Urteil des FG Düsseldorf vom 12.01.2006

FG Düsseldorf: neue tatsache, einkünfte, einkommensgrenze, sammlung, berufsausbildung, einspruch, vollstreckung, sicherheitsleistung, steuervergütung, bestreitung

Finanzgericht Düsseldorf, 14 K 4078/05 Kg
Datum:
12.01.2006
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 K 4078/05 Kg
Tenor:
Unter Änderung des Bescheides vom 29. Juli 2005 und der
Einspruchsentscheidung vom 30. August 2005 wird die Beklagte
verpflichtet, dem Kläger für seine Tochter Angelka zusätzlich für den
Zeitraum Januar 2002 bis September 2002 Kindergeld in gesetzlicher
Höhe zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe
des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der
Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist das Kindergeld für den Zeitraum Januar bis September 2002.
2
Der Kläger ist der Vater der am 8. März 1983 geborenen Angelka. Die Tochter des
Klägers befand sich seit dem 1. Dezember 2000 in Ausbildung zur Augenoptikerin.
Ausweislich der Ausbildungsbescheinigung vom 26. Januar 2001 sollte das monatliche
Bruttogehalt der Tochter ab dem 1. Dezember 2000 850 DM und ab dem 1. August 2001
1.100 DM betragen. Etwaige Zusatzleistungen waren ausweislich dieser Bescheinigung
nicht vorgesehen. Einer weiteren Bescheinigung über die Fortdauer bzw. das Ende der
Berufsausbildung vom 15. Juli 2002 ist zu entnehmen, dass das Ausbildungsende für
den Januar 2003 vorgesehen war. Darüber hinaus war als monatliche
Ausbildungsvergütung für die Zeit ab dem 1. Juli 2002 ein Betrag von 789,14 EUR
angegeben. Außerdem sollte die Tochter des Klägers folgende Sonderzuwendungen
erhalten: Juni 2002 307 EUR, November 2002 307 EUR.
3
Im Anschluss daran errechnete die Beklagte unter dem 2. August 2002 im Rahmen
einer Prognose eine voraussichtliche Überschreitung der Einkommensgrenze für das
Jahr 2002. Dabei zog sie von den Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit lediglich
den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 1.044 EUR ab.
4
Mit Bescheid vom 3. September 2002 hob die Beklagte sodann die Festsetzung des
Kindergeldes für das Kind Angelka ab dem Monat Januar 2002 auf und forderte zugleich
das für den Zeitraum Januar 2002 bis Juni 2002 zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von
924 EUR zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
5
Unter dem 21. Juli 2005 teilte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 der Beklagten mit, dass das
Bruttojahreseinkommen seiner Tochter lt. Gehaltsabrechnung 2002 9.537,18 EUR
betragen habe. Unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1.993 EUR
sowie einer Werbungskostenpauschale in Höhe von 920 EUR errechnete der Kläger
sodann ein Nettoeinkommen in Höhe von 6.624 EUR.
6
Dazu überreichte der Kläger u. a. die Abrechnung der Brutto-Netto-Bezüge für den
Monat Dezember 2002.
7
Mit Bescheid vom 29. Juli 2005 gewährte die Beklagte sodann Kindergeld für den
Zeitraum von Oktober 2002 bis Januar 2003 in Höhe von 154 EUR monatlich. Zur
Begründung führte sie aus, der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sei auf alle
offenen Fälle anzuwenden. Nach Bestandskraft eines Bescheides sei ein später
gestellter Antrag als Neuantrag für die ungeregelten Monate zu behandeln (§ 67 Abs. 1
Einkommensteuergesetz -EStG-). Die Festsetzung für das Kind sei mit Bescheid vom 3.
September 2002 bestandskräftig aufgehoben worden. Kindergeld könne daher
frühestens ab dem Folgemonat der Bekanntgabe des Bescheides - Oktober 2002 -
festgesetzt werden.
