11,
BVerwGE 143, 150, juris Rn. 11 m.w.N.). Nach diesem Maßstab liegt im Fall des Klägers
ein Sachverhalt vor, der im Hinblick auf den Regelungszweck der Norm vom Regelfall
abweichende besondere Umstände aufweist.
Die Annahme eines Ausnahmefalls scheidet entgegen der Auffassung der Beklagten
nicht bereits deshalb aus, weil sich - wie die Beklagte meint - der Kläger nicht von
anderen deutschverheirateten Ausländern unterscheide. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist
nicht auf eine bestimmte Gruppe von Ausländern ausgerichtet. Sie betrifft alle Ausländer
und nicht nur diejenigen, die mit deutschen Staatsangehörigen verheiratet sind. Die
Regelung betrifft auch keineswegs nur Ausweisungsgründe, die auf Verstößen gegen
Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beruhen, sondern alle denkbaren
Ausweisungsgründe, insbesondere auch solche, die so gewichtig sind, dass sie
zwingend oder regelhaft zur Ausweisung führen würden. In jeder denkbaren Konstellation
kann daher ein Ausnahmefall vorliegen.
Die besonderen, einen atypischen Sachverhalt begründenden Umstände beruhen darauf,
dass der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen in ehelicher Lebensgemeinschaft
lebt und dass der Ausweisungsgrund allein in der Einreise ohne das erforderliche Visum
und dem anschließenden Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen besteht. Im
Hinblick auf den Regelungszweck des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bedarf es bei
deutschverheirateten Ausländern, bei denen der Ausweisungsgrund allein in dem oben
genannten Verstoß gegen die Einreise- und Aufenthaltsvorschriften besteht, einer
besonderen Bewertung. Auf sie lassen sich die Rechtsfolgen, die für den Regelfall gelten,
nicht ohne Weiteres übertragen. Bereits die Bewertung der ehelichen
Lebensgemeinschaft mit deutschen Staatsangehörigen im Ausländerrecht zeigt, dass hier
gegenüber dem Regelfall eine differenzierende Betrachtung angezeigt ist. Eine
differenzierende Betrachtung ist zudem angezeigt, wenn es um das Gewicht geht, das
dem oben genannten Verstoß gegen die Einreise- und Aufenthaltsvorschriften durch
deutschverheiratete Ausländer zukommt. Im Einzelnen:
Regelungszweck des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist es, solchen Personen den Aufenthalt
zu verwehren, deren Aufenthalt die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder sonstige
Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 55 Abs. 1 AufenthG
beeinträchtigt (vgl. Funke-Kaiser, in GK-AufenthG, Stand August 2013, § 5 Rn. 63,
m.w.N.). Soweit der Ausweisungsgrund darin besteht, dass der Ausländer gegen
Rechtsvorschriften verstoßen und möglicherweise sogar Straftaten begangen hat, liegt
dem ein (auch) spezialpräventiver Ansatz zugrunde; es sollen gegenwärtige bzw. in
absehbarer Zukunft zu befürchtende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit durch
Versagung eines Aufenthaltsrechts abgewendet werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v.
10.12.2010, 18 B 1598/10, juris Rn. 3). Dieser Zweck verliert an Gewicht, wenn es - wie
es hier der Fall ist - um Ausländer geht, die mit deutschen Staatsangehörigen verheiratet
sind, und wenn deren Verstoß gegen die Rechtsordnung allein in dem oben genannten
Verstoß gegen die Einreise- und Aufenthaltsvorschriften besteht. Denn nach den
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Wertungen des Aufenthaltsgesetzes soll in einem derartigen Fall ein Aufenthalt in
Deutschland nicht zwingend verwehrt werden.
Die deutschverheiratete Ausländer betreffenden aufenthaltsrechtlichen Regelungen sind
wegen der Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK grundsätzlich auf die
Gewährleistung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet ausgerichtet. Für
die ausländischen Ehepartner Deutscher gelten erleichterte Anforderungen an die
Erteilung eines Aufenthaltstitels (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AufenthG) und an die
Aufrechterhaltung des Aufenthalts sowie höhere rechtliche Hürden bei der Beendigung
des Aufenthalts. Ehegatten deutscher Staatsangehöriger genießen nach § 56 Abs. 1 Satz
1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz und können deshalb jedenfalls
hinsichtlich der hier relevanten Straftaten wegen illegaler Einreise und illegalen
Aufenthalts nicht ausgewiesen werden; dies wäre nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur
aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung möglich, an
denen es hier fehlt. Der Einbeziehung von ausländischen Ehegatten deutscher
Staatsangehöriger in den besonderen Ausweisungsschutz trägt Art. 6 Abs. 1 GG
Rechnung. Auch aus Art. 8 EMRK folgt, dass jedenfalls dann, wenn eine Ausweisung zur
Trennung der Ehegatten führt, ein qualifizierter Ausweisungsgrund gegeben sein muss
(vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 27.10.2009, 1 B 224/09, ZAR 2010, 32, juris Rn. 30,
m.w.N.). Der hier verwirklichte Ausweisungsgrund würde somit nicht zu einer Beendigung
des Aufenthaltes führen; ein bestehender Aufenthaltstitel würde nicht nach § 51 Abs. 1 Nr.
