Urteil des FG Düsseldorf vom 15.07.2002

FG Düsseldorf (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Eugh, Einkünfte, Niederlande, Mitgliedstaat, Diskriminierung, Belgien, Erwerbstätigkeit, Vorrang, Steuerprogression)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
1
2
3
4
5
Aktenzeichen:
Finanzgericht Düsseldorf, 17 K 206/99 E
15.07.2002
Finanzgericht Düsseldorf
17. Senat
Urteil
17 K 206/99 E
Der Einkommensteuerbescheid für 1995 vom 02.01.1997 wird unter
Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 05.01.1999 insoweit
abgeändert, als die Einkommensteuer auf 0 EUR herabgesetzt wird.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
Streitig ist, ob der Mindeststeuersatz gemäß § 50 Abs. 3 Satz 2 Einkommensteuergesetz -
EStG - auf die Einkünfte eines beschränkt Steuerpflichtigen aus selbstständiger Arbeit
wegen Verstoßes gegen Artikel 52 des EG-Vertrages unanwendbar ist.
Der Kläger ist niederländischer Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz in den
Niederlanden. Er erzielte in der Bundesrepublik Deutschland im Streitjahr 1995 Einkünfte
aus selbstständiger Tätigkeit in Höhe von 7.959 DM. Der Beklagte legte diese Einkünfte bei
der Veranlagung zu Grunde. Er berechnete die Einkommensteuer nach § 50 Abs. 3 Satz 2
EStG auf 1.985 DM.
In den Niederlanden erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, die dem
Lohnsteuerabzug unterlagen. Er reichte dem Finanzamt eine Steuererklärung mit den
nachstehenden Angaben ein. Das Finanzamt wich von seiner Erklärung ab und berechnete
das zu versteuernde Einkommen um 829 hfl höher. Eine Nachzahlung über die
einbehaltene Lohnsteuer hinaus ergab sich für den Kläger nicht.
Lohneinnahmen
28.774 hfl
Berufskosten
./. 2.968 hfl
Fahrten Wohnung Arbeitsstätte
./. 1.052 hfl
Einkommen
24.754 hfl
Steuerbegünstigung Eigentumswohnung Mietwert 2.520 hfl
Zinsabzug13.850 hfl
./. 11.330
hfl
belastbares Einkommen
13.424 hfl
Erhöhung Finanzamt
829 hfl
Bemessungsgrundlage
14.253 hfl
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
einbehaltene Lohnsteuer
1.253 hfl
Wegen näherer Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 10.05.2000 (Bl. 16 ff.
d. A.) sowie die Kopien der niederländischen Steuererklärung (Bl. 19 ff. d. A.) Bezug
genommen.
Der Beklagte setzte die Einkommensteuer entsprechend seiner Berechnung auf 1.985 DM
fest. Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein, den der Beklagte jedoch
durch Einspruchsentscheidung zurückwies.
Der Kläger hat hierauf Klage erhoben. Er wendet sich gegen die Anwendung von § 50 Abs.
3 Satz 2 EStG und begehrt die Anwendung des normalen Einkommensteuertarifs gemäß §
32 a EStG. Er beruft sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - vom
27.06.1996 in Sachen Asscher.
Der Kläger weist darauf hin, dass sich selbst dann, wenn man im Rahmen einer
unbeschränkten Steuerpflicht sein Gesamteinkommen der deutschen Besteuerung zu
Grunde legte, ein Steuersatz von nur 17,47 % ergäbe:
hfl
1. DM
Gehalt Niederlande
28.774
25.465
Fahrten Wohnung Arbeitsstätte
4.485
abzüglich Erstattungen
./. 998
./. 884
Seminare 1.800 km x 0,52 DM/km
936
abzüglich Erstattungen
./. 175
./. 155
Computer (20 % von 2.588 DM)
517
Summe der Einkünfte Niederlande
20.566
Einkünfte BRD
7.959
28.525
Einkommensteuer
4.983
Der Kläger beantragt,
den Einkommensteuerbescheid für 1995 dahin abzuändern, dass die
Einkommensteuer auf 0 EUR herabgesetzt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist darauf, dass die Festsetzung der Einkommensteuer unter Anwendung von § 50
Abs. 3 Satz 2 EStG der derzeitigen Rechtslage entspreche.
Der Beklagte ist der Auffassung, der Kläger sei nicht mit einem in Deutschland ansässigen
Steuerpflichtigen vergleichbar. Nach dem Urteil des EuGH in Sachen Schumacker sei die
Situation eines Gebietsansässigen grundsätzlich eine andere als die eines
Gebietsfremden. Ein Mitgliedstaat könne deshalb einem Gebietsfremden bestimmte
17
18
19
20
21
22
Steuervergünstigungen versagen, die er Gebietsansässigen gewähre. Würde der Kläger in
der Bundesrepublik nach der Grundtabelle besteuert, würde für diesen das steuerfreie
Existenzminimum, das bereits in den Niederlanden von der Steuer freigestellt werde,
doppelt berücksichtigt.