8
Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 11. August 2005 Einspruch ein. Zur
Begründung führte er ergänzend aus, selbst wenn man dem Inhalt des Bescheides vom
29. Juli 2005 folgen wolle, so wäre Kindergeld zumindest bereits ab Juli 2002 zu
gewähren. Denn mit Bescheid vom 3. September 2002 habe die Beklagte lediglich über
den Zeitraum bis einschließlich Juni 2002 entschieden, für den Zeitraum danach
enthalte der Bescheid keine Entscheidung.
9
Mit Einspruchsentscheidung vom 30. August 2005 wies die Beklagte den Einspruch des
Klägers als unbegründet zurück. Ergänzend führte er aus, die Voraussetzungen, unter
denen die Bestandskraft des ablehnenden Bescheides nach den Korrekturvorschriften
der §§ 172 ff. Abgabenordnung und des § 70 Abs. 2 bis 4 Einkommensteuergesetz
rückwirkend durchbrochen werden könne, seien nicht gegeben. Zwar seien die
Korrekturvorschriften der AO und des EStG grundsätzlich anwendbar, weil seinerzeit mit
der Aufhebungsentscheidung eine Prüfung in der Sache verbunden gewesen sei.
Jedoch greife kein Korrekturbestand ein. Insbesondere scheide eine Korrektur nach §
173 Abs. 1 Nr. 2 AO (nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln)
aus, weil eine nachträgliche Änderung der Rechtsprechung oder eine andere rechtliche
Beurteilung des Sachverhaltes durch die Verwaltungsbehörde keine neue Tatsache im
Sinne von § 173 AO sei.
10
Mit der am 28. September 2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren
weiter.
11
Ergänzend macht er geltend, im Jahre 2002 sei die maßgebliche Einkommensgrenze
nicht überschritten gewesen, sodass ihm für das gesamte Jahr und nicht erst für die Zeit
ab Oktober 2002 Kindergeld zugestanden habe. Hätte die Beklagte das Recht bereits im
Jahre 2002 richtig angewandt, hätte sie den Bescheid vom 3. September 2002 nicht
erlassen dürfen.
12
Der Kläger beantragt,
13
die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 29. Juli 2005 und der
Einspruchsentscheidung vom 30. August 2005 zu verpflichten, ihm für seine Tochter
Angelka für den Zeitraum Januar 2002 bis September 2002 Kindergeld in der
gesetzlichen Höhe zu gewähren.
14
Die Beklagte beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16
Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen.
17
Die Beteiligten haben sich mit Schriftsatz vom 21. November 2005 bzw. mit Schriftsatz
vom 2. Dezember 2005 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.
19
Entscheidungsgründe:
20
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten
damit einverstanden erklärt haben (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO).
21
Die Klage ist begründet.
22
Der Bescheid vom 29. Juli 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Beklagte ist zu Unrecht davon
ausgegangen, dass eine Änderung des Bescheides vom 3. September 2002 bezüglich
der Monate Januar bis September 2002 nicht mehr möglich ist.
23
Für ein Kind, das - wie im Streitfall die Tochter des Klägers - das 18., aber noch nicht
das 27. Lebensjahr vollendet hat, wird auf Antrag Kindergeld gewährt, wenn die
Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG vorliegen (§§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 67
Abs. 2, 72 Abs. 7 EStG). Danach besteht ein Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn
das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2a EStG). Im Streitfall
lagen die Kindergeldvoraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG während des
gesamten Jahres 2002 vor. Die Tochter des Klägers befand sich in dem gesamten
Zeitraum in einer Ausbildung zur Augenoptikerin.
24
Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG setzt der Kindergeldanspruch zusätzlich voraus, dass
25
die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes, die zur Bestreitung des Unterhalts oder
der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, den Jahresgrenzbetrag - von 7.188
EUR im Jahr 2002 - nicht überschreiten.
Auch diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die im Rahmen des § 32 Abs.
