Urteil des FG Düsseldorf vom 27.07.2004

FG Düsseldorf (vorschrift, zweifel, vollziehung, beurteilung, antrag, einkünfte, norm, bericht, rechtsfrage, umstand)

Finanzgericht Düsseldorf, 8 V 2806/04 A (E)
Datum:
27.07.2004
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 V 2806/04 A (E)
Tenor:
Die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1999 vom 25.02.2004
wird bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung über den
gegen diesen Bescheid eingelegten Einspruch ausgesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e:
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Im Rahmen einer bei der Antragstellerin für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2001
durchgeführten Außenprüfung stellte der Antragsgegner fest, dass die Antragstellerin im
Mai 1999 aus dem Verkauf von Aktien einen Gewinn i.H.v. 4.918 DM erzielt hatte (vgl.
Tz. 2.4 des Prüfungsberichts vom 02.01.2004); zwischen Ankauf und Verkauf der Aktien
lag ein Zeitraum von vier Tagen.
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In einem auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gestützten Änderungsbescheid vom
25.02.2004 erfasste der Antragsgegner diesen Gewinn als Einkünfte aus privaten
Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2, 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Hiergegen legte die
Antragstellerin Einspruch ein, über den der Antragsgegner noch nicht entschieden hat.
Einen bei ihm gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheides lehnte
er mit Schreiben vom 13.04.2004 ab.
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Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz nunmehr im gerichtlichen
Verfahren. Sie trägt unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts -
BVerfG - vom 09.03.2004 2 BvL 17/02 (NJW 2004, S. 1022) vor, es sei anzunehmen,
dass das vom BVerfG für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 festgestellte
massive Vollzugsdefizit bei der Durchsetzung des Steueranspruchs aus § 23 Abs. 1 S. 1
Nr. 1b EStG a.F., das zur Nichtigkeit dieser Vorschrift geführt habe, auch im Jahre 1999
noch bestanden habe. Außerdem verweist sie auf den Beschluss des BFH vom
04.08.2003 IX B 45/03 (BFH/NV 2004, 37).
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Die Antragstellerin beantragt,
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die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1999 vom 25.02.2004
auszusetzen.
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Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
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den Antrag abzulehnen.
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Er ist der Auffassung, es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtsmäßigkeit
des angefochtenen Steuerbescheides. Das BVerfG habe die erwähnte Vorschrift in der
für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Fassung zwar für nichtig
erklärt, aber auch festgestellt, dass der Befund eines strukturellen Vollzugsdefizits sich
nicht ohne weiteres auf die Folgejahre übertragen lasse, weil sich die Gesetzeslage ab
dem Veranlagungszeitraum 1999 deutlich gewandelt habe. Der BFH-Beschluss vom
04.08.2003 sei nicht einschlägig.
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Der Antrag ist begründet.
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Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel i.S.d.
§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO an der Rechtmäßigkeit des
Einkommensteuerbescheides vom 25.02.2004. Derartige Zweifel bestehen immer dann,
wenn neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts sprechen,
gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zu Tage treten, die eine
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder
Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung des
BFH, vgl. z.B.: Beschluss vom 11.06.2003 IX B 16/03, BStBl II 2003, 663, m.w.N.).
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Im vorliegenden Fall besteht eine Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfrage, ob §
23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verfassungsgemäß ist oder ob diese Vorschrift - wie die
Vorgängervorschrift in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b EStG a.F. - wegen Unvereinbarkeit mit
Art. 3 Abs. 1 GG nichtig ist. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift
ergeben sich bereits aus dem Vorlagebeschluss des BFH vom 16.07.2002 IX R 62/99
(BStBl II 2003, 74), der letztlich zu dem Urteil des BVerfG vom 09.03.2004 geführt hat. In
Abschn. B.III.4b und c dieses Beschlusses (a.a.O., S. 83) nimmt der BFH nämlich auch
zur Rechtslage ab dem Veranlagungszeitraum 1999 Stellung und führt aus, dass der
gleichmäßige Belastungserfolg weder durch § 45d Abs. 1 EStG noch durch
organisatorische Maßnahmen hergestellt werden könne; außerdem sei die der
Gewährleistung von Gleichheit im steuerlichen Belastungserfolg gegenläufige Vorschrift
des § 30a AO unangetastet geblieben. Diese Erwägungen haben in einem den
Veranlagungszeitraum 2000 betreffenden Fall dazu geführt, dass der BFH ernstliche
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der auch hier einschlägigen Vorschrift des § 23
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG bejaht und Aussetzung der Vollziehung gewährt hat (vgl.