5 AufenthG durch Ausweisung erlöschen (gegen die Berücksichtigung einer solchen
Wertung im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG: OVG Hamburg, Beschl. v. 19.6.2013,
3 Bs 163/13, n.v.).
Diese aufenthaltsrechtliche Bewertung bestehender ehelicher Lebensgemeinschaften mit
deutschen Staatsangehörigen schlägt auch auf das Gewicht durch, das dem
Ausweisungsgrund für die Frage zukommt, ob eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden
kann. Beruht der von einem deutschverheirateten Ausländer verwirklichte
Ausweisungsgrund im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausschließlich auf
Rechtsverstößen, die unmittelbar durch die Einreise selbst und den anschließenden
illegalen Aufenthalt begründet sind, und bestehen keine Begleit- oder Folgedelikte wie
z.B. die Fälschung eines Visums oder vorsätzlich falsche Angaben gegenüber der
Botschaft zur Erlangung des Visums (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 16.11.2010
,
BVerwGE 138, 135; juris Rn. 24 f.), kommt dem Ausweisungsgrund seine vertypte
Gefahrenabwehrfunktion nicht mehr zu. Der spezialpräventive Zweck der (negativen)
Erteilungsvoraussetzung geht ins Leere. In diesem Fall ist der Ausweisungsgrund nicht
beachtlich, da die öffentliche Sicherheit und Ordnung aktuell nicht mehr beeinträchtigt
wird (zu diesem Maßstab vgl. auch Nr. 5.1.2.2 der Verwaltungsvorschrift zum
Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009, GMBl. S. 877, 918). Denn eine zukünftige
Wiederholung der Verstöße gegen die Einreisevorschriften ist grundsätzlich
ausgeschlossen. Ein Ausländer, der mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet
ist, hat - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – regelmäßig ein Aufenthaltsrecht
und kann einen Aufenthaltstitel nach §§ 4 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
beanspruchen. Damit sind bezogen auf den Aufenthaltszweck der ehelichen
Lebensgemeinschaft ein erneuter Verstoß gegen Visumbestimmungen sowie ein illegaler
Aufenthalt und damit eine erneute Verletzung der einschlägigen Strafvorschriften (§ 95
Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG) nicht zu erwarten (in diesem Sinne auch: VGH Mannheim,
Beschl. v. 20.9.2012, 11 S 1608/12, InfAuslR 2013, 30, juris Rn. 5).
(3) Das Regel- / Ausnahmeverhältnis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wird in dem - hier
vorliegenden - Fall, dass familiäre Bindungen zu berücksichtigen sind, nicht durch die
Vorschrift des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verdrängt.
Familiäre Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet sind bereits bei der Frage zu
berücksichtigen, ob im konkreten Fall eine Ausnahme von der (negativen)
Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, und sie können
zur Annahme einer Ausnahme führen. Familiäre Bindungen sind entgegen der
Auffassung der Beklagten nicht erst und ausschließlich im Rahmen der
Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen. Denn § 27
Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wonach von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden kann,
steht zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht in einem Verhältnis der Spezialität (a.A. OVG
Magdeburg, Beschl. v. 9.2.2009, 2 M 276/08, juris Rn. 25; OVG Lüneburg, Urt. v.
27.4.2006, 5 LC 110/05, NVwZ-RR 2007, 62, juris Rn. 50; diese Frage nicht ansprechend:
BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, 292, juris Rn. 23).
Der Gesetzesbegründung zu § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (BT-Drs. 15/420, S. 81) lässt
sich zwar entnehmen, dass der Gesetzgeber die Vorstellung hatte, bei Vorliegen von
Ausweisungsgründen sei wie im bisherigen Recht (§ 17 Abs. 5 AuslG) eine
Ermessensentscheidung zu treffen. Weder die Gesetzessystematik noch der Wortlaut
oder Sinn und Zweck der Vorschrift lassen aber den Schluss zu, dass sie darauf gerichtet
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ist, die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dahingehend
einzuschränken, dass bei Vorliegen eines Ausweisungsgrundes familiäre Umstände
keinen Ausnahmefall begründen, sondern nur im Rahmen der Ermessensbetätigung nach
§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG berücksichtigt werden können (vgl. auch OVG Bautzen,
Beschl. v. 7.3.2013, 3 A 132/12, juris Rn. 54; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 5 Rn. 72).
§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG regelt allein die Möglichkeit, von einem sonst zwingend der
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehenden Ausweisungsgrund abzusehen.
Die Ermessenseröffnung knüpft damit an § 5 Abs. 1 AufenthG und das dieser Vorschrift
zugrunde liegende System von Regel und Ausnahme an. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
setzt voraus, dass ein Regelfall vorliegt. Denn im Falle einer Ausnahme stünde der
Ausweisungsgrund der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ohnehin nicht entgegen; einer
Ermessensentscheidung bedürfte es nicht. Die Vorschrift trifft hingegen keinerlei
Aussagen zum Gegenstand möglicher Ausweisungsgründe. Sie regelt insbesondere
nicht, wann die (negative) Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
vorliegt und unter welchen Umständen ein Ausnahmefall anzunehmen ist.
Zur Auslegung des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und damit auch des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG kann im Übrigen nicht auf die zum früheren § 7 Abs. 2 AuslG ergangene
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 29.7.1993, 1 C 25.93, BVerwGE
94, 35, juris Rn. 36) zurückgegriffen werden. Nach dieser Norm war im Falle einer
Ausnahme vom Regelfall Ermessen eröffnet. Das ist nach dem heutigen System des § 5
Abs. 1 AufenthG nicht der Fall. Vielmehr steht im Falle einer Ausnahme der
Ausweisungsgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis generell nicht entgegen.
Deshalb lässt sich die zum früheren Recht ergangene Rechtsprechung auf § 5 Abs. 1 Nr.
2 AufenthG nicht übertragen (vgl. zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 30.4.2009,
1 C 3.08, InfAuslR 2009, 333, juris Rn. 15).
(4) Liegt somit ein Ausnahmefall vor, ist die (negative) Erteilungsvoraussetzung des § 5
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, dass kein Ausweisungsgrund bestehen darf, erfüllt. Der gleichwohl
vorliegende Ausweisungsgrund steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht
entgegen. Insoweit folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v.
30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, 278, juris Rn. 23; Urt. v. 16.11.2010, 1 C 17.09,
BVerwGE 138, 122, juris Rn. 23) nichts anderes. Denn dort ist das
Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis von einem der Erteilung eines Aufenthaltstitels
entgegenstehenden Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausgegangen.
c) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitert nicht daran, dass der Kläger ohne
das erforderliche Visum eingereist ist. Zwar erfüllt der Kläger die weitere
Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht (hierzu unter aa).