4 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Einkünfte der Tochter des Klägers berechnen sich
wie folgt:
26
Bruttogehalt laut Ge-
27
haltsabrechnung 12/2002 9.537,18 EUR
28
abzüglich Werbungskostenpauschale 1.044,00 EUR
29
abzüglich Sozialversicherungsbeiträge 1.993,26 EUR
30
insgesamt 6.499,92 EUR.
31
Der Jahresgrenzbetrag von 7.188 EUR wird damit nicht überschritten, was zwischen
den Beteiligten auch unstreitig ist, zumal die Beklagte Kindergeld für die Monate
Oktober bis Dezember 2002 bereits gewährt hat.
32
Entgegen der Auffassung der Beklagten hindert die Bestandskraft des
Aufhebungsbescheides vom 3. September 2002 die Kindergeldgewährung für die
Monate Januar bis September 2002 nicht, da § 70 Abs. 4 EStG eine entsprechende
Berichtigung ermöglicht.
33
Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern,
wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den
Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Die Vorschrift soll
sicherstellen, dass eine Kindergeldfestsetzung für ein volljähriges Kind auch nach
Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des
Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG entgegen einer früheren Prognose der
Familienkasse über - oder unterschreiten. Damit wird dem Umstand Rechnung
getragen, dass eine steuerliche Entscheidung wegen des Jährlichkeitsprinzips
grundsätzlich rückblickend erfolgt, die Steuervergütung Kindergeld jedoch bereits im
Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird (Bundestagsdrucksache 14/6160, S.
14).
34
Im Streitfall hat sich nach Erlass des Aufhebungsbescheides herausgestellt, dass die
Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der nicht in die
Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehenden gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.
Januar 2005 2 BvR 167/02 Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs -BFH/NV- 2005, Beilage 3, 260 bis 266) den Grenzbetrag
unterschreiten.
35
Der Auffassung des Beklagten, § 70 Abs. 4 EStG komme deshalb nicht zum Tragen,
weil die auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts geänderte
Rechtsauffassung bezüglich der Behandlung der Sozialversicherungsbeiträge kein
nachträgliches Bekanntwerden im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG darstelle, vermag der
36
Senat nicht zu folgen.
Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG trägt - wie bereits erwähnt - dem Umstand
Rechnung, dass eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Einkünfte und
Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht, regelmäßig erst
nach Ablauf des betreffenden Kalenderjahres getroffen werden kann (vgl. BFH-Urteile
vom 26. Juli 2001 VI R 55/00, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes -
BFHE- 196, 270, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2002, 86; vom 30. November 2004 VIII R
6/03, BFH/NV 2005, 890). Vor Ablauf des Kalenderjahres steht die tatsächliche Höhe
der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht fest, vielmehr ist insoweit nur eine mehr
oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung
über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende
Kalenderjahr trifft. Insofern wird die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge nach
Ablauf des betreffenden Kalenderjahres gegenüber der Prognoseentscheidung
zwangsläufig nachträglich bekannt.
37
Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die
abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des
Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt. Die
Berichtigungsmöglichkeit besteht nach der vom Senat als zutreffend erachteten
Entscheidung des BFH vom 26. Juli 2001 (VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002,
86) z.B. auch dann, wenn die Familienkasse bei ihrer Prognoseentscheidung
voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die
sie bei abschließender Prüfung dann doch nicht als Werbungskosten anerkennt - die
Korrektur also auf einer geänderten Rechtsauffassung beruht. Entsprechendes muss
auch für den umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen der
Prognoseentscheidung als nicht abzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich
als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige
Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der
Vorläufigkeit in sich.
38
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
39
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155
FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
40
Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache im Hinblick auf die Frage der
Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG in einer Vielzahl gleichgelagerter, bereits
anhängiger Verfahren von Relevanz ist und somit grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115
Abs. 2 Nr. 1 FGO).
41