Urteil des FG Düsseldorf vom 19.08.2010

FG Düsseldorf (freiwillige leistung, bundesrepublik deutschland, kläger, festsetzung, verzinsung, höhe, steuer, steuerfestsetzung, zahlung, stadt)

Finanzgericht Düsseldorf, 14 K 364/08 AO
Datum:
19.08.2010
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 K 364/08 AO
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2007 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.01.2008 verpflichtet, die
Zinsen zur Einkommensteuer 2001 im Bescheid vom 14.05.2007 nach §
163 der Abgabenordnung auf 41.454,-- EUR herab zu setzten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig
vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der
Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die abweichende Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur
Einkommensteuer 2001 im Billigkeitswege.
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Der Kläger bezog im Streitjahr 2001 u. a. Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit als
Geschäftsführer der "S-AG". Am 13.07.1995 schloss der Kläger mit dem
Hauptgesellschafter der "S-AG" für sein bisheriges und zukünftiges Engagement eine
notarielle Vereinbarung, in der der Hauptgesellschafter dem Kläger eine Beteiligung an
den Wertzuwächsen der "S-AG" anbot. Zur Abgeltung weiterer Ansprüche so wie des
Anspruchs des Klägers im Zusammenhang mit der notariellen Vereinbarung vom
13.07.1995 schloss der Kläger mit dem Hauptgesellschafter in einem Verfahren vor dem
Landgericht "E-Stadt" (Az. 3 0431/99) am 11.01.2001 einen Vergleich. Gegenstand des
Vergleichs war u.a. die Zahlung eines Betrages in Höhe von 4.500.000,-- DM an den
Kläger. Im Bescheid vom 21.06.2001 wurde dieser Betrag im vollem Umfang vom
Finanzamt "W-Stadt" der Schenkungsteuer unterworfen. Der Kläger zahlte die
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Schenkungsteuer am 25.07.2001.
Ohne einen Ansatz der Zahlung von 4.500.000,-- DM setzte der Beklagte in dem unter
dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Einkommensteuerbescheid 2001 vom
13.06.2003 die Einkommensteuer auf 1.682.064,39 Euro fest.
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Im Jahr 2006 fand beim Kläger eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt für Groß- und
Konzernbetriebsprüfung "E-Stadt" statt. Im Prüfungsbericht vom 19.12.2006 traf der
Prüfer die Feststellung, dass durch die Zahlung von 4.500.000,-- DM einerseits
Sachverhalte abgegolten werden sollten, die der Schenkungsteuer unterlägen, und
andererseits solche, die ertragssteuerlich zu erfassen seien. Die mit der Erzielung der
Einnahmen im Zusammenhang stehenden Beratungskosten seien anteilig als
Werbungskosten abziehbar. Die ertragsteuerlichen Einnahmen seien um 2.500.000,--
DM vermindert um Werbungskosten in Höhe von 48.563,-- DM zu erhöhen.
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In einem Anschreiben an dem Beklagten vom 19.12.2006 teilte der Prüfer dem
Beklagten mit, dass der Kläger im Rahmen der Schlussbesprechung beantragt habe,
die zu erstattende Schenkungsteuer auf die Einkommensteuernachzahlung
umzubuchen. Dabei sei nach Ansicht der Betriebsprüfung der bisherige
Wertstellungstag der Zahlung für die Einkommensteuer zu übernehmen, damit es zu
einer zutreffenden Festsetzung von Nachzahlungszinsen nach § 233a der
Abgabenordnung (AO) kommen könne. Eine Festsetzung von
Einkommensteuernachzahlungszinsen für 2001 auf die komplette Mehrsteuer führe zu
einer sachlichen Unbilligkeit gegenüber dem Steuerpflichtigen, da ein Liquiditätsvorteil
für den Steuerpflichtigen nicht gegeben und eine Verzinsung der
Schenkungsteuererstattung gesetzlich nicht vorgesehen sei. Es werde deshalb gebeten,
die Auswertung des Bp-Berichts mit dem Finanzamt "W-Stadt" abzustimmen.