Doch sind die Voraussetzungen gegeben, unter denen hiervon nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG abgesehen werden kann (hierzu unter bb).
aa) Der Kläger erfüllt nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 AufenthG.
(1) Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die
Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Daran fehlt es.
Der Kläger ist als türkischer Staatsangehöriger für die Einreise und den Aufenthalt zum
Zweck der der Arbeitsaufnahme bzw. der Familienzusammenführung nach §§ 4, 6 Abs. 3
AufenthG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März
2001 (ABl. EG Nr. L 81 S. 1) und deren Anhang I visumpflichtig. Ein solches Visum hat
der Kläger vor seiner Einreise nicht eingeholt.
(2) Die Möglichkeit zur visumfreien Einreise folgt nicht aus dem Verschlechterungsverbot
des Art. 13 ARB 1/80.
Der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der
Assoziation vom 19. September 1980 (ANBA 1981 S. 4) - ARB 1/80 - berührt nicht die
Befugnis der Mitgliedstaaten, Vorschriften über die Einreise türkischer Staatsangehöriger
in ihr Hoheitsgebiet und über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu
erlassen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.12.1992, Rs. C-237/91 [Kus], Slg. 1992, I-06781, Rn. 25).
Selbst wenn Art. 13 ARB 1/80 auch in Bezug auf die erstmalige Aufnahme türkischer
Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats der Einführung neuer
Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit entgegenstehen sollte, kann sich dies nur
auf solche Personen beziehen, die von dieser Freizügigkeit Gebrauch machen wollen
(vgl. BVerwG, Urt. v. 30.3.2010, 1 C 8.09, BVerwGE 136, 231, juris Rn. 20). Der Kläger als
Ehemann einer deutschen Staatsangehörigen begehrt aber einen Aufenthaltstitel zum
Zweck der Familienzusammenführung. Im Übrigen wäre eine Verschlechterung seiner
Rechtsposition, der die Stillhalteklausel entgegenwirken könnte, jedenfalls nicht
festzustellen. Er wäre weder im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 13 ARB 1/80 am 1.
Dezember 1980 (vgl. Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80) noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt
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berechtigt gewesen, ohne das erforderliche Visum in das Bundesgebiet einzureisen.
Nach § 5 Abs. 2 AuslG 1965 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 DV AuslG in der Fassung der 11.
Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom
1. Juli 1980 (BGBl. I 1980, 782), in Kraft getreten am 5. Oktober 1980, galt das Erfordernis
einer vor der Einreise in der Form eines Sichtvermerks einzuholenden
Aufenthaltserlaubnis für einen geplanten Daueraufenthalt u.a. für die Staatsangehörigen
eines Staates, der - wie die Türkei - in der Anlage zur Verordnung nicht aufgeführt war.
Entsprechendes galt für den Kläger nach § 3 Abs. 3 AuslG 1990 i.V.m. §§ 2, 9 f. DVAuslG
vom 18. Dezember 1990 (BGBl. I 2983). Soweit der Kläger auch beabsichtigt, eine
Erwerbstätigkeit aufzunehmen, folgt für ihn aus der Stillhalteklausel ebenfalls keine
Befreiung von der Visumpflicht. Denn schon vor Inkrafttreten des Art. 7 ARB 2/76 und des
Art. 6 ARB 1/80 bestand für den Aufenthaltszweck der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit
nach § 5 Abs. 2 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353 - AuslG 1965)
i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes 1965
(hier in der Fassung der Bekanntmachung vom 29. Juni 1976, BGBl. I S. 1717) das
Erfordernis, vor der Einreise eine Aufenthaltserlaubnis in Form eines Sichtvermerks
(Visum) einzuholen (vgl. hierzu OVG Hamburg, Beschl. v. 16.7.2013, 4 Bs 162/13, n.v.;
OVG Saarlouis, Beschl. v. 2.5.2012, 2 B 47/12, juris Rn. 15).
(3) Die Visumpflicht entfällt auch nicht wegen Art. 41 des Zusatzprotokolls zum
Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der
Assoziation (BGBl. 1972 II S. 385) - ZP-. Nach dem am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen
Art. 41 Abs. 1 ZP verpflichten sich die Vertragsparteien, untereinander keine neuen
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs
einzuführen. Es fehlt bereits an einer neuen Beschränkung, soweit türkische
Staatsangehörige – wie möglicherweise der Kläger bei seiner Einreise – im Bundesgebiet
eine Erwerbstätigkeit ausüben wollen. Denn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 41
ZP bestand für diese die Visumpflicht (s.o.). In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die
Vorschriften über die Assoziation EWG-Türkei nicht die Befugnis der Mitgliedsstaaten
berühren, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr
Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu
erlassen, und lediglich die Stellung türkischer Arbeitnehmer regeln, die bereits
ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten eingegliedert sind (vgl. EuGH,
Urt. v. 11.5.2000, Rs. C-37/98 [Savas], Slg. 2000, I-20927 Rn. 58). Mit dem
Familiennachzug strebt der Kläger einen dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet an;
dieser unterfällt weder der Niederlassungs- noch der Dienstleistungsfreiheit (vgl. BVerwG,
Urt. v. 30.3.2010, 1 C 8.09, BVerwGE 136, 231, juris Rn. 19; OVG Hamburg, Beschl. v.
11.2.2013, 4 Bs 162/12, S. 12 f. BA, n.v.; OVG Münster, Beschl. v. 11.7.2012, 18 B 562/12,
juris Rn. 4 ff.; OVG Saarlouis, Beschl. v. 2.5.2012, 2 B 47/12, juris Rn. 13). Die
Stillhalteklausel ist im Übrigen auch nicht geeignet, türkischen Staatsangehörigen, die nur
Dienstleistungen in einem Mitgliedsstaat empfangen wollen, allein auf der Grundlage des
Unionsrechts ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu
verleihen oder ein Recht auf visumfreie Einreise zu verschaffen. Denn der dort
verwendete Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs umfasst nicht die Freiheit türkischer
Staatsangehöriger, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben,
um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, Urt. v. 24.9.2013, Rs. C-
221/11 [Demirkan], NVwZ 2013, 1465).
