Urteil des FG Hamburg vom 11.04.2014

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Kernbrennstoffsteuer, Verfahrensrecht: Aufhebung der Vollziehung wegen ernstlicher Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit und Unionsrechtmäßigkeit des KernbrStG
1. Der 4. Senat des Finanzgerichts Hamburg hält das Kernbrennstoffsteuergesetz für verfassungswidrig. Die
Kernbrennstoffsteuer besteuere nicht den Verbrauch von Kernbrennstoffen oder elektrischen Strom, sondern sei eine Steuer
zur Abschöpfung der Gewinne der Kraftwerkbetreiber. Deshalb habe sich der Bund zu Unrecht auf seine
Gesetzgebungskompetenz für Verbrauchsteuern berufen (im Anschluss an den Vorlagebeschluss des FG Hamburg an das
BVerfG vom 29.01.2013, 4 K 270/11).
2. Die Unionsrechtmäßigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes ist ernsthaft zweifelhaft. Das in der europäischen
Energiesteuerrichtlinie verankerte Prinzip der "Output-Besteuerung" verbietet es, neben dem elektrischen Strom selbst auch
noch die Energieerzeugnisse zu besteuern, die zu seiner Produktion eingesetzt werden. Es ist durchaus möglich, dass
dieses Verbot auch die in der Richtlinie nicht ausdrücklich genannten Kernbrennstoffe erfasst (im Anschluss an das
Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg an den EuGH vom 19.11.2013, 4 K 122/13).
3. Um das Bestehen begründeter Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Bescheids zu begründen, ist der Hinweis auf ein
anhängiges Vorabentscheidungsersuchen zu den maßgeblichen Fragen an den EuGH hinreichend, dessen Ausgang nicht
vorhersehbar ist.
4. Für die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz wegen ernstlicher Zweifel, ob das dem angefochtenen Bescheid
zugrunde liegende Gesetz unionsrechtmäßig ist, bedarf es über die in § 69 FGO ausdrücklich benannten Voraussetzungen
hinaus keines besonderen Interesses des Antragstellers an der Gewährung von Aussetzung bzw. Aufhebung der
Vollziehung.
5. Das für die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutzes wegen ernstlicher Zweifel, ob das dem angefochtenen Bescheid
zugrunde liegende Gesetz verfassungsmäßig ist, von Teilen der Rechtsprechung verlangte besondere Aussetzungs- oder
Aufhebungsinteresse ist dann gegeben, wenn das Gesetz dem BVerfG im Rahmen eines konkreten
Normenkontrollverfahrens zur Prüfung vorgelegt worden ist. Dies gilt auch für Vorlagebeschlüsse eines Finanzgerichts.
Beschwerde, Az.: VII B 66/14
FG Hamburg 4. Senat, Beschluss vom 11.04.2014, 4 V 153/13
Art 1 Abs 1 EGRL 118/2008, Art 1 Abs 2 EGRL 118/2008, Art 2 Abs 1 EGRL 96/2003, Art 2 Abs 3
EGRL 96/2003, Art 14 Abs 1 Buchst a EGRL 96/2003, Art 100 Abs 1 GG, § 69 Abs 2 FGO, § 69
Abs 3 FGO, § 69 Abs 6 S 2 FGO, § 115 Abs 2 FGO, § 128 Abs 3 S 2 FGO
Verfahrensgang
Gründe
I.
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Die Antragstellerin begehrt die Aufhebung der Vollziehung einer Steueranmeldung vom
08.06.2012 betreffend Kernbrennstoffsteuer, wobei zwischen den Beteiligten kein Streit
besteht über die zutreffende Anwendung des Kernbrennstoffsteuergesetzes vom
08.12.2010 (BGBl. I S. 1804 - KernbrStG -), sondern ausschließlich über die Frage, ob
das Kernbrennstoffsteuergesetz selbst rechtmäßig ist.