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Unter dem 14.05.2007 erließ der Beklagte einen nach § 164 Abs. 2 AO geänderten
Einkommensteuerbescheid 2001, in dem er die Einnahmen aus nichtselbstständiger
Arbeit um 2.500.000,-- DM erhöhte und zugleich weitere Werbungskosten in Höhe von
48.563,-- DM berücksichtigte. Die Einkommensteuer 2001 setzte der Beklagte in Höhe
von 2.256.527,41 Euro und die Zinsen zur Einkommensteuer 2001 in Höhe von
146.906,-- Euro fest.
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Am 04.06.2007 erließ das Finanzamt "W-Stadt" einen nach § 174 AO geänderten
Schenkungsteuerbescheid. In diesem verminderte das Finanzamt die
Bemessungsgrundlage um den der Einkommensteuer unterworfenen Betrag und nahm
eine Erstattung der Schenkungsteuer in Höhe von 438.683,88 Euro vor.
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Gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 legte der Kläger am
15.06.2007 Einspruch ein und beantragte, die Zinsen zur Einkommensteuer auf 41.454,-
- Euro herab zu setzten. Zur Begründung trug er vor, dass die aus der Erhöhung der
Bemessungsgrundlage entfallende Einkommensteuer von 607.916,-- Euro um die zu
Unrecht gezahlte Schenkungsteuer von 438.684,-- Euro zu mindern sei. Die auf den
verbleibenden Differenzbetrag von gerundet 169.200,--Euro vorzunehmende
Verzinsung belaufe sich lediglich auf 41.454,-- Euro (49 Monate x 0,5 % x 169.200,--
Euro = 41.454,-- Euro). Zu berücksichtigen sei, dass die jetzt nachgeforderte
Einkommensteuer bereits am 25.07.2001 teilweise zur Begleichung der
Schenkungsteuerschuld verausgabt worden sei und andererseits die erstattete
Schenkungsteuer nicht verzinst werde. Insoweit habe die jetzt nachgeforderte
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Einkommensteuer nicht zur (fiktiven) Kapitalanlage zur Verfügung gestanden.
Im Einspruchsverfahren stellte der Kläger hilfsweise einen Antrag auf abweichende
Steuerfestsetzung nach § 163 AO, den der Beklagte im Bescheid vom 10.12.2007
ablehnte.
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In der Einspruchsentscheidung vom 02.01.2008 wies der Beklagte den Einspruch, den
er zugleich als Einspruch gegen die Ablehnung des Antrages nach § 163 AO
behandelte, als unbegründet zurück und führte aus: Im Rahmen der Verzinsung von
Steuernachforderungen nach § 233a AO sei unmaßgeblich, aus welchen Gründen die
spätere Nachzahlung erfolge. Denn die Verzinsung solle einen Ausgleich dafür
schaffen, dass die Steuern trotz gleichem gesetzlichen Entstehungszeitpunkt zu
unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und erhoben würden. Ansatzpunkt hierfür sei
der wirtschaftliche Vorteil, der einem Steuerpflichtigen bei einer späteren Nachzahlung
entstehe. Dieser sei unabhängig vom Verhalten der Verwaltung zu beurteilen. Nur in
dem Fall, dass der Gesetzeszweck in Form der Abschöpfung des Liquiditätsvorteils
nicht erreicht werde, könnten Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall in einem separaten
Verfahren berücksichtigt werden. Hierfür sei erforderlich, dass der Steuerpflichtige die
Steuer im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung durch eine vorherige freiwillige Zahlung oder
wegen Verrechnung bereits vollständig getilgt habe.