(4) Der Kläger kann die Aufenthaltserlaubnis auch nicht abweichend von § 5 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG nach § 39 Nr. 5 AufenthV ohne vorherige Ausreise einholen.
Gemäß § 39 Nr. 5 AufenthV kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet
einholen, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt ist und er auf Grund
einer Eheschließung im Bundesgebiet während seines Aufenthalts im Bundesgebiet
einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Der Kläger war
weder zum Zeitpunkt der Antragstellung oder der letzten Behördenentscheidung noch
zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Besitz einer Duldung, wie sie § 39
Nr. 5 AufenthV voraussetzt. Zum Zeitpunkt der Antragstellung besaß der Kläger noch
keine Duldung und auf die Duldungen, die ihm nach der Eheschließung bis jetzt erteilt
wurden, kann sich der Kläger nicht berufen. Diese Duldungen dienten dem Zweck, ihm
die Vorbereitung einer freiwilligen Ausreise zu ermöglichen und anschließend seine
Abschiebung vorzubereiten bzw. gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Es
widerspräche dem Sinn der Regelung in § 39 Nr. 5 AufenthV, wenn eine
Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift auch dann in zulässiger Weise im
Bundesgebiet eingeholt werden dürfte, wenn gerade über diese – von der Behörde
verneinte – Berechtigung Streit besteht und die Duldungserteilung im Hinblick auf eine
von der Behörde betriebene baldige Aufenthaltsbeendigung erfolgt (vgl. OVG Hamburg,
Beschl. v. 9.5.2012, 4 Bs 15/12, juris Rn. 37; Beschl. v. 16.11.2010, 4 Bs 220/10, AuAS
2011, 65, juris Rn. 10 ff.; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2012, OVG 11 S
6.12, juris Rn. 10, OVG Münster, Beschl. v. 30.4.2010, 18 B 180/10, juris Rn. 10).
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bb) Die Tatbestandsvoraussetzungen, unter denen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
Ermessen eröffnet ist, von der Einhaltung des Visumverfahrens abzusehen, liegen vor.
Das ist der Fall, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind (1.
Altern.) oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das
Visumverfahren nachzuholen (2. Altern.). Zwar ist das Ermessen nicht nach § 5 Abs. 2
Satz 2 2. Altern. AufenthG eröffnet (hierzu unter (1)). Der Kläger hat aber einen
Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, sodass die Beklagte Ermessen
nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG auszuüben hat (hierzu unter (2)).
(1) Für den Kläger ist es nicht auf Grund besonderer Umstände unzumutbar im Sinne des
§ 5 Abs. 2 Satz 2 2. Altern. AufenthG, das Visumverfahren nachzuholen. Gründe, die eine
zeitweise Trennung der Eheleute als unzumutbar erscheinen lassen, liegen nicht vor.
Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende
Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat,
verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren
die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich
berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem
Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG,
Beschl. v. 5.8.2013, 2 BvR 586/13, juris Rn. 12; Beschl. v. 12.5.1987, 2 BvR 1226/83, 2
BvR 101/84, 2 BvR 313/84, BVerfGE 76, 1, 49 ff., juris Rn. 103). Der Betroffene braucht es
nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte
daran gehindert zu werden, bei seinem im Bundesgebiet lebenden Ehepartner ständigen
Aufenthalt zu nehmen. Eingriffe in seine diesbezügliche Freiheit sind nur dann und
insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum
Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, 2 BvR
1367/10, NVwZ-RR 2011, 585, juris Rn. 14 m.w.N.).
Dass die zeitweise Trennung der Eheleute aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar
und deshalb unverhältnismäßig sein könnte, hat der Kläger nicht vorgetragen und dies ist
auch nicht ersichtlich. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass der wehrpflichtige Kläger nach
seiner Rückkehr in die Türkei den Wehrdienst ableisten muss, der grundsätzlich 15
Monate andauert (vgl. zu den altersmäßigen Anforderungen und zur Dauer des
obligatorischen Wehrdienstes: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.8.2012, S. 17
f.). Eine Trennung von seiner Ehefrau für diese Zeit erscheint allerdings auch unter
Berücksichtigung der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten privaten Interessen der Eheleute
nicht unverhältnismäßig.
Nachzugshindernisse von begrenzter Zeitdauer, wie es das Visumverfahren darstellt, sind
auch beim Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen nicht von vornherein
verfassungswidrig (vgl. zum Visumverfahren: BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, 2 BvR
1367/10, juris Rn. 15; Beschl. v. 4.12.2007, 2 BvR 2341/06, InfAuslR 2008, 239 f., juris Rn.
6; BVerwG, Urt. v. 11.1.2011, 1 C 23.09, BVerwGE 138, 353, juris Rn. 34). Ob eine Warte-
und Trennungszeit für Eheleute unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Ziele mit
der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist, bedarf vielmehr der Bewertung
des Einzelfalls.