Beschluss vom 04.08.2003, a.a.O.). Für den Veranlagungszeitraum 1999 kann nichts
anderes gelten.
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Eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die vom BVerfG für die Jahre 1997 und 1998
festgestellten strukturellen Mängel bei der Durchsetzung des Steueranspruchs aus
privaten Wertpapiergeschäften auch im Jahre 1999 noch bestanden haben, lässt sich
auch aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs - BRH - vom 24.04.2002 (Bundestags-
Drucksache 14/8863) entnehmen. Diesem Bericht, den auch der BFH in seinem
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Vorlagebeschluss vom 16.07.2002 verwertet hat, liegen u.a. Untersuchungen von rd.
400 Steuerfällen - überwiegend Veranlagungen der Jahre 1997 und 1998, in geringem
Umfang auch des Jahres 1999 - zu Grunde (S. 5 des Berichts). Der BRH kommt - ohne
nach Veranlagungszeiträumen zu differenzieren - zu dem Ergebnis, dass die von ihm
aufgezeigten Kontrollhemmnisse strukturelle Mängel des Erhebungsverfahrens
darstellen, sodass die Besteuerung der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften
nicht entsprechend dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung durchgesetzt
werden könne; die dadurch verursachte Belastungsungleichheit gefährde die
Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung dieser Einkünfte (S. 3 des Berichts).
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners, der sich insoweit auf das BMF-
Schreiben vom 19.03.2004 (BStBl I, 361) stützt, ist die Unsicherheit bei der hier für das
Jahr 1999 zu beurteilenden Rechtsfrage durch die Ausführungen in Abschn. D.III.2. des
Urteils des BVerfG vom 09.03.2004 (a.a.O., S. 1030) nicht beseitigt worden. Dort lehnt
es das BVerfG lediglich ab, die Nichtigkeitserklärung bezüglich der für 1997 und 1998
geltenden Gesetzesfassung auch auf die hier einschlägige Norm des § 23 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 EStG zu erstrecken, weil sich die Relation zwischen Norm und Vollzugsrealität so
verändert haben könnte, dass ein zur Verfassungswidrigkeit führendes strukturelles
Vollzugsdefizit nicht mehr vorliegt. Eine Festlegung des Inhalts, dass der
verfassungswidrige Zustand ab 1999 beseitigt worden ist, enthält das Urteil des BVerfG
dagegen nicht; nach der Vorlagefrage, die sich auf einen Fall aus dem
Veranlagungszeitraum 1997 bezog, bestand hierzu auch keine Veranlassung. Im
Übrigen setzte die negative Kursentwicklung an den Kapitalmärkten, die das BVerfG als
Umstand für eine eventuelle Änderung der Verhältnisse anführt, nach seinen
Feststellungen im Wesentlichen erst ab Frühjahr 2000 ein und war damit für das
Streitjahr noch nicht relevant. Ob die vom Gesetzgeber ab 1999 geschaffene erweiterte
Verlustverrechnungsmöglichkeit, die das BVerfG als weiteren Umstand für eine
Änderung der Verhältnisse erwähnt, den verfassungswidrigen Zustand beseitigt hat,
bedarf - wie auch das BVerfG betont - weiterer Feststellungen. Diese sind allerdings
nicht in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu treffen.
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Auch das nach ständiger Rechtsprechung des BFH bei ernstlichen Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm erforderliche berechtigte Interesse der
Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist gegeben. Der Senat
schließt sich insoweit den Ausführungen des BFH im Beschluss vom 11.06.2003
(a.a.O.) an.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Beschwerde wird gemäß §§ 128 Abs. 3, 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.
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