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Die Tatsache, dass der Kläger bereits im Jahre 2001 teilweise zu Unrecht zur
Schenkungsteuer veranlagt, inzwischen mit geändertem Schenkungsteuerbescheid
vom 04. 06.2007 die Schenkungsteuer erstattet worden sei und der Umstand, dass eine
Verzinsung der zu Unrecht gezahlten Schenkungsteuer nach § 233a AO gesetzlich
nicht vorgesehen sei, führe nicht dazu, dass eine sachliche Unbilligkeit vorliege und
entsprechend eine abweichende Steuerfestsetzung i.S. des § 163 AO hinsichtlich der
Zinsfestsetzung zur Einkommensteuer 2001 durchzuführen sei. Eine freiwillige Leistung
des Klägers habe zunächst nicht vorgelegen, da er aufgrund des
Schenkungsteuerbescheides vom 21.06.2001 die Schenkungsteuer zahlen musste. Da
die Änderung der Schenkungsteuer nach Bekanntgabe des geänderten
Einkommensteuerbescheides erfolgte, sei vor der Änderung der Einkommensteuer 2001
kein freiwillige Leistung erbracht worden.
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Dagegen hat der Kläger am 07.02.2008 Klage eingereicht und trägt ergänzend vor:
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Bei der Frage des Erlasses von Zinsen nach § 233a AO aus sachlichen
Billigkeitsgründen sei zu berücksichtigen, dass die Zinsen eine laufzeitabhängige
Gegenleistung für eine mögliche Kapitalnutzung darstellten. Nachzahlungszinsen seien
deshalb immer dann zu erlassen, soweit der Steuerpflichtige auf die sich aus der
Steuerfestsetzung ergebende Steuerzahlungsforderung vor Wirksamkeit der
Steuerfestsetzung freiwillige Leistungen erbracht und das Finanzamt die Leistungen
angenommen und behalten habe. Darüber hinaus sei für eine Steuernachforderung
dann kein Raum, wenn zweifelsfrei feststehe, dass der Steuerpflichtige durch die
verspätete Festsetzung keinen Vorteil erlangt habe. Festgesetzte Nachzahlungszinsen
seien dann nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) wegen sachlicher
Unbilligkeit zu erlassen. Aufgrund dessen hätte der Beklagte bei der durchzuführenden
Gesamtbetrachtung berücksichtigen müssen, dass er bereits Mitte des Kalenderjahres
2001 die Schenkungsteuer teilweise zu Unrecht gezahlt habe. Erst mit Bescheid vom
04.06.2007 sei ihm die überzahlte Schenkungsteuer erstattet worden. Deshalb ergebe
sich aus der Tatsache, dass er im Zeitraum von 2001 bis Mitte des Jahres 2007 über
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den zu Unrecht gezahlten Schenkungsteuerbetrag nicht habe verfügen können, eine
sachliche Unbilligkeit. Die Festsetzung von Zinsen auf den gesamten
Einkommensteuernachforderungsbetrag habe zur Folge, dass dem Fiskus ein doppelter
Liquiditätsvorteil zu gute komme. Dies würde dem gesetzlich verfolgten Zweck,
Liquiditätsvorteile des Steuerpflichtigen bzw. Liquiditätsnachteile des Fiskus
auszugleichen, widersprechen. Diese Konstellation habe der Gesetzgeber bei der
Regelung des § 233a AO nicht bedacht.
Die vorliegende Sachlage sei mit den vom BFH entschiedenen Fällen im Beschluss
vom 15.01.2008 VIII B 222/06, im Urteil vom 30.03.2006 V R 60/04 und im Beschluss
vom 10.03.2006 V B 82/05 nicht zu vergleichen. Denn in den vom BFH entschiedenen
Fällen handele es sich entweder um einen anderen Steuergläubiger bzw.