Danach erweist sich die Trennungszeit von 15 Monaten, die - wenn der Kläger das
Visumverfahren nachholt - wegen des noch zu leistenden Wehrdienstes zu erwarten ist,
nicht als unverhältnismäßig. Zwar kann z.B. das gesetzlich verlangte Spracherfordernis
nach § 28 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz Nr. 2 AufenthG als
Nachzugsvoraussetzung im Visumverfahren das zumutbare Ausmaß der
Beeinträchtigung der durch Art. 6 Abs. 1 GG qualifiziert geschützten Belange des
ausländischen und des deutschen Ehegatten übersteigen und damit unzumutbar sein,
wenn es dem ausländischen Ehegatten aus besonderen persönlichen Gründen oder
wegen der besonderen Umstände in seinem Heimatland nicht möglich oder nicht
zumutbar ist, die deutsche Sprache in seinem Heimatland zu erlernen. In einem solchen
Fall schlägt die grundsätzlich verhältnismäßige Nachzugsvoraussetzung im Fall
zumutbarer Bemühungen spätestens nach einem Jahr in ein unverhältnismäßiges
dauerhaftes Nachzugshindernis um (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2012, 10 C 12.12, BVerwGE
144, 141, juris Rn. 26 ff.). Diese bezogen auf den Spracherwerb geltenden Wertungen
lassen sich aber auf den Wehrdienst nicht übertragen. Der Wehrdienst ist nicht ein durch
nationale Regelungen des deutschen Gesetzgebers bestimmtes Nachzugserfordernis,
sondern beruht auf den gesetzlichen Bestimmungen und öffentlichen Interessen eines
anderen Staates, denen der Kläger als türkischer Staatsangehöriger unterliegt. Dass es
wegen des noch nicht geleisteten Wehrdienstes zu einer Trennung kommen könnte, war
beiden Eheleuten bei Eingehung der Beziehung bekannt. Diese Trennung stellt einen
von vornherein zeitlich beschränkten Zeitraum dar, der die Zeitdauer von einem Jahr nur
geringfügig übersteigt. Das zeitweise Nachzugshindernis der Wehrpflicht kann nicht in ein
der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet auf unabsehbare Zeit oder dauerhaft
entgegenstehendes Nachzugshindernis umschlagen. Denn die Ableistung des zeitlich
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begrenzten Wehrdienstes ist - anders als der erfolgreiche Erwerb von Sprachkenntnissen
- unabhängig von persönlichen Fähigkeiten des Wehrpflichtigen. Die durch die Ableistung
des Wehrdienstes im Heimatland des Antragstellers bedingte Trennung wird im Übrigen
dadurch gemildert, dass während dieser Zeit die Möglichkeit der Kommunikation mit
seiner Ehefrau sowie von Besuchen besteht (vgl. auch OVG Hamburg, Beschl. v.
11.2.2013, 4 Bs 269/12, n.v., S. 16 BA; Beschl. v. 16.11.2010, 4 Bs 220/10, juris Rn. 14;
OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.1.2011, OVG 11 S 51.10, juris Rn. 14).
(2) Die Beklagte kann von der Einhaltung des Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1.
Altern. AufenthG absehen, weil im Fall des Klägers die Voraussetzungen eines
gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorliegen.
Unter einem „Anspruch“ ist grundsätzlich ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen, der
nur vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt
sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. zu § 39 Abs. 3 AufenthV:
BVerwG, Urt. v. 16.11.2010, 1 C 17.09, BVerwGE 138, 122, juris Rn. 24, 27; vgl. zu § 10
Abs. 3 Satz 3 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 16.12.2008, 1 C 37.07, BVerwGE 132, 382, juris
Rn. 24 m.w.N.). Die Voraussetzungen eines Anspruchs i.S. d. § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern.
AufenthG sind auch dann erfüllt, wenn zwar eine regelhaft zu erfüllende
Anspruchsvoraussetzung – vorliegend aus § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – nicht vorliegt, dies
jedoch unschädlich ist, weil ein Ausnahmefall gegeben ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v.
9.5.2012, 4 Bs 15/12, juris Rn. 38; Beschl. v. 26.10.2011, 5 Bs 158/11, AuAS 2012, 2, juris
Rn. 24). Denn in einem solchen Fall steht § 5 Abs. 1 AufenthG der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen.
Dem Anspruch auf Erteilung steht entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten nicht
entgegen, dass hier die Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht vorliegt
und daher Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 VwGO eröffnet ist. Der Tatbestand des § 5
Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG kann nur so verstanden werden, dass außer den
Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 im Übrigen die Voraussetzungen eines
gesetzlichen Anspruchs vorliegen müssen. Denn § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG
setzt tatbestandlich für die Eröffnung des Ermessens und damit für ein mögliches
Absehen von einer Voraussetzung des Satzes 1 gerade voraus, dass es an einer solchen
Voraussetzung des Satzes 1 fehlt, ansonsten aber alle allgemeinen und besonderen
Erteilungsvoraussetzungen vorliegen. Anderenfalls würde die Vorschrift des § 5 Abs. 2
Satz 2 1. Altern. AufenthG leerlaufen. Der Begriff des gesetzlichen Anspruchs bzw. des
Rechtsanspruchs ist vor dem Hintergrund des jeweiligen Regelungskontexts zu verstehen
(vgl. zu § 39 Abs. 3 AufenthV: BVerwG, Urt. v. 16.11.2010, 1 C 17.09, BVerwGE 138, 122,
juris Rn. 24, 25; vgl. zum „strikten Rechtsanspruch“ i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG:
BVerwG, Beschl. v. 16.2.2012, 1 B 22.11, juris Rn. 4; Urt. v. 16.12.2008, 1 C 37.07,
BVerwGE 132, 382, Rn. 21 ff.; OVG Hamburg, Beschl. 16.1.2013, 4 Bs 185/12, n.v.;
Beschl. v. 10.1.2013, 3 Bs 38/13, n.v.).
d) Die Entscheidung der Beklagten, von der Einhaltung des Visumverfahrens nicht nach §
5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG abzusehen, ist fehlerhaft.
aa) In den angefochtenen Bescheiden hat die Beklagte ihr nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1.
Altern. AufenthG eröffnetes Ermessen nicht ausgeübt.
Im maßgeblichen Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2012 hat die Beklagte die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. und 2. Altern. AufenthG
geprüft und ihr Vorliegen verneint. Auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung konsequent,
hat die Beklagte sodann Ermessen im Hinblick auf § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgeübt
(S. 4 des Widerspruchsbescheids). Ferner hat sie - unter Bezugnahme auf die
Fachanweisung 1/2012 – lediglich (hilfsweise) Erwägungen in Bezug auf § 5 Abs. 2 Satz
2 2. Altern. AufenthG angestellt (S. 6, Absatz 1 bis 3 des Widerspruchsbescheids).
