Urteil des FG Hamburg vom 05.05.2014

FG Hamburg: aufrechterhaltung der ordnung, emrk, achtung des privatlebens, integration, öffentliche sicherheit, egmr, abschiebung, schutz der gesundheit, schutz des privatlebens

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Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK kann auch dann eröffnet sein, wenn der Ausländer ausgewiesen wurde und sich
nur noch geduldet in Deutschland aufgehalten hat. Die Illegalität des Aufenthalts und eine während dieser Zeit erfolgte
Integration können mit dem gebotenen Gewicht im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung
berücksichtigt werden.
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht 4. Senat, Beschluss vom 05.05.2014, 4 Bs 98/14
Art 8 Abs 1 MRK, Art 8 Abs 2 MRK
Verfahrensgang
vorgehend VG Hamburg, 30. April 2014, Az: 13 E 2244/14, Beschluss
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Hamburg vom 30. April 2014 geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Abschiebung
des Antragstellers bis zur Unanfechtbarkeit ihrer Verfügung vom 10. April 2013
auszusetzen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine bevorstehende
Abschiebung.
Der 43 Jahre alte, in Deutschland geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger.
Er war seit seinem 16. Lebensjahr bis 2005 im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen. In der
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Zeit zwischen 1992 und 2006 wurde er wiederholt strafrechtlich verurteilt, zuletzt mit Urteil
des Landgerichts Hamburg vom 9. Mai 2006 wegen schwerer räuberischer Erpressung in
vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Mit bestandskräftigem
Bescheid vom 3. Januar 2008 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus und drohte
ihm die Abschiebung an. Einen späteren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 29. März 2010 ab. Seine hiergegen
erhobene Klage nahm der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht zurück (15 K 338/11). Aus der Strafhaft wurde der Antragsteller im
März 2011 auf Bewährung entlassen. Die restliche Freiheitsstrafe wurde ihm im März
2014 erlassen.
Im März 2013 beantragte der Antragsteller, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs.
5 AufenthG zu erteilen. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. April
2013 ab und wies den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom
28. August 2013 zurück. Der Antragsteller erhob am 20. September 2013 Klage, über die
noch nicht entschieden ist (13 K 3792/13).
Im März 2014 sprach der Antragsteller wegen einer möglichen Eheschließung mit seiner
deutschen Lebensgefährtin bei der Antragsgegnerin vor. Am 22. April 2014 wurde der
Antragsteller zur Sicherung der für den 6. Mai 2014 vorgesehen Abschiebung inhaftiert.
Mit Bescheid vom 24. April 2014 befristete die Antragsgegnerin die Wirkung der
Ausweisung sowie der vorgesehenen Abschiebung auf 10 Jahre Auslandsaufenthalt ab
der Abschiebung.
Am 28. April 2014 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht beantragt, ihm gegen die
Abschiebung einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Diesen Antrag hat das
Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. April 2014 abgelehnt: Der Antragsteller habe
keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Eine
Abschiebung stelle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK
geschütztes Familien- und Privatleben dar. Der Antragsteller sei zwar in Deutschland
geboren worden und habe seither hier gelebt. Er habe den Hauptschulabschluss
erworben, zeitweise als Gabelstaplerfahrer gearbeitet und er lebe jetzt mit seiner
Lebensgefährtin zusammen und unterstütze sie bei der Erziehung ihrer Kinder. Gegen
eine tiefgreifende Verwurzelung spreche aber entscheidend, dass er sich nicht
wirtschaftlich integriert habe und dass er sich über viele Jahre nicht an die hiesige
Rechtsordnung gehalten habe. Eine Integration in die Lebensverhältnisse der Türkei sei
ihm möglich. Er sei in der Lage, sich in der türkischen Sprache zu verständigen und er
könne dort durch seine Eltern unterstützt werden, die sich dort jedenfalls für mehrere
Monate aufhielten.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.
II.
A Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen ist die angefochtene Entscheidung zu
ändern und die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen. Ein Anordnungsgrund
liegt unzweifelhaft vor, da die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Antragsteller bereits am
6. Mai 2014 in die Türkei abzuschieben. Der Antragsteller hat zudem glaubhaft gemacht,
dass seine Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, sodass seine Klage auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG voraussichtlich Erfolg
haben wird, da die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen aus § 5 Abs. 1 AufenthG nicht
notwendig entgegenstehen. Wegen des bestehenden Ausreise- und
Abschiebungshindernisses ist ihm nach § 60a AufenthG bis dahin eine Duldung zu
erteilen.
Eine Ausreise ist rechtlich unmöglich i.S.v. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, wenn es dem
Ausländer aus Rechtsgründen nicht zuzumuten ist, Deutschland zu verlassen (vgl.