Im Fall Asscher habe der EuGH zwar eine Vergleichbarkeit zwischen einerseits einem in
Belgien ansässigen und in den Niederlanden tätigen Steuerpflichtigen und andererseits
einem in den Niederlanden ansässigen Steuerpflichtigen angenommen. Der dem Asscher-
Urteil zu Grunde liegende Sachverhalt sei jedoch mit dem Sachverhalt im Streitfall nicht zu
vergleichen. Artikel 25 Abs. 3 des bilateralen Abkommens zwischen den Niederlanden und
Belgien enthalte folgende Regelung: "Die in einem Staat wohnenden natürlichen Personen
kommen im anderen Staat in den Genuss der persönlichen Abzüge, Abschläge und
Nachlässe, die dieser andere Staat seinen eigenen Gebietsansässigen wegen ihrer
Situation oder ihrer Familienlasten gewährt." Eine derartige Regelung gebe es in dem DBA
Deutschland-Niederlande jedoch nicht. Dementsprechend könne sich ein beschränkt
Steuerpflichtiger, der in den Niederlanden wohne, auch nicht in einer Situation befinden,
die der eines Gebietsansässigen vergleichbar sei. Denn bei diesem Steuerpflichtigen seien
die persönlichen Freibeträge ausschließlich in den Niederlanden zu berücksichtigen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Die Klage ist begründet.
Die Einkommensteuer des gemäß §§ 1 Abs. 4, 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG beschränkt
steuerpflichtigen Klägers beträgt nicht gemäß § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG 25 % des
Einkommens, denn § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG verstößt gegen Art. 52 des EG-Vertrages
(EGV; Art. 43 EGV i. d. F. des Vertrages von Amsterdam). Die Einkommensteuer des
Klägers bemisst sich nach dem Einkommensteuertarif des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG
einschließlich des so genannten Grundfreibetrages gemäß § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG.
Sie beträgt daher 0 EUR.
§ 50 Abs. 3 Satz 2 EStG ist wegen Verstoßes gegen Art. 52 des EG-Vertrages
unanwendbar (vgl. Urteil des FG Düsseldorf vom 25.04.2002 - 11 K 5753/99 E -, JStR
2002, 462; Dautzenberg, DB 1996, 2248; Herzig/Dautzenberg, DB 1997, 8,13; Kramer, RIW
1996, 951, 954; Saß, DB 1996, 1607, 1608; de Weerth RIW 1997, 482, 484; Warterkamp-
Faupel, FR 1996, 669, 670; Strunk in Korn, Einkommensteuergesetz, § 50 Rz. 41; Froesch,
IStR 2001, 51; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl., Tz. 5.277; Fehrenbach,
BB 2001, 1774; Lüdicke, IStR 2001, 286). Dem EG-Recht kommt ein Vorrang vor dem
nationalen Einkommensteuerrecht zu (vgl. EuGH-Urteil vom 15.07.1964 6/64, EuGHE 10,
1251, NJW 1964, 2371-Costa/ENEL; BVerfG-Urteil vom 08.04.1987, 2 BvR 687/85,
BVerfGE 75, 223, 244). Wie der EuGH in seinem Urteil vom 27.06.1996 (Rs. C-107/94
"Asscher", EuGHE I 1996, 3089, DB 1996, 1604) entschieden hat, ist § 52 des EG-
Vertrages dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat verwehrt ist, auf einen
Angehörigen eines Mitgliedstaates, der eine selbstständige Erwerbstätigkeit im Gebiet
dieses Staates und daneben eine andere selbstständige Erwerbstätigkeit in einem anderen
Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, einen Einkommensteuersatz anzuwenden, der
höher ist als derjenige, der für Gebietsansässige gilt, die die gleiche Tätigkeit ausüben,
wenn kein objektiver Unterschied in der Situation dieses Steuerpflichtigen und derjenigen
der gebietsansässigen Steuerpflichtigen und der diesen gleichgestellten Personen besteht,
der geeignet wäre, eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
Die Ausgangssituation des vom EuGH entschiedenen Falles stimmt mit der überein, die
sich im Streitfall für den Kläger stellt (vgl. auch BFH-Beschluss vom 05.02.2001 I B 140/00,
23
24
25
BFHE 195, 156, BStBl II 2001, 598). Auch der Kläger ist in einem Mitgliedsstaat - der
Bundesrepublik Deutschland - beruflich tätig und wohnt in einem anderen Mitgliedstaat -
den Niederlanden -. Er erwirtschaftet dort Einkünfte, mit denen er der Besteuerung
unterliegt. Abweichend von in der Bundesrepublik unbeschränkt steuerpflichtigen
Personen, wird er mit seinen hier ermittelten Einkünften einem besonderen
Mindeststeuersatz von 25 % unterworfen, während unbeschränkt Steuerpflichtige bei einem
Einkommen von 7.959 DM keine Steuern zahlten. Der Senat vermag der vom Beklagten
aufgezeigten Besonderheit des DBA Belgien-Niederlande keine Bedeutung derart
beizumessen, dass der vorliegende Fall dem vom EuGH entschiedenen Fall nicht
vergleichbar wäre. Die vom EuGH als gemeinschaftswidrig angesehene mittelbare
Diskriminierung durch Anwendung unterschiedlicher belastender Steuersätze ist damit
gegeben.