Die zu § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Altern. AufenthG angestellten Ermessenserwägungen sind für
die erforderliche Ausübung des Ermessens entsprechend dem Zweck der gesetzlichen
Ermächtigung nicht maßgeblich. Es bedurfte eigenständiger Ermessenserwägungen zu §
5 Abs. 2 Satz 1 1. Altern. AufenthG. Denn die 1. Tatbestandsalternative des § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG besitzt einen eigenständigen Regelungsgehalt. Die
Tatbestandsalternativen „gesetzlicher Anspruch“ und „Unzumutbarkeit“ weisen
unterschiedliche Zweckrichtungen auf, denen die Ermessensbetätigung Rechnung tragen
muss. Mit der 1. Alternative soll verhindert werden, dass das für die Steuerung und
Begrenzung der Zuwanderung grundsätzlich unverzichtbare Visumverfahren im Einzelfall
lediglich als eine bloße (für den Ausländer teure und auch für die Behörde zeit- und
ressourcenaufwändige) Förmelei durchgeführt werden muss, wenn die materielle Prüfung
schon zugunsten des Ausländers abgeschlossen ist (BT-Drs. 15/470, S. 70; vgl. auch Nr.
5.2.2.1 AVwV-AufenthG). Die 2. Alternative dient hingegen der Vermeidung von
unzumutbaren Härten, die mit der (grundsätzlich erforderlichen) Nachholung des
Visumverfahrens einhergehen (vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, a.a.O., § 5 Rn.
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121). Hier stehen insbesondere individuelle Belastungen des Ausländers und/oder seiner
Familienangehörigen durch seine Ausreise im Vordergrund, die im Fall der Nachholung
des Visumverfahrens zu unverhältnismäßigen Eingriffen in geschützte Rechte aus Art. 6
Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 1 GG führen können. Die Ausführungen der Beklagten zur (Un-
)Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens (S. 6 des Widerspruchsbescheides)
für die Eheleute tragen dem Regelungszweck der 1. Tatbestandsalternative „Anspruch auf
Erteilung“ nicht Rechnung.
Die im Widerspruchsbescheid zu § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG angestellten
Ermessenserwägungen können ebenfalls nicht als Ermessensentscheidung (auch) zu § 5
Abs. 2 Satz 1 1. Altern. AufenthG angesehen werden. Mit diesen Erwägungen hat die
Beklagte das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens mit dem
Interesse an der sofortigen Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft abgewogen
und dabei die Zumutbarkeit der vorübergehenden Trennung bewertet. Dabei hat sie die
Dauer der Trennung, fehlende die Ehe betreffende besondere Umstände und die
Einbeziehung der Trennung in die Lebensplanung der Eheleute berücksichtigt. Den für
die Ausübung des Ermessens im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung des § 5 Abs. 2
Satz 2 1. Altern. AufenthG relevanten Gesichtspunkt, dass im Fall des Klägers ein
Anspruch auf Erteilung besteht und dass sich das Visumverfahren deshalb als eine bloße
Förmelei erweisen könnte, hat die Beklagte bei ihrer Ermessensbetätigung nicht
berücksichtigt.
bb) Einschlägige Regelungen zur Ermessensausübung ergeben sich weder aus der
Fachanweisung Nr. 1/2012, die die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens nach
den Ausführungen im Widerspruchsbescheid zur Grundlage ihrer Verwaltungsübung
gemacht hat, noch aus der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem
Berufungsgericht geltenden Fachanweisung Nr. 1/2013. Darin hat die Beklagte
Anordnungen für eine regelmäßige Ermessensausübung für den Fall des
Ehegattennachzugs bei einem bestehenden gesetzlichen Anspruch (§ 5 Abs. 2 Satz 2 1.
Altern. AufenthG) nicht getroffen. Wie die Beklagte inzwischen klargestellt hat, beziehen
sich die Ausführungen unter Abschnitt A.VI. (S. 20 ff.), denen der Senat in seiner früheren
Rechtsprechung eine einschlägige Ermessensbindung entnommen hat (Beschl. v.
9.5.2012, 4 Bs 15/12, juris Rn. 39), zunächst nur auf den Fall des Ehegattennachzugs
nach § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Altern. AufenthG und die weiteren Ausführungen - in
Abgrenzung zum geregelten Ehegattennachzug im Fall der 2. Alternative des § 5 Abs. 2
Satz 2 - allein auf sonstige Fälle eines Rechtsanspruchs aus familiären Gründen, nicht
jedoch auf Fälle des Ehegattennachzugs. Ob dieses Verständnis der
Verwaltungsvorschrift zwingend ist, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist allein,
dass die Beklagte sie in dieser Weise versteht und anwendet. An seiner in der
Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geäußerten Rechtsansicht
hält das Berufungsgericht deshalb nicht mehr fest.
cc) Die von der Beklagten nachgeholte Ermessensentscheidung ist fehlerhaft.
Die Beklagte hat Ermessenserwägungen zu § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG
erstmals im Berufungsverfahren (hilfsweise) angestellt. Es bedarf keiner Entscheidung, ob
eine Nachholung von Ermessenserwägungen im Fall des Ermessensausfalls auch dann
zulässig ist, wenn sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat und sich nicht erst
wegen Umständen, die während des Klageverfahrens entstanden sind, die Notwendigkeit
einer Ermessensausübung ergibt (ausdrücklich offenlassend im Fall einer
aufenthaltsbeendenden Maßnahme: BVerwG, Urt. v. 13.12.2011, 1 C 14.10, BVerwGE
141, 253, juris Rn. 13). Denn die nachgeholten Ermessenserwägungen der Beklagten
sind nach dem Prüfungsmaßstab des § 114 Satz 1 VwGO fehlerhaft. Die Beklagte ist im
Hinblick auf die nach § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG in ihrem Ermessen stehende
Entscheidung, im Fall eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung von den Anforderungen
des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, teilweise von einem falschen
Sachverhalt ausgegangen und hat zudem eine fehlerhafte Gewichtung der privaten und
öffentlichen Belange zu Lasten des Klägers vorgenommen.