BVerwG, Beschl. v. 14.12.2010, Buchholz 402.242 § 60a AufenthG Nr. 6, juris Rn. 3).
Hiervon ist vor allem dann auszugehen, wenn auch einer Abschiebung rechtliche
Hindernisse entgegenstehen, weil der Begriff der Ausreise i.S.v. § 25 Abs. 5 Satz 1
AufenthG sowohl die freiwillige als auch die zwangsweise Ausreise umfasst (vgl.
BVerwG, Urt. v. 17.1.2012, InfAuslR 2012, 173, juris Rn. 8). Die Ausreise ist danach
insbesondere unzumutbar und deshalb unmöglich, wenn rechtliche zielstaats- und/oder
inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.6.2006,
BVerwGE 126, 192, juris Rn. 17). Zu den inlandsbezogenen Abschiebungsverboten
zählen auch die Verbote, die aus Verfassungsrecht oder aus Völkervertragsrecht in Bezug
auf das Inland herzuleiten sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.2010, Buchholz 402.242 §
60a AufenthG Nr. 6, juris Rn. 3; Urt. v. 27.6.2006, BVerwGE 126, 192, juris Rn. 17; vgl.
auch OVG Hamburg, Urt. v. 16.5.2012, 4 Bf 111/10, UA S. 10; Beschl. v. 20.9.2010, 4 Bf
90/10, BA S. 6).
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Diese Voraussetzungen dürften mit Blick auf Art. 8 EMRK erfüllt sein. Nach Art. 8 Abs. 1
EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer
Wohnung und ihrer Korrespondenz. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die
Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in
einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche
Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung,
zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz
der Rechte und Freiheiten anderer. Wenngleich aus Art. 8 EMRK grundsätzlich kein
Recht eines Ausländers folgt, in einen bestimmten Vertragsstaat einzureisen und sich dort
aufzuhalten (vgl. EGMR, Entsch. v. 17.10.2004, Nr. 33743/03 [Dragan] Rn. 97, NVwZ
2005, 1043, juris; Urt. v. 16.6.2005, Nr. 60654/00 [Sisojewa I], InfAuslR 2005, 349; vgl.
ferner BVerwG, Urt. v. 3.6.1997, NVwZ 1998, 189, juris Rn. 20), kann einem Ausländer bei
fortschreitender Aufenthaltsdauer aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens
gleichwohl eine von dem betreffenden Vertragsstaat zu beachtende aufenthaltsrechtliche
Rechtsposition zuwachsen (vgl. zum Vorstehenden: OVG Koblenz, Urt. v. 15.3.2012, 7 A
11417/11, juris Rn. 29; OVG Hamburg, Urt. v. 16.5.2012, 4 Bf 111/10, UA S. 11 f.).
Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist im Fall des Antragstellers eröffnet (hierzu
unter 1.). Die Beendigung seines Aufenthalts dient einem legitimen Ziel, nämlich der
Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten (hierzu unter 2.). Die
Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers erscheint aber unverhältnismäßig (hierzu
unter 3.).
1. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist im Fall des Antragstellers eröffnet. Dabei
kann dahin stehen, ob sich der Antragsteller im Hinblick auf seine in Deutschland
lebenden Familienangehörigen auch auf den Schutz des Familienlebens i.S.v. Art. 8 Abs.
1 EMRK berufen kann, ob also die Reichweite des konventionsrechtlichen Schutzes
insoweit über die grundgesetzliche Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 1 GG hinausgeht (vgl.
einerseits EGMR, Urt. v. 12.1.2010, Nr. 47486/06 [Abdul Waheed Khan] Rn. 32, InfAuslR
2010, 369; Urt. v. 10.7.2003, Nr. 53441/99 [Benhebba], InfAuslR 2004, 182; Urt. v.
15.07.2003, Nr. 52206/99 [Mokrani], InfAuslR 2004, 183; Urt. v. 9.10.2003, Nr. 48321/99
[Slivenko] Rn. 97, EuGRZ 2006, 560; vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 29.1.2008, InfAuslR
2009, 64, juris Rn. 61; vgl. andererseits EGMR, Urt. v. 14.6.2011, Nr. 38058/09 [Osman],
Rn. 55; Urt. v. 24.11.2009, Nr. 182/08 [Steven Omojudi] Rn. 36, InfAuslR 2010, 178; Urt. v.
23.06.2008, Nr. 1638/03 [Maslov II], InfAuslR 2008, 333, juris [Kurztext]; zum
Vorstehenden insgesamt: VGH Mannheim, Beschl. v. 5.2.2009, AuAS 2009, 197, juris Rn.