Diese Diskriminierung kann nicht mit einer ansonsten bestehenden höheren
Steuerprogression für einen Inländer mit entsprechend höherem Welteinkommen
gerechtfertigt werden. Denn nach der Entscheidung des EuGH ist eine zwischen dem
Progressionsvorbehalt und dem Mindeststeuersatz im deutschen Einkommensteuerrecht
bestehende Kohärenz gemeinschaftsrechtlich kein eine Ungleichbehandlung beim Tarif
rechtfertigender Grund. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es nämlich ausreichend,
wenn der Wohnsitzstaat nach dem jeweils einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen
berechtigt ist, in dem anderen Staat erzielte Einkünfte bei der Berechnung der Höhe der
Steuer von den übrigen Einkünften des betreffenden Steuerpflichtigen im Wege des
Progressionsvorbehaltes zu berücksichtigen. Dies ist vorliegend der Fall. Nach Artikel 20
Abs. 3 Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Niederlande, steht den Niederlanden
ein Progressionsvorbehalt in der Form eines Bemessungsgrundlagenvorbehaltes zu. Die
Niederlande sind berechtigt, nach dem Welteinkommensprinzip zu besteuern und auch die
Einkünfte in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen, für welche die Bundesrepublik
Deutschland ein Besteuerungsrecht hat; jedoch wird von den Niederlanden von der
errechneten Steuer der Teil der Steuer in Abzug gebracht, der auf die Einkünfte entfällt, für
die die Bundesrepublik Deutschland das Besteuerungsrecht besitzt. Die in Abzug zu
bringende Steuer errechnet sich nach dem Verhältnis der vorgenannten Einkünfte zum
Gesamteinkommen. Im Übrigen scheidet eine Rechtfertigung der vorliegenden
Diskriminierung mit einer ansonsten bestehenden höheren Steuerprogression im Fall des
Klägers auch deshalb aus, weil bei seinem Einkommen auch ein Inländer nur einem
Steuersatz von 17,47 % unterläge.
Aus dem Vorrang des EG-Rechts vor dem nationalen Einkommensteuerrecht und der
Rechtsprechung des EuGH folgt, dass der Senat uneingeschränkt berechtigt ist, das EG-
Recht in der Auslegung anzuwenden, die der EuGH in einem Verfahren zwischen anderen
Beteiligten vorgenommen hat, auch mit der Folge, dass entgegenstehende Vorschriften des
deutschen Einkommensteuerrechts nicht anzuwenden sind (vgl. Dauses, Das
Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag, S. 14 m. w. N.; Wohlfahrt in
Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Art. 177 Tz. 71; Everling, Das
Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S.
65 f; Borchardt in Lenz, EG-Vertrag Kommentar, 2. Aufl., Art. 234 Tz. 55).
Bei der Berechnung der Einkommensteuer des Klägers ist der so genannte Grundfreibetrag
gemäß § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen. Zwar ist es
gemeinschaftsrechtlich grundsätzlich zulässig, bestimmte Steuervergünstigungen nur
Gebietsansässigen zu gewähren (vgl. EuGH-Urteil vom 14.09.1999 C-391/97, EuGHE I
1999, 5451, BStBl II 1999, 841). Es ist jedoch nicht möglich, § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG so
auszulegen, dass der so genannte Grundfreibetrag gemäß § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG
26
27
auf beschränkt Steuerpflichtige nicht anwendbar ist. Denn der so genannte Grundfreibetrag
gemäß § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG ist lediglich ein unselbstständiger Teil des
Einkommensteuertarifs (vgl. Schöberle in Kirchhof / Söhn / Mellinghoff,
Einkommensteuergesetz, § 32 a Rdnr. B 14 ff). Eine über diesen klaren, eindeutigen
Gesetzeswortlaut hinausgehende Auslegung des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG in der Form,
dass der so genannte Grundfreibetrag auf beschränkt Steuerpflichtige nicht anwendbar ist,
ist nicht möglich (a.A. Lüdicke, IStR 2001, 286; Wied in Blümich, Einkommensteuergesetz,
§ 50 Tz. 12).
Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache zuzulassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.