Steuerschuldner oder dem jeweiligen Steuerpflichtigen sei ein Liquiditätsvorteil
tatsächlich zu Gute gekommen. Vorliegend sei dies jedoch nicht der Fall. Aus dem BFH-
Beschluss vom 15.01.2008 könne nicht abgeleitet werden, dass nach der Auffassung
des BFH auf das konkrete Schuldverhältnis abzustellen sei. Aus der Formulierung unter
Rz. 13 der bei Juris veröffentlichten Entscheidungsgründe zum Beschluss vom
15.01.2008 VIII B 222/06 ergebe sich vielmehr, dass der BFH zwischen dem
Steuerschuldverhältnis des dortigen Klägers zur Bundesrepublik Deutschland und
demjenigen zur Republik Österreich abgrenzen wolle. Aus dem Urteil vom 22.02.2005 V
R 62/03 (BFH/NV 2005, 1220) sei zu entnehmen, dass der BFH im Zusammenhang mit
dem Begriff des Steuerschuldverhältnisses den Steueranspruch der Bundesrepublik
Deutschland gegen ihre Bürger von anderen Ansprüchen, nämlich einer etwaigen
Zahlungsverpflichtung der Bürger der Bundesrepublik Deutschland gegenüber
Drittstaaten oder anderen Steuerpflichtigen aus privatrechtlichen Schuldverhältnissen
abgrenze. Eine Abgrenzung, wie sie vom Beklagten vorgenommen werde in dem Sinne,
dass auf die konkrete Steuerart abzustellen sei, sei der Rechtsprechung des BFH
hingegen nicht zu entnehmen.
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Die Kläger beantragen
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den Beklagen unter Änderung des Bescheides vom 10.12.2007 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 02.01.2008 zu verpflichten, die Festsetzung der
Zinsen zur Einkommensteuer 2001 im Bescheid vom 14.05.2007 nach § 163 AO
auf 41.454,-- Euro herab zu setzen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen,
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hilfsweise, die Revision zuzulassen.
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Er trägt ergänzend vor: Die Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung i.S.
des § 163 AO sei eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde. Der Erlass von
Nachzahlungszinsen komme nur dann in Betracht, wenn der Ermessensspielraum im
konkreten Fall derart eingeengt sei, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht
anzusehen sei. Es sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die BFH-Urteile
vom 30.03.2006 V R 60/04 und vom 24.02.2005 V R 62/03 sowie die BFH-Beschlüsse
vom 10.03.2006 V B 82/05 und vom 15.01.2008 VIII B 222/06 geklärt, dass es
entscheidend sei, ob der Steuerschuldner auf Grund der erst späteren
Steuernachforderung Liquiditätsvorteile gehabt habe, weil er von der Zahlung dieser
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geschuldeten Steuer vorerst wegen unzutreffender Steuerfestsetzung freigestellt
gewesen sei. Zu berücksichtigen sei insoweit, dass § 233a AO ausschließlich auf das
konkrete Steuerschuldverhältnis abstelle. Vorliegend habe der Kläger zunächst eine
Zahlung auf die festgesetzte Schenkungsteuer erbracht, für die der Gesetzgeber im
Falle einer Herabsetzung keine Erstattungszinsen vorsehe. Dieser Umstand führe nicht
zu einer zwangsläufigen Nichterhebung der Nachzahlungszinsen aus sachlichen
Billigkeitsgründen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze
nebst Anlagen sowie der beigezogenen Steuerakten verwiesen.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist begründet.
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Die Ablehnung der begehrten abweichenden Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen in
der geltend gemachten Höhe ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten
Der Beklagte ist darüber hinaus verpflichtetet, die mit Bescheid vom 14.05.2007
festgesetzten Nachforderungszinsen auf 41.454,-- Euro herab zu setzten (§ 101 Satz 1
der Finanzgerichtsordnung – FGO -).
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Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die
Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Unbilligkeit
einer Steuerfestsetzung kann sich u.a. aus sachlichen Gründen ergeben. Eine sachliche
Unbilligkeit liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH vor, wenn die
Besteuerung unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen
im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den
gesetzlichen Wertungen zuwiderläuft (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 09.09.1993 V R 45/91,
Bundessteuerblatt – BStBI - II 1994, 131, sowie vom 23.09.2004 V R 58/03, Sammlung
aller amtlich und nicht amtlich veröffentlichen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -
BFH/NV - 2005, 825). Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des
gesetzlichen Tatbestandes bewusst in Kauf genommen hat, können jedoch eine
Billigkeitsmaßnahme nicht rechtfertigen, da die generelle Geltung des Gesetzes durch
eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden darf (vgl. BFH-Urteil vom
16.11.2005 X R 3/04, BStBl II 2006, 155). Diese Grundsätze gelten auch für die
abweichende Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO (vgl. BFH-Urteil vom 21.10.2009
I R 112/98, BFH/NV 2010, 606 m.w.N.).