16). Denn jedenfalls gehören die Beziehungen zu Familienangehörigen zu der
Gesamtheit der sozialen Beziehungen, die das Privatleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK
begründen (vgl. EGMR, Urt. v. 14.6.2011, Nr. 38058/09 [Osman], Rn. 55; Urt. v. 12.1.2010,
Nr. 47486/06 [Abdul Waheed Khan] Rn. 31, InfAuslR 2010, 369).
Das Recht auf Achtung des Privatlebens i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst die Summe
der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für die Persönlichkeit eines jeden
Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser
Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender
Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v.
21.2.2011, InfAuslR 2011, 235, juris Rn. 19; Beschl. v. 10.5.2007, InfAuslR 2007, 275,
juris Rn. 33; BVerwG, Urt. v. 27.1.2009, BVerwGE 133, 72, juris Rn. 21).
Nach diesen Maßstäben hat der Antragsteller in Deutschland ein Privatleben in dem
vorgenannten Sinne. Er lebt sein gesamtes Leben, also seit fast 44 Jahren, in
Deutschland. Er ist hier geboren und zur Schule gegangen. Er spricht die deutsche
Sprache. Nahezu seine gesamte Familie lebt im Bundesgebiet. Wie seine in Deutschland
erbrachten Integrationsleistungen zu gewichten sind, betrifft nicht die Frage, ob der
Schutzbereich eröffnet ist, sondern ob ein Eingriff in den Schutzbereich i.S.v. Art. 8 Abs. 2
EMRK gerechtfertigt ist (vgl. EGMR, Urt. v. 25.3.2010, Nr. 40601/05 [Mutlag] Rn. 50,
InfAuslR 2010, 325, juris; siehe auch OVG Koblenz, Urt. v. 15.3.2012, 7 A 11417/11, juris
Rn. 30; OVG Bremen, Urt. v. 28.6.2011, InfAuslR 2011, 432, juris Rn. 51).
Der Eröffnung des Schutzbereich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK steht nicht entgegen, dass der
Antragsteller im Jahr 2008 ausgewiesen wurde und sein Aufenthalt in den vergangenen
Jahren deshalb nicht mehr legal gewesen ist, er sich vielmehr nur noch geduldet in
Deutschland aufgehalten hat. Dieser Umstand nimmt dem Antragsteller weder die
Möglichkeit, sich auf den Schutz seines Privatlebens zu berufen, noch steht er einer
Berücksichtigung von Integrationsmomenten entgegen, die erst während dieser Zeit
illegalen Aufenthalts entstanden sind.
Es ist in der Rechtsprechung und in der Literatur umstritten, ob sich ein Ausländer, dessen
bisheriger Aufenthalt im „Gastland“ nicht legal war, auf Art. 8 Abs. 1 EMRK und den dort
garantierten Schutz des Privatlebens berufen kann. Während ein Teil der
obergerichtlichen Rechtsprechung die Ansicht vertritt, dass sich auch ein Ausländer auf
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Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen könne, dessen bisheriger Aufenthalt nicht legal gewesen ist
(so etwa OVG Hamburg, Urt. v. 16.5.2012, 4 Bf 111/10, UA S. S. 13 ff.; Urt. v. 24.3.2009,
InfAuslR 2009, 279, juris Rn. 97; Beschl. v. 3.3.2009, 2 Bs 22/09, BA S. 7; Beschl. v.
20.8.2009, 3 Bs 104/09, BA S. 6 ff.; VGH Mannheim, Urt. v. 13.12.2010, InfAuslR 2011,
250, juris Rn. 31 ff.; Beschl. v. 5.2.2009, AuAS 2009, 197, juris Rn. 17; OVG Bremen, Urt.
v. 28.6.2011, InfAuslR 2011, 432, juris Rn. 49; Urt. v. 5.7.2011, InfAuslR 2011, 379, juris
Rn. 34; OVG Magdeburg, Beschl. v. 13.9.2010, 2 M 132/10, juris Rn. 8), ist namentlich das
Bundesverwaltungsgericht der Auffassung, dass „ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs.
1 EMRK, das den Schutzbereich der Vorschrift eröffnet und eine Verwurzelung im Sinne
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begründet, (…)
grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines
schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht“ kommt
(BVerwG, Urt. v. 26.10.2010, 1 C 18.09, AuAS 2011, 86; Urt. v. 30.4.2009, AuAS 2009,
194, juris Rn. 20; dem folgend OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.8.2010, AuAS 2011, 3, juris
Rn. 5 ff.; Beschl. v. 19.7.2010, DVBl. 2010, 1113, juris Rn. 4 ff.; OVG Berlin-Brandenburg,
Urt. v. 24.1.2012, OVG 3 B 19.10, juris Rn. 28; OVG Koblenz, Urt. v. 15.3.2012, 7 A
11417/11, juris Rn. 30; VGH München, Beschl. v. 11.8.2011, 19 CE 11.1347, juris Rn. 4;
eingehend zum Streitstand m.w.N.: VGH Mannheim, Urt. v. 13.12.2010, InfAuslR 2011,
250, juris Rn. 31 ff.).
Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich zur Begründung seiner Auffassung auf die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden:
Gerichtshof). Dieser Rechtsprechung entnimmt der Senat indes nicht einen
übergreifenden Rechtssatz, wonach der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK für
Ausländer, deren bisheriger Aufenthalt nicht legal gewesen ist, nicht eröffnet sei (so auch
die Einschätzung bei OVG Hamburg, Beschl. v. 20.8.2009, 3 Bs 104/09, BA S. 7 f.; VGH
Mannheim, Urt. v. 13.12.2010, InfAuslR 2011, 250, juris Rn. 33). Dies gilt namentlich für
die Rechtssache „Nnyanzi“ (Urt. v. 8.4.2008, Nr. 21878/06 [Nnyanzi] Rn. 76, ZAR 2010,
189), auf die das Bundesverwaltungsgericht zum Beleg seiner Auffassung wiederholt
Bezug genommen hat. In dieser Entscheidung hat es der Gerichtshof offen gelassen, ob
der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet ist. Die Bedeutung der Rechtmäßigkeit
des Voraufenthalts hat er in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Erst im Rahmen
seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, zu der der Gerichtshof
gelangt ist, weil er zu Gunsten der betreffenden Ausländerin unterstellt hat, der
Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK sei eröffnet, hat er u.a. darauf abgestellt, die
betreffende Ausländerin habe zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht innegehabt. Der
Prüfungsansatz des Gerichtshof in der Sache „Nnyanzi“ spricht danach eher dafür als
dagegen, dass der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK auch eröffnet sein kann, wenn
der bisherige Aufenthalt des Ausländers im „Gastland“ nicht rechtmäßig gewesen ist.
Andernfalls hätte es nahe gelegen, sogleich die Eröffnung des Schutzbereichs zu
verneinen.
Im Übrigen ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs uneinheitlich. In einigen Fällen hat er
vertreten, der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK sei (insbesondere deshalb) nicht
eröffnet, weil der betreffende Ausländer nicht im Besitz eines Aufenthaltsrechts gewesen
sei (vgl. EGMR, Entsch. v. 7.10.2004, Nr. 33743/03 [Dragan], NVwZ 2005, 1043, juris;
weitere Nachweise bei OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.8.2010, AuAS 2011, 3, juris Rn. 11).
In anderen Fällen hat der Gerichthof die Frage der (Dauer der) Rechtmäßigkeit des
Aufenthalts hingegen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2
EMRK gewürdigt (vgl. EGMR, Urt. v. 25.3.2010, Nr. 40601/05 [Mutlag] Rn. 56, InfAuslR
2010, 325, juris; Urt. v. 30.1.2006, Nr. 50435 [da Silva und Hoogkamer], InfAuslR 2006,
298). Nicht zuletzt der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich allerdings
Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass das Fehlen eines rechtmäßigen Voraufenthalts
einen Ausländer nicht hindert, sich auf Art. 8 Abs. 1 EMRK zu berufen. In der Rechtssache
„Osman“ (Urt. v. 14.6.2011, Nr. 38058/09 [Osman], Rn. 65) anerkennt der Gerichtshof
nunmehr ausdrücklich die Möglichkeit, dass sich ein – nicht zuletzt im „Gastland“
aufgewachsener – Ausländer trotz zumindest zeitweise fehlender Aufenthaltserlaubnis
auf den Schutz des Familien- und Privatlebens berufen könne.