Die Beklagte hat die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der Visumpflicht im
Fall des beabsichtigten Ehegattennachzugs, bei dem sich der Ehegatte bereits im
Bundesgebiet aufhält, und die privaten und wirtschaftlichen Interessen des Klägers nicht
vollständig und zutreffend ermittelt und in ihre Abwägung eingestellt. Ein Ermessensfehler
liegt darin, dass sie bei ihrer Abwägung teilweise von falschen Tatsachen ausgegangen
ist. Sie hat nicht berücksichtigt, dass das (private) Interesse des Klägers an der
ununterbrochenen Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau im
Bundesgebiet im Fall der Nachholung des Visumverfahrens nicht nur durch die aus Sicht
der Beklagten zumutbare Trennungszeit von drei bis vier Monaten während der Dauer
des Visumverfahrens beeinträchtigt wird, sondern dass bei einer Rückkehr des Klägers in
die Türkei eine durch die erforderliche Ableistung des Wehrdienstes bedingte
Trennungszeit der Ehepartner von mindestens 15 Monaten zu erwarten ist. Dieser vom
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Kläger vorgetragene und in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht
erörterte Sachverhalt war der Beklagten bekannt. Ihre Ermessenserwägungen hat sie trotz
des Hinweises des Klägers in seiner Berufungserwiderung und deren Darstellung in der
mündlichen Verhandlung nicht korrigiert oder ergänzt.
Zudem besteht ein Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO darin, dass die
Beklagte dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern.
AufenthG nicht hinreichend Rechnung getragen und die in die Abwägung einzustellenden
Gesichtspunkte fehlerhaft gewichtet hat. Eine solche fehlerhafte Gewichtung kann z.B.
dann vorliegen, wenn die Behörde einzelnen Tatsachen ein Gewicht beimisst, das
objektiven Wertungsmaßstäben nicht entspricht (vgl. zur Überprüfung der einzustellenden
Belange: BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6.95, BVerwGE 102, 249, juris Rn. 24 ff.). Ein
solcher bei der Abwägung relevanter Maßstab für die Gewichtung der einander
gegenüberstehenden Belange kann sich aus der einfachrechtlichen Wertung des
Gesetzes und insbesondere aus den durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und
Art. 8 EMRK geschützten privaten Belangen des Ausländers ergeben, die entsprechend
ihrem Gewicht und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der
Gesamtabwägung zu berücksichtigen sind (vgl. zum Maßstab Wolff, in: Sodan/Ziekow,
VwGO, 2. Aufl. 2010, § 114 Rn. 181, 184; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 114
Rn. 7, 39-41).
Daran gemessen hat die Beklagte die auch durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Interessen
des Klägers zu gering gewichtet. Die Beklagte hat ein Übergewicht der öffentlichen
Interessen mit der Begründung angenommen, das öffentliche Interesse an der Einhaltung
der Einreisevorschriften zum Zweck der Kontrolle von einreisewilligen Personen, die sich
auf Dauer im Bundesgebiet niederlassen wollten, sowie am geregelten Zuzug von
Ausländern überwiege deutlich die privaten Interessen des Klägers. Der Staat führe die
gesetzliche Regelung ad absurdum, wenn er die Visumpflicht einführe, aber nicht dafür
sorge, dass diese eingehalten werde. Sehe er trotz illegaler Einreise des Ausländers –
wie im Fall des Klägers – von der Durchführung des Visumverfahrens ab, prämiere er
damit strafbares Verhalten. Demgegenüber stelle die Nachholung für den Kläger – auch
unter Berücksichtigung der Kosten für die Aus- und Wiedereinreise und der zeitweisen
Trennung - keine unzumutbare Belastung dar.
Mit dieser Gewichtung verkennt die Beklagte die Reichweite und den Zweck der
gesetzlichen Ermächtigung in § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG. Zwar ist es
grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte generalpräventive Gesichtspunkte
wie die Bedeutung und Wirksamkeit des Visumverfahrens als wichtiges
Steuerungsinstrument der Zuwanderung (vgl. BT-Drs 15/420 S. 70) in ihre
Ermessensbetätigung einstellt (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.1.2011, 1 C 23.09, BVerwGE 138,
353, juris Rn. 34; Urt. v. 4.9.1986, 1 C 19.86, BVerwGE 75, 20, juris Rn. 14). Die Beklagte
hat aber auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Eröffnung des
Ermessens in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gerade ermöglichen will, im Einzelfall zu
Gunsten des Ausländers von der Nachholung des Visumverfahrens abzusehen, und zwar
nicht nur bei der Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens, sondern auch
dann, wenn ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht.
Dem hat die Beklagte nicht ausreichend Rechnung getragen. Die Beklagte hat trotz des
gesetzlichen Anspruchs des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels beim
Ehegattennachzug generell dem – bereits die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr.