26
Ob die Voraussetzungen für eine derartige Billigkeitsmaßnahme vorliegen, entscheidet
die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen. Derartige Ermessensentscheidungen kann
das Gericht grundsätzlich nach § 102 FGO nur darauf überprüfen, ob die Behörde von
einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie im Rahmen des ihr
zustehenden Ermessenspielraums tätig geworden ist, dabei Billigkeit und
Zweckmäßigkeit beachtet und von ihrem Ermessen in rechtlich vertretbarer Weise
Gebrauch gemacht hat (vgl. BFH-Urteil vom 11.12.1986 IV R 77/84, BFH/NV 1987, 768).
Ein Ermessensfehler (Ermessensunterschreitung) liegt auch dann vor, wenn die
Behörde in Verkennung der Reichweite ihrer Ermessensbefugnis angenommen hat, ihr
stehe eine Ermessensbefugnis nicht zu, und infolgedessen einen Antrag mit der
unzutreffenden Begründung ablehnt, sie habe nach der anzuwendenden Rechtsnorm
bei der Bescheidung des ihr vorliegenden Antrages keine Ermessensbefugnis, sondern
müsse den Antrag aus Rechtsgründen ablehnen (vgl. BFH-Urteil vom 16.03.2000 IV R
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3/99, BStBl II 2000, 372).
Ausgenommen von der eingeschränkten Überprüfung nach § 102 FGO ist der Fall, dass
nur eine Entscheidung möglich ist, nämlich die Gewährung des begehrten
Billigkeitsmaßnahme. In diesem Fall darf das Finanzgericht bei einer Ablehnung durch
die Verwaltung im Sinne einer Billigkeitsmaßnahme selbst entscheiden (Fall der
sogenannten Ermessensreduzierung auf Null; vgl. BFH-Urteil vom 20.05.2010 V R
42/08, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2010, 1570 m.w.N.).
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Im Streitfall sind die Ermessenserwägungen des Beklagten fehlerhaft (1) und der Kläger
hat auch einen Rechtsanspruch auf Gewährung des begehrten Billigkeitsmaßnahme
(2).
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1. Der Ablehnungsbescheid vom 10.12.2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 02.01.2008 ist wegen einer Ermessensunterschreitung rechtswidrig.
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Der Beklagte hat sein Ermessen nicht ausgeübt, weil er eine Billigkeitsmaßnahme auf
Grund eines unzutreffenden rechtlichen Ansatzes ausgeschlossen hat. Die Annahme
des Beklagten, dass eine sachliche Unbilligkeit i. S. des § 163 AO bei der Festsetzung
von Nachforderungszinsen nach § 233a AO nur dann gegeben sein könne, wenn der
Steuerpflichtige auf die geschuldete Steuer vor deren Festsetzung eine freiwillige
Leistung erbracht habe, geht fehl.
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Zweck der Regelung der § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die
Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen (aus welchen Gründen auch immer) zu
unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (Begründung zum
Gesetzesentwurf BTDrucks 11/2157, S. 194). Liquiditätsvorteile, die dem
Steuerpflichtigen oder dem Fiskus aus dem verspäteten Erlass eines Steuerbescheides
typischerweise entstanden sind, sollen mit Hilfe der sogenannten Vollverzinsung
ausgeglichen werden. Ob die Zinsvorteile tatsächlich gezogen worden sind, ist
grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 13.3.2006 V R 60/04, BFH/NV 2006,
1434 m.w.N.). Steht aber zweifelsfrei fest, dass ein Steuerpflichtiger durch die verspätete
Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hat, ist für einen Ausgleich in Form einer
Verzinsung der Steuernachforderung kein Raum (vgl. BFH-Urteil vom 11.07.1996 V R
18/95, BStBI II 1997, 259).