Nach Auffassung des Senats gibt es keine zwingenden konventionsrechtlichen Gründe,
die dafür sprechen, dass ein schutzwürdiges Privatleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK nur auf
der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf
den Fortbestand dieses Aufenthalts entstehen bzw. gegeben sein kann. Zwar hat der
Gerichtshof in der Rechtssache „da Silva und Hoogkamer“ (Urt. v. 30.1.2006, Nr. 50435
[da Silva und Hoogkamer], InfAuslR 2006, 298) im Rahmen der Prüfung von Art. 8 Abs. 2
EMRK ausgeführt, „dass Personen, die, ohne den geltenden Gesetzen zu entsprechen,
die Behörden eines Vertragsstaates mit ihrer Anwesenheit in diesem Staat konfrontieren,
im Allgemeinen nicht erwarten können, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zugesprochen
wird“. Dieser Ansatz gebietet es aber nicht, schon die Eröffnung des Schutzbereichs aus
Art. 8 Abs. 1 EMRK zu verneinen, wenn ein Ausländer sich bislang ohne Aufenthaltsrecht
im „Gastland“ aufgehalten hat. Der Gesichtspunkt der Illegalität des bisherigen Aufenthalts
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und das hierdurch berührte legitime Interesse der Vertragsstaaten, den Zuzug von
Ausländern zu steuern und zu begrenzen, kann ebenso gut und mit dem gebotenen
Gewicht im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung
berücksichtigt werden. Auf diese Weise bleibt die Möglichkeit erhalten, jedem Einzelfall
gerecht zu werden. Dies könnte nicht gewährleistet werden, wenn Ausländer, deren
Voraufenthalt nicht legal gewesen ist, von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 8
Abs. 1 EMRK ausgeschieden werden. Denn es kommt, wie auch der vorliegende – nicht
untypische – Fall eines in Deutschland geborenen Ausländers oder auch der eines im
Kindesalter nach Deutschland eingereisten Migranten der zweiten Generation deutlich
macht, bei einer lebensnahen Würdigung der insoweit relevanten Fallkonstellationen in
Betracht, dass Ausländer, auch wenn sie sich über Jahre nur gestattet oder geduldet im
„Gastland“ aufgehalten haben, dort eine zwar nicht rechtliche, aber doch faktische
Verwurzelung erreicht haben, die so gewichtig ist, dass es geboten erscheint, die
Beendigung ihres weiteren Aufenthalts einer Überprüfung an den Maßstäben des Art. 8
Abs. 2 EMRK zu unterziehen (vgl. zum Vorstehenden eingehend: VGH Mannheim, Urt. v.
13.12.2010, InfAuslR 2011, 250, juris Rn. 33; vgl. ferner OVG Bremen, Urt. v. 28.6.2011,
InfAuslR 2011, 432, juris Rn. 50).
2. Die Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland dient einem
legitimen Zweck. Der Antragsteller ist seit langem vollziehbar ausreisepflichtig. Seine
Abschiebung ist eine Maßnahme, die gesetzlich vorgesehen ist (§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1
Nr. 5, 58 Abs. 1 und 2 AufenthG). Seine Ausreisepflicht soll vollzogen werden, um - was
sich aus den Ausführungen der Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren ergibt - der
bestandskräftigen Ausweisung vom 3. Januar 2008 Rechnung zu tragen. Diese war damit
begründet worden, dass der Aufenthalt des Antragstellers wegen der begangenen
erheblichen Straftaten die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtige. Die
Straftaten wurden als besonders schwerwiegend eingestuft und die Antragsgegnerin ging
von einer Wiederholungsgefahr aus. Die Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung
von Straftaten sind Zwecke, die es rechtfertigen können, in das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK
geschützte Privat- und Familienleben einzugreifen (EGMR, Entscheidung vom 19.3.2013,
Nr. 45971/08, FamRZ 2014, 367, juris Rn. 32).
3. Der durch eine Aufenthaltsbeendigung bzw. durch die Verweigerung eines
Aufenthaltsrechts bewirkte Eingriff in das Recht des Antragstellers auf Achtung seines
Privatlebens dürfte nicht gerechtfertigt sein. Die Beendigung seines Aufenthalts dürfte
nicht zur Verfolgung des genannten legitimen Ziels notwendig sein. Sie ist nicht durch ein
dringendes soziales Bedürfnis begründet und steht nicht in einem angemessenen
Verhältnis zu dem verfolgten Ziel (vgl. zu diesem Maßstab: EGMR, Entscheidung vom
19.3.2013, Nr. 45971/08, FamRZ 2014, 367, juris Rn. 33).