1 AufenthG begründenden - öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Visumpflicht und
an der Einholung des für den jeweiligen Aufenthaltszweck erforderlichen Aufenthaltstitels
vom Ausland aus entscheidendes Gewicht beigemessen. Damit hat sie den vom
Gesetzgeber eröffneten Ermessensspielraum faktisch nicht ausgenutzt und eine dem
Einzelfall des Klägers Rechnung tragende Entscheidung nicht getroffen. Auch die
weiteren Erwägungen tragen der Tatsache, dass im Fall des Klägers ein gesetzlicher
Anspruch im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Altern. AufenthG vorliegt, nicht ausreichend
Rechnung. Da bereits feststeht, dass dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen
sein wird, ist die von der Beklagten generell für erforderlich gehaltene Kontrolle von
einreisewilligen Personen zum Schutz vor Gefahren für die im Bundesgebiet lebenden
Menschen nicht mehr notwendig. Damit steigt das Gewicht der privaten Belange, eine
Trennung von seiner Ehefrau zu vermeiden und die Kosten für die Reise in die Türkei
sowie die Rückreise zu ersparen. Inwieweit der Kläger in der Lage ist, diese Kosten
aufzubringen, hat die Beklagte noch nicht einmal geprüft. Die generalpräventiv motivierte
Erwägung der Beklagten, es dürften keine Anreize für eine Einreise unter Verstoß gegen
die Einreisevorschriften geschaffen werden, verkennt, dass es eine zwangsläufige Folge
der Eröffnung des Ermessens (im Fall eines gesetzlichen Anspruchs) ist, dass im
Einzelfall von den Einreisevorschriften abgesehen werden kann. Mit der von der
Beklagten gegebenen Begründung läuft der vom Gesetzgeber eingeräumte
Ermessensspielraum leer.
Weiter hat die Beklagte bei ihrer Gewichtung der einander gegenüberstehenden
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Interessen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt. Auf der
Grundlage ihrer Fachanweisung 1/2013 (Seite 22) lässt die Beklagte in sonstigen Fällen
eines Rechtsanspruchs aus familiären Gründen (Nachzug von Kindern oder Eltern) das
öffentliche Interesse an der ordnungsgemäßen Durchführung des Visumverfahrens als
wichtigem Steuerungsinstrument der Zuwanderung regelmäßig hinter dem gemäß Art. 6
GG und Art. 8 EMRK gebotenen Schutz von Ehe und Familie zurücktreten. Hierzu heißt
es in der Fachanweisung weiter: „… Denn steht wegen des Vorliegens eines
Rechtsanspruchs von vornherein fest, dass das Visum umgehend nach der Ausreise zu
erteilen wäre, kommt der Nachholung des Visumverfahrens eine wesentliche
Steuerungsfunktion, die eine Beeinträchtigung des gemäß Art. 6 GG und Art. 8 EMRK
gebotenen Schutzes von Ehe und Familie durch – vorübergehende – Trennung der
Familienangehörigen rechtfertigen könnte, nicht mehr zu. Das Bestehen auf der
Durchführung eines Visumverfahrens würde in solchen Fällen allein zu Arbeitsaufwand
für die beteiligten Behörden sowie zu wirtschaftlichem Aufwand für die Betroffenen führen,
ohne eine echte Funktion in der Steuerung der Zuwanderung zu erfüllen.“ Diese Gründe
gelten grundsätzlich gleichermaßen im Fall des hier vorliegenden Ehegattennachzugs,
bei dem der ausländische Ehepartner sich bereits im Bundesgebiet aufhält und einen
Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Familienzusammenführung hat. Die
Beklagte hat keine Gründe angeführt und ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, aus denen
sich ergeben könnte, dass im Fall des Ehegattennachzugs der Rechtsanspruch auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis weniger wiegt und die öffentlichen Interessen an der
Einhaltung des Visumverfahrens ein höheres Gewicht haben als im Falle des Nachzugs
von anderen Familienangehörigen.
2. Die Beklagte kann nicht zur Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis verpflichtet
werden, da die Sache nicht spruchreif ist. Der Kläger hat keinen Rechtsanspruch darauf,
dass die Beklagte ihr Ermessen dahin ausübt, dass von der Durchführung des
Visumverfahrens abgesehen wird.
Eine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten des Klägers ist vorliegend nicht
gegeben. Auch unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen ist nicht ersichtlich,
dass trotz des der Beklagten zukommenden Ermessensspielraums angesichts der
konkreten Umstände des Einzelfalls nur die Erteilung des Aufenthaltstitels
ermessensfehlerfrei wäre. Der mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene
Eingriff in die durch Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützte
Rechtsposition des Klägers ist nicht so schwerwiegend, dass zwingend sogleich eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre. Wie ausgeführt, ergibt sich aus der Fachanweisung
1/2013 keine Bindung des Ermessens für den Fall des Ehegattennachzugs im Fall eines
bestehenden Rechtsanspruchs auf eine Aufenthaltserlaubnis; dieser Fall ist nach der
Verwaltungspraxis von der Fachanweisung nicht erfasst. Auch scheidet ein Anspruch auf
Gleichbehandlung mit den in der Fachanweisung 1/2013 geregelten Fällen des
Familiennachzugs aus, da es der Beklagten grundsätzlich unbenommen ist, eine etwa
erforderliche Gleichbehandlung auf andere Weise, ggf. auch durch eine Änderung ihrer
derzeitigen Entscheidungspraxis in Fällen des sonstigen Familiennachzugs, herzustellen.
Im Übrigen ist für das Berufungsgericht nicht abschätzbar, ob es über die von der
Beklagten herangezogenen hinaus weitere Gründe gibt, trotz des bestehenden
Rechtsanspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis den Kläger noch auf das
Visumverfahren zu verweisen. Dass es derartige Gründe gibt, welche die Beklagte im
Rahmen ihres Ermessens berücksichtigen und zu den persönlichen Belangen des
Klägers in ein angemessenes Verhältnis bringen dürfte, ist jedenfalls nicht
auszuschließen.
Die Beklagte hat daher unter Beachtung der oben dargestellten Rechtsauffassung des
Berufungsgerichts über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
erneut zu entscheiden und dabei das ihr bei der Entscheidung über die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zustehende
Ermessen (erneut) auszuüben.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
III.
Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil der Rechtssache wegen
der höchstrichterlich nicht geklärten und in der Rechtsprechung umstrittenen
Voraussetzungen für die Annahme eines Ausnahmefalls im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG im Fall des Ehegattennachzugs zu einem deutschen Ehepartner grundsätzliche
Bedeutung zukommt.
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