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Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt auf der Tatbestandsebene eine
Unbilligkeit i. S. des § 163 AO nicht lediglich dann in Betracht, wenn der Steuerpflichtige
vorab eine freiwillige Leistung auf die später geschuldete Steuer erbracht hat.
Gesichtspunkte für die generelle Annahme, dass der Gesetzgeber Wechselwirkungen
zwischen verschiedenen Steuerarten bei der Zinsregelung bewusst ausschließen
wollte, sind nicht erkennbar. Solche Gesichtspunkte lassen sich auch nicht aus der
gesetzgeberischen Entscheidung ableiten, die Erbschaft- und Schenkungsteuer von der
Vollverzinsung auszunehmen. Die Nichtanwendung des § 233a AO auf die Erbschaft-
und Schenkungsteuer ist vom Gesetzgeber mit Besonderheiten des
Erbschaftsteuerrechts, z.B. langwierigen Erbschaftsprozessen, Schwierigkeiten bei der
Ermittlung der Erben oder des Nachlasses, begründet worden (vgl. BT-Drucks. 11/2157,
S. 195). Dadurch wollte der Gesetzgeber lediglich eine unangemessene Belastung der
Steuerpflichtigen durch eine Verzinsung von Erbschaft- bzw. Schenkungsteuerschulden
ausschließen. Daraus ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass der
Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Verzinsungstatbestandes im Falle einer später
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geänderten steuerlichen Beurteilung zugleich bewusst eine Berücksichtigung vom
Steuerschuldner zunächst geleisteter Erbschaft- bzw. Schenkungsteuern zu dessen
Gunsten ausschließen wollte.
Insoweit ist die Ausgangssituation eine andere als in Fällen der Festsetzung von Zinsen
nach § 233a AO zur Einkommensteuer infolge einer nachträglichen Zuordnung von
Einkünften zu einem anderen Veranlagungszeitraum. Im Urteil vom 16.11.2005 X R
3/04, BStBl II 2006, 155, führt der BFH insoweit aus, dass ein Ausklammern von
Gewinnverlagerungen aus der Vollverzinsung nach § 233a AO dem Willen des
Gesetzgebers zuwider laufen würde. Denn der Gesetzgeber habe trotz der in der
öffentlichen Anhörung geäußerten Bedenken im Hinblick auf Streitigkeiten wegen
nachträglicher Verschiebungen von Einkünften zwischen verschiedenen
Veranlagungszeiträumen an der Verknüpfung der Vollverzinsung nach § 223a AO mit
der jahresbezogenen Vollverzinsung festgehalten und keine Sonderregelung für Fälle
getroffen, in denen Steuernachforderungen in einem engen sachlichen Zusammenhang
mit Steuererstattungen stünden. Diese Erwägungen stehen im Zusammenhang mit den
Besonderheiten der Einkommensteuer, bei der sowohl im Falle einer
Steuernachforderung als auch einer Steuererstattung eine Verzinsung gesetzlich
geregelt ist. Demgegenüber stehen sich im Streitfall bei der nachgeforderten Steuer eine
verzinsungspflichtige Steuerart, nämlich die Einkommensteuer, und bei der
Steuererstattung eine nicht verzinsungspflichtige Steuerart, nämlich die
Schenkungsteuer, gegenüber.
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Auch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung und insbesondere den vom
Beklagten ausdrücklich zitierten Entscheidungen des BFH lässt sich kein Grundsatz
dahingehend ableiten, dass eine abweichende Festsetzung der Zinsen nach § 233a AO
nur dann in Betracht kommt, wenn der Steuerpflichtige eine freiwillige Leistung auf die
später festgesetzte Steuer erbracht hat. In den vom Beklagten zitierten Entscheidungen
hat der BFH die Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der
Nachforderungszinsen darauf gestützt, dass kein wechselseitiger Zinsvorteil- bzw.