1. Die Antragstellerin betreibt von den neun gegenwärtig in Deutschland noch in Betrieb
befindlichen Kernkraftwerken unter anderem das streitgegenständliche Kernkraftwerk in
A. Sie ist im Besitz der dafür erforderlichen atomrechtlichen Genehmigung.
Im Juni 2013 wurden Brennelemente in den Kernreaktor des Kernkraftwerks eingesetzt
und eine sich selbsttragende Kettenreaktion ausgelöst. Die Antragstellerin berechnete in
ihrer Steueranmeldung vom 02.07.2013 Kernbrennstoffsteuer in Höhe von EUR
123.950.060 und erhob dagegen am 08.07.2013 beim Finanzgericht Hamburg (FG)
Sprungklage (Az. 4 K 92/13). Das Verfahren ruht aufgrund des Beschlusses des FG
Hamburg vom 14.08.2013.
Am 28.11.2013 hat die Antragstellerin, nachdem ihr Antrag auf Aufhebung der
Vollziehung der angemeldeten und gezahlten Kernbrennstoffsteuer vom Antragsgegner
abgelehnt worden war, beim Finanzgericht Hamburg um die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nachgesucht.
2. In Bezug auf eine frühere Steueranmeldung der Antragstellerin vom 08.07.2011 für
dasselbe Kernkraftwerk hat der beschließende Senat mit Beschluss vom heutigen Tag
(Az. 4 V 154/13) deren Vollziehung aufgehoben. Der Senat verweist hinsichtlich des
weiteren Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten auf den Inhalt jenes
Beschlusses, ausgenommen die Ausführungen der Beteiligten, die sich auf die dortige
Zulässigkeit des Antrags nach § 69 Abs. 6 FGO beziehen.
3.
Die Antragstellerin beantragt,
die Vollziehung der am 02.07.2013 angemeldeten und gezahlten
Kernbrennstoffsteuer in Höhe von EUR 123.950.060 ohne Sicherheitsleistung für
den Zeitraum ab Fälligkeit der angemeldeten Kernbrennstoffsteuer bis einen Monat
nach Zustellung der Entscheidung über den Abschluss des Klageverfahrens
aufzuheben.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen,
hilfsweise
die Aufhebung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung anzuordnen.
4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
Sachakte des Antragsgegners verwiesen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Der Antrag ist nach § 69 Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig, insbesondere ist ein
zunächst beim Antragsgegner gestellter Antrag auf Aufhebung der Vollziehung vom
Antragsgegner abgelehnt worden, § 69 Abs. 4 FGO.
2. Der Antrag ist auch begründet, denn es bestehen gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m.
Abs. 2 Satz 2, 1. Alt. FGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen
Steueranmeldung im Hinblick einerseits auf die Unionsrechtmäßigkeit des
Kernbrennstoffsteuergesetzes und andererseits auf dessen Verfassungsmäßigkeit:
In seinem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union vom
19.11.2013 hat der beschließende Senat dargelegt, welche Zweifel an der
Unionsrechtmäßigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes bestehen. Für die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes ist es hinreichend, dass es auf der Grundlage der
Erwägungen des Vorabentscheidungsersuchens nicht auszuschließen ist, dass der
Gerichtshof der Europäischen Union im Sinne der Antragstellerin entscheiden wird.
Darüber hinaus sieht der beschließende Senat sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit,
dass das Kernbrennstoffsteuergesetz jedenfalls gegen die Energiesteuerrichtlinie RL
2003/96/EG bzw. gegen die Verbrauchsteuersystemrichtlinie RL 2008/118/EG verstößt.
Die Energiesteuerrichtlinie RL 2003/96/EG bezweckt eine Besteuerung des Verbrauchs
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nur im Bestimmungsland unter Vermeidung einer Mehrfachbesteuerung durch zusätzliche
Besteuerung im Ursprungsland des Verbrauchsgutes. Die Mitgliedstaaten sind gemäß
Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/96/EG grundsätzlich verpflichtet, die bei der
Stromerzeugung verwendeten "Energieerzeugnisse" von der Steuer zu befreien und
(lediglich) den erzeugten Strom mit Energiesteuer zu belegen (sog. Output-Besteuerung).