Im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Prüfung der Notwendigkeit ist
einerseits maßgeblich zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer unter
Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung in die
hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist (hierzu unter a). Gesichtspunkte sind insoweit
insbesondere die Dauer und der Grund seines Aufenthalts in Deutschland sowie dessen
rechtlicher Status, der Stand seiner Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und
Schrift, seine berufliche Tätigkeit und seine wirtschaftliche Integration bzw. bei einem
Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen seine Integration in eine Schul-,
Hochschul- oder Berufsausbildung, seine Wohnverhältnisse, seine familiären und
sozialen Beziehungen sowie die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote,
insbesondere Art und Schwere begangener Straftaten. Zum zweiten ist insoweit
maßgeblich, welche Schwierigkeiten für den Ausländer und ggf. seinen Ehepartner und
seine Kinder mit einer (Re-) Integration in den Staat verbunden sind, in den er ausreisen
soll (hierzu unter b). Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse
der dort gesprochenen und geschriebenen Sprache bestehen bzw. erworben werden
können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit
er dort bei der (Wieder-) Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige
Dritte rechnen kann, soweit diese erforderlich sein sollte (vgl. allgemein zu den
maßgeblichen Kriterien EGMR, Entscheidung vom 19.3.2013, Nr. 45971/08, FamRZ
2014, 367, juris Rn. 32 ff.). Letztlich kommt es auf die Berücksichtigung und Würdigung
aller Umstände des jeweiligen konkreten Einzelfalles an (EGMR, Entscheidung vom
19.3.2013, a.a.O.; vgl. zum Vorstehenden auch: OVG Koblenz, Urt. v. 15.3.2012, 7 A
11417/11, juris Rn. 35 f.; vgl. ferner BVerwG, Beschl. v. 19.1.2010, NVwZ 2010, 707, juris
Rn. 4; Urt. v. 27.1.2009, BVerwGE 133, 72, juris Rn. 20). Diese Abwägung fällt zu
Gunsten des Antragstellers aus (hierzu unter c). Im Einzelnen:
a) Was die Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse anbelangt,
so gelangt der Senat zu folgender Einschätzung:
Zu Gunsten des Antragstellers ist zu berücksichtigen, dass er seit seiner Geburt in
Deutschland lebt. Diesem Umstand kommt erhebliches Gewicht zu. Denn der
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Antragsteller hat bereits seine - in besonderem Maße prägende - Kindheit und Jugend in
Deutschland verbracht und ist hier sozialisiert worden. Er beherrscht die deutsche
Sprache in Wort und Schrift. Der Antragsteller hat die Schule besucht und den
Hauptschulabschluss erreicht. Er hat sodann sein gesamtes Leben von mittlerweile fast
44 Jahren in Deutschland verbracht. Fast seine gesamte Familie lebt hier in Deutschland.
Sein Bruder S. ist mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und besitzt selbst
die deutsche Staatsangehörigkeit. Zu ihm und seiner Familie, darunter seine beiden
Neffen, hat der Antragsteller nach den glaubhaft gemachten Angaben seines Bruders eine
enge Bindung. Auch seine Eltern leben nach Eintritt seines Vaters in den Ruhestand
überwiegend - wie der Antragsteller glaubhaft gemacht hat - in Deutschland. Er hat zwar
keinen Ausbildungsberuf erlernt, jedoch die Fahrerlaubnis für Gabelstapler erworben und
wiederholt als Gabelstaplerfahrer gearbeitet.
Auf eine soziale Verwurzelung in Deutschland deutet zudem hin, dass der Antragsteller -
allerdings erst seit etwa einem Jahr - in eheähnlicher und familienähnlicher Gemeinschaft
mit seiner deutschen Lebensgefährtin und ihren beiden Kindern lebt und - wie der
Antragsteller weiter glaubhaft gemacht hat - gegenüber diesen Kindern die Vaterrolle
einnimmt. Auf eine wirtschaftliche Integration kann sich der Antragsteller allerdings nicht
berufen; sie ist dem Antragsteller in all den Jahren nicht gelungen. Zu seinen Gunsten ist
allerdings zu berücksichtigen, dass - wie sein Bruder eidesstattlich versichert hat - dem
Antragsteller eine Anstellung als Gabelstaplerfahrer bei dem Unternehmen in Aussicht
steht, bei dem auch sein Bruder F. beschäftigt ist. Sollte es ihm möglich sein, die
Fahrerlaubnis für Lastkraftwagen zu erwerben, könnte er sogar in dem eigenen
Unternehmen seines Bruders arbeiten (vgl. Bl. 74 d.A. 15 VG 338/11), was seine
wirtschaftliche Integration noch verstärken dürfte.
Gegen eine gelungene Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse
spricht allerdings, dass er seit 1991 viele Jahre lang in erheblichem Maße straffällig
geworden ist (vgl. zur Relevanz strafrechtlicher Verfehlungen insbesondere: EGMR,
Entscheidung vom 19.3.2013, 45971/08, FamRZ 2014, 367, juris Rn. 47; Urt. v. 8.1.2009,
10606/07 [Grant] Rn. 39, InfAuslR 2010, 89; Urt. v. 25.3.2010, 40601/05 [Mutlag] Rn. 55,
InfAuslR 2010, 325; Urt. v. 23.06.2008, 1638/03 [Maslov II], InfAuslR 2008, 333, juris
[Kurztext]). Hier sind insbesondere die zahlreichen Vermögensdelikte sowie
Körperverletzungsdelikte zu betonen. So wurde der Antragsteller mehrfach zu Geld-
sowie Freiheitsstrafen verurteilt, und zwar wegen in den Jahren 1991 bis 1997
begangener Körperverletzungsdelikte zu Freiheitsstrafen von vier Monaten, sechs
Monaten sowie zwei Jahren, und wegen in den Jahren 1993 bis 2004 begangener
Vermögensdelikte zu Geldstrafen sowie einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Die
schwersten Delikte verübte der Antragsteller in den Jahren 2005 und 2006. Hierauf wurde
er mit Urteil des Landgerichts Hamburg vom 9. Mai 2006 (621 KLs 8/06) wegen schwerer
räuberischer Erpressung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
verurteilt. Bei all diesen Straftaten hat es sich mithin weder um nur vereinzelt gebliebene
Verfehlungen gehandelt (zur Relevanz dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 12.1.2010, Nr.