Zinsnachteil zwischen dem Steuerschuldner und dem Steuergläubiger bestand. So hat
der BFH eine sachliche Unbilligkeit verneint, weil ein Liquiditätsvorteil des
Steuerpflichtigen nicht durch die Steuerzahlung an einen anderen Steuergläubiger –
nämlich Österreich – ausschied (vgl. BFH-Beschluss vom 15.01.2008 VIII B 222/06,
BFH/NV 2008, 753). Ferner hat der BFH einen Liquiditätsvorteil nicht ausgeschlossen,
weil der Steuerpflichtige ihm zu Unrecht erstattete Vorsteuern an den
Rechnungsaussteller gezahlt hatte (vgl. BFH-Urteil vom 24.02.2005 V R 62/03, BFH/NV
2005, 1220) bzw. weil eine andere Person, die ihr zu Unrecht erhobene Steuer anstelle
des Steuerpflichtigen an den Fiskus geleistet hatte (vgl. BFH-Beschluss vom
10.03.2006 V B 82/05, BFH/NV 2006, 1433; ebenso BFH-Urteil vom 21.10.2009 I R
112/08, BFH/NV 2010, 606). Schließlich hat der BFH einen Liquiditätsvorteil darin
gesehen, dass der Steuerpflichtige über einen ihm zu Unrecht gewährten
Steuererstattungsanspruch durch Aufrechnung verfügt hat (vgl. BFH-Urteil vom
30.03.2006 V R 60/04, BFH/NV 2006, 1434).
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Indem der Beklagte die Anwendbarkeit des § 163 AO vorliegend bei Zahlungen des
Steuerpflichtigen, die sich nicht auf die später festgesetzte Steuer beziehen, von
vornherein ausschließt, unterschreitet er das ihm eingeräumte Ermessen, woraus eine
Rechtsverletzung gegenüber dem Kläger folgt. Die Ablehnungsentscheidung des
Beklagten war daher entsprechend dem dies umfassenden Antrag des Klägers auf
Abänderung und Neubescheidung aufzuheben.
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2. In Streitfall sind darüber hinausgehend die Voraussetzungen einer abweichenden
Zinsfestsetzung im Billigkeitswege gegeben und der Senat sieht sich wegen einer
Ermessensreduzierung auf Null befugt, gemäß § 101 Satz 1 FGO in der Sache selbst
abschließend zu entscheiden.
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a) Nach den bereits dargestellten Grundsätzen setzt ein Absehen von der Festsetzung
der Nachzahlungszinsen voraus, dass die Verzinsung im Einzelfall mit dem Sinn und
Zweck der gesetzlichen Zinsregelung des § 233a AO nicht vereinbar wäre. Da im
Streitfall auf Seiten des Klägers bei der späteren Festsetzung und Fälligkeit der
Einkommensteuer 2001 auf Grund der ursprünglich gezahlten Schenkungsteuer ein
Liquiditätsvorteil ausscheidet und zugleich auch auf Seiten des Beklagten kein
Liquiditätsnachteil eingetreten ist, liegen die Voraussetzungen für einen dem
Gesetzeszweck entsprechenden Ausgleich in Form der Verzinsung der
Einkommensteuernachzahlung 2001 nicht vor und eine solche Verzinsung wäre
deshalb sachlich unbillig.
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b) Darüber hinaus kommt im Streitfall nur eine Entscheidung mit der Gewährung der
beantragten Billigkeitsmaßnahme in Betracht. Denn jede andere Entscheidung als die
einer Zinsberechnung unter Anrechnung der Schenkungsteuerzahlung wäre im Hinblick
auf den vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Überhang des gesetzlichen
Tatbestandes ermessensfehlerhaft, so dass eine Ermessensreduzierung auf Null
vorliegt.
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3. Da aus der nachträglichen Erhöhung der Bemessungsgrundlage zur
Einkommensteuer 2001 unstreitig Mehrsteuern in Höhe von 607.916,-- Euro resultieren,
bestehen unter Anrechnung der zu Unrecht geleisteten Schenkungsteuerzahlung von
438.684,-- Euro auch hinsichtlich der vom Kläger vorgenommenen Berechnung der
Zinsen auf die verbleibende Einkommensteuernachzahlung nach § 233a AO mit
41.454,-- Euro keine Bedenken.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155
FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1
FGO).
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