Auch wenn die zur Stromerzeugung eingesetzten Kernbrennstoffe im
Anwendungskatalog von Art. 2 RL 2003/96/EG nicht genannt sind, gibt es nach Ansicht
des Senats gute Gründe für die Annahme, dass sich die Steuerbefreiung der für die
Stromerzeugung eingesetzten Stoffe auch auf die Kernbrennstoffe erstreckt.
Der beschließende Senat neigt andernfalls dazu, in der Kernbrennstoffsteuer eine
indirekte Steuer auf elektrischen Strom gemäß Art. 1 RL 2008/118/EG zu erkennen, die
deshalb unzulässig ist, weil sie im Unionsrecht nicht näher geregelt ist und sie nicht dem
gemäß Art. 1 Abs. 2 RL 2008/118/EG beschränkten Steuerfindungsrecht der
Mitgliedstaaten für indirekte Steuern auf verbrauchsteuerpflichtige Waren unterfällt.
Wegen der Einzelheiten der Begründung wird Bezug genommen auf den Inhalt des
Vorabentscheidungsersuchens in der Sache 4 K 122/13 und - hier wie auch im
Folgenden - auf die ausführliche Begründung des Senatsbeschlusses in der
Parallelsache 4 V 154/13.
3. Nach Ansicht des Senats ist eine Aufhebung der Vollziehung daneben auch wegen
ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Kernbrennsteuergesetzes zu
gewähren. Der Senat ist davon überzeugt, dass das Gesetz formell verfassungswidrig ist,
weil die Kernbrennstoffsteuer keine Verbrauchsteuer im Sinne der
finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzregeln ist und dem Bund auch im Übrigen keine
(alleinige) Gesetzgebungskompetenz zur Verfügung steht. Insoweit wird zusätzlich Bezug
genommen auf den Vorlagebeschluss des Senats in der Sache 4 K 270/11.
4. Das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen
Steueranmeldung verpflichtet zur Gewährung des begehrten vorläufigen Rechtsschutzes.
Weitere Voraussetzungen sind nicht zu erfüllen.
Einzelne Senate des Bundesfinanzhofs fordern allerdings im Falle von Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Vorschrift zusätzlich
ein berechtigtes Interesses an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (vgl.
Beschluss vom 09.03.2012, VII B 171/11; Beschluss vom 27.05.2004, III B 127/03, m. w.
N.), das allerdings unter anderem immer dann gegeben sein soll, wenn der
Bundesfinanzhof die Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines
konkreten Normenkontrollverfahrens zu Überprüfung vorgelegt hat (vgl. BFH, Beschluss
vom 21.11.2013, II B 46/13, unter Bezugnahme auf BFH, Beschluss vom 23.04.2012, III B
187/11; BFH, Beschluss vom 01.04.2010, II B 168/09). Nach Ansicht des beschließenden
Senats kann für die Vorlage durch ein Finanzgericht nichts anderes gelten. Insofern liegt
ein derart berechtigtes Interesse vor.
5. Eine Sicherheitsleistung ist nicht anzuordnen.
Die Anordnung einer Sicherheitsleistung gemäß § 69 Abs. 2 Satz 3 FGO stellt eine
Ausnahme vom Regelfall dar und setzt eine Gefährdung des Steueranspruchs voraus.
Der insoweit darlegungspflichtige Antragsgegner behauptet keine gegenwärtige, sondern
lediglich eine zukünftige Gefährdung. Er begründet seine Behauptung indes nicht
hinreichend substantiiert, sondern mit eher spekulativen Erwägungen. Auch insoweit wird
auf die ausführliche Begründung des Beschlusses 4 V 154/13 Bezug genommen.
6. Die Kosten des Verfahrens fallen dem Antragsgegner zur Last, § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis
beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 151 Abs. 3 FGO analog, § 155 FGO i. V. m. § 708
Nr. 10, § 711 ZPO.
Der Senat lässt die Beschwerde gegen diesen Beschluss nach § 128 Abs. 3 Satz 1 FGO
zu.
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