47486/06 [Abdul Waheed Khan] Rn. 41, InfAuslR 2010, 369), noch betrafen seine
Straftaten lediglich den Bereich leichter Kriminalität. Insbesondere die
Körperverletzungen sowie die räuberische Erpressung wiegen schwer. Was das
strafrechtliche Fehlverhalten anbelangt, spricht allerdings einiges dafür, dass sich das
Verhalten des Antragstellers bereits geändert hat und sich künftig nicht mehr wiederholen
wird. Seit der letzten Körperverletzung (in zwei Fällen), wegen der der Antragsteller zu
einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde, sind 14 Jahre vergangen.
Wegen derartiger Delikte ist der Antragsteller seither nicht in Erscheinung getreten.
Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr sind derzeit nicht ersichtlich; auch die
Antragsgegnerin hat hierzu nichts angeführt. Es spricht aber auch einiges dafür, dass sich
die Vermögensdelikte, die der Antragsteller bis 2004 begangen hatte, sowie die
räuberische Erpressung nicht wiederholen werden. Gerade diese zuletzt begangenen
schweren Straftaten standen - wie sich aus dem genannten Urteil des Landgerichts
Hamburg ergibt - im Zusammenhang mit der Spielsucht des Antragstellers. Diese
Spielsucht scheint der Antragsteller überwunden zu haben. Zur Aufarbeitung und
Überwindung seines pathologischen Glücksspielverhaltens hat er ab Juli 2010 in
regelmäßigem Kontakt zur Suchtberatungsstelle K. gestanden und erfolgreich an
Beratungs- sowie Behandlungsgesprächen teilgenommen (vgl. Bescheinigung dieser
Stelle vom 22.6.2012, Bl. 24 d.A.). Außerdem hat er sich von September 2011 bis Januar
2013 regelmäßig psychiatrisch behandeln lassen. In seinem Bericht vom 23. August 2013
(Bl. 25 d.A.) hat der behandelnde Arzt der Klinik festgestellt, dass eine Beendigung der
Behandlung zu diesem Zeitpunkt aus fachärztlicher Sicht vertretbar sei. Auch hat der
Antragsteller während der gesamten Bewährungszeit zuverlässig Kontakt zur
Bewährungshilfe gehalten. Inzwischen ist die restliche Freiheitsstrafe erlassen und die
Führungsaufsicht aufgehoben worden. In diesen Jahren ist er nicht mehr strafrechtlich in
Erscheinung getreten.
Das Gewicht der hiernach für eine Integration sprechenden Umstände wird dadurch
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gestützt, dass der Aufenthalt des Antragstellers bis zu seinem 36. Lebensjahr legal war.
Der Antragsteller verfügte bis zum Dezember 2005 über die erforderlichen
Aufenthaltserlaubnisse. Demgegenüber ist der Zeitraum, in dem der Antragsteller nur
noch geduldet wurde, verhältnismäßig kurz. Dass in dieser Zeit der Aufenthalt nicht
erlaubt war, vermag das Gewicht der zuvor erfolgten Integration nicht entscheidend zu
mindern. Zu berücksichtigen ist auch die gerade in dieser Zeit eingetretene
Verhaltensänderung, von der der Senat aufgrund des bisher glaubhaft gemachten
Sachverhalts ausgeht. Zwar musste der Antragsteller in dieser Zeit stets damit rechnen,
abgeschoben zu werden. Der Antragsteller hat sich jedoch nicht erstmalig auf der
Grundlage eines illegalen Aufenthalts maßgeblich integriert. In einem solchen Fall wäre
in Betracht zu ziehen, dass er nicht darauf vertrauen kann, dass ihm diese Integration zu
einem dauerhaften Aufenthaltsrecht verhilft. Hier kann jedoch die in dieser Zeit
eingetretene Verhaltensänderung nicht unabhängig von seinem jahrzehntelangen legalen
Aufenthalt betrachtet werden. Die in der verhältnismäßig kurzen Zeit illegalen Aufenthalts
erreichte weitere Integration hat die zuvor erreichte verstärkt und nimmt dem Antragsteller
nicht das Vertrauen darauf, dass sein Privatleben in Deutschland als Ganzes betrachtet
wird.
b) Was die Entwurzelung des Antragstellers von der Türkei und seine Möglichkeiten, sich
dort zu integrieren, anbelangt, ist nach Einschätzung des Senats von Folgendem
auszugehen:
Der Antragsteller würde im Falle seiner Abschiebung in ein ihm weitgehend fremdes Land
kommen, in dem ihm eine Integration kaum gelingen dürfte. Er ist in Deutschland geboren
worden und kann die türkische Sprache - wie er gegenüber dem Verwaltungsgericht
angegeben hat (Bl. 73 d.A. 15 K 338/11) - nur „ein bisschen“ sprechen, jedoch nicht
schreiben. Auch sein Bruder S. hat in seiner eidesstattlichen Versicherung (Bl. 41 d.A.)
bestätigt, dass der Antragsteller nur über sehr unzureichende türkische Sprachkenntnisse
verfügt. Den plausiblen Angaben des Antragstellers zufolge liegt das daran, dass seine
Eltern zwar türkische Staatsangehörige, jedoch georgische Volkszugehörige sind und die
lasische Sprache sprechen. Diese Sprache hat der Antragsteller jedoch offenbar nicht
gelernt, weshalb offen bleiben kann, ob eine Integration in die Türkei auf der Grundlage
im Wesentlichen nur der lasischen Sprache überhaupt möglich wäre. Mit den türkischen
Lebensverhältnissen ist der Antragsteller nicht vertraut. Er hat die Türkei nach seinen
glaubhaften eigenen Angaben nur wenige Male besucht und keinen Kontakt zu einem in
der Türkei lebenden Onkel. Seine Familie, bestehend aus seinen Eltern und vier
Geschwistern mit ihren Familien, lebt in Deutschland (Bl. 74 d.A. 15 K 338/11). Seine
Eltern halten sich zwar nach dem Eintritt seines Vaters in den Ruhestand häufiger in der
Türkei auf. Ihren Lebensmittelpunkt haben sie nach den glaubhaft gemachten Angaben
seines Bruders S. (Bl. 41 d.A.) aber weiterhin in Deutschland.
c) Der Senat gelangt bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen umfassenden
Gewichtung und Würdigung aller dargestellten Gesichtspunkte und Erwägungen im
Ergebnis zu der Einschätzung, dass es dem Antragsteller nicht zugemutet werden kann,
seinen Aufenthalt in Deutschland zu beenden und zukünftig in der Türkei zu leben:
Dem Umstand, dass der Antragsteller durch sein Leben in Deutschland seit seiner Geburt
über nahezu 44 Jahre in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, kommt erhebliches
Gewicht bei. Bereits diese Dauer spricht dafür, dass es sich bei dem Antragsteller faktisch
um einen Inländer handelt. Es kommt hinzu, dass er hier gewichtige soziale Bindungen
hat. Dabei ist insbesondere an die Bindungen zu seinen - auch deutschen -
Familienangehörigen zu denken, aber auch an die neuerdings entstandene Bindung zu
seiner deutschen Lebensgefährtin und ihren Kindern. Die bislang fehlende wirtschaftliche
Integration lässt nicht die Wirkungen entfallen, die durch ein jahrzehntelanges Leben in
Deutschland hervorgerufen werden. Insoweit ist die Situation des Antragstellers
vergleichbar mit der von Deutschen, die ebenfalls hier sozialisiert sind, ohne sich eine
wirtschaftliche Existenz aufgebaut zu haben. Hinzu kommt, dass hinreichend gute
Aussichten bestehen, dass der Antragsteller künftig als Gabelstaplerfahrer einem
geregelten Erwerbsleben nachgehen wird. Den Straftaten schließlich wird eine
ausschlaggebende Bedeutung nicht mehr beigemessen werden können. Insofern ist
bereits zu berücksichtigen, dass die letzte Straftat des Antragstellers mittlerweile mehr als
acht Jahre zurückliegt. Vor allem aber dürfte derzeit aufgrund der offenbar erfolgreichen
Behandlung seiner Glücksspielsucht und wohl auch aufgrund der sozialen Einbindung in
seine Familie sowie in die neu begründete Lebensgemeinschaft keine
Wiederholungsgefahr mehr bestehen. Schon aus diesem Grunde dürfte inzwischen kein
dringendes soziales Bedürfnis mehr bestehen, den Antragsteller aus Deutschland
fernzuhalten. Seine Abschiebung wäre zudem deswegen unverhältnismäßig, weil es ihm
kaum möglich sein würde, in der Türkei Fuß zu fassen. Diese schwer wiegende Folge
einer Abschiebung wäre angesichts seiner sozialen Integration in die hiesigen
Lebensverhältnisse bei fehlender Wiederholungsgefahr von Straftaten nicht durch
hinreichend gewichtige öffentliche Belange gerechtfertigt.
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B Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.
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