Urteil des FG Baden-Württemberg vom 09.11.2016

behinderung, schmerzensgeld, einkünfte, rente

FG Baden-Württemberg Urteil vom 9.11.2016, 12 K 2756/16
Kindergeld: Qualifizierung der Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz -
Durcherkennen des Gerichts bei Ermessensentscheidung hinsichtlich Abzweigung an
Sozialhilfeträger
Tenor
1. Der Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 30.10.2014 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 11.2.2015 wird aufgehoben und Kindergeld für das Kind A.X. für den Zeitraum
Januar 2013 bis Dezember 2014 in gesetzlicher Höhe festgesetzt und in Höhe von 129,04 Euro an den Kläger
abgezweigt.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine
Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren
Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis
zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn der Kläger nicht
zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit geleistet hat.
Tatbestand
1 Der Kläger ist ein Träger der Sozialhilfe, dem es um die Abzweigung von Kindergeld für das Kind A.X.,
geboren am xx.xx.1959, geht, um seine Sozialhilfekosten zu decken. Er begehrt die Auszahlung des
Kindergeldes an sich als die unterhaltsgewährende Stelle nach § 74 Einkommensteuergesetz -EStG-.
2 Das Kind A.X. leidet an einer Behinderung, die vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Die
Behinderung besteht seit Geburt. Sie besteht zu 100 vom Hundert. Der Kläger erbringt für das Kind A.X.
seit April 1978 als Träger der überörtlichen Sozialhilfe Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach
den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch -SGB- XII. Die Leistungen erfolgten in Form der stationären
Wohnheimbetreuung an das Wohnheim der Y.., in Z.. Der Kläger legte eine Kostenaufstellung über die
monatlichen Kosten der Unterbringung und Betreuung von Januar 2013 bis November 2014 vor. Wegen der
Einzelheiten wird auf diese Bezug genommen (Kindergeldakte, S. 167 f.). Während des Klageverfahrens
legte der Kläger die Kosten der Unterbringung und Betreuung für Dezember 2014 dar (Klage-Akte, S. 66).
3 Frau X. verfügt über Einkünfte aus einer Erwerbsunfähigkeitsrente i.H.v. 721,21 EUR monatlich bzw. im Jahr
2014 i.H.v. 805,91 EUR monatlich, und einer ergänzenden Grundsicherung i.H.v. 10,81 EUR, welche vom
Kläger als Kostenbeitrag vereinnahmt wird. Frau X. zahlt einen Beitrag zur Krankenversicherung und
Pflegeversicherung. Daneben erhält Frau X. Leistungen der Pflegeversicherung i.H.v. 256 EUR monatlich,
welche ebenfalls als Kostenbeitrag vereinnahmt werden. Frau X. erhält auch Leistungen nach dem
Conterganstiftungsgesetz -ContStifG-, die sich seit 2013 erheblich erhöht haben. Diese betrugen vom 1.
Januar 2013 bis zum 30. Juni 2014 monatlich 6.812 EUR. Seit Juli 2014 erhält das Kind den Höchstsatz von
7.027 EUR monatlich. Hinzu kommt eine jährliche Sonderzahlung in Höhe von 3.680 EUR. Jedenfalls 2014
bezog Frau X. auch Wohngeld in Höhe von 98 EUR. Der Beklagte berechnete u.a. das verfügbare
Einkommen des Kinds A.X. einschließlich der Conterganrente und Sonderzahlungen für die Streitjahre 2013
und 2014. Bei der Berechnung des notwendigen Lebensbedarfs setzte er zunächst lediglich den
Grundbedarf sowie den Pauschbetrag nach § 33b EStG in Höhe von 3.700 EUR an. Eine neue Berechnung
des notwendigen Bedarfs des Kinds unter Berücksichtigung des tatsächlichen Aufwands sowie der eigenen
Mittel des Kinds führte dazu, dass in den Jahren 2010 bis 2012 und ab Januar 2015 abgeholfen wurde. In
diesem (ursprünglichen) Streitzeitraum kam es auf die Höhe der Leistungen der Conterganstiftung nicht an.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 9.11.2016 Bezug
genommen.
4 Die Familienkasse setzte zunächst Kindergeld für das Kind A.X. zugunsten von Herrn C.X., dem Vater des
Kinds A.X., geb. xx.xx.1925, fest. Kindergeld wurde bis 2005 ausgezahlt.
5 In den Streitjahren leistete der Kindsvater einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 54,96 EUR an den Kläger.
Die Mutter der Klägerin ist verstorben. Der Vater des Kindes bestätigte dem Kläger mit Schreiben vom 18.
Oktober 2013, sein durch Contergan geschädigtes Kind werde vom Kläger unterhalten. Er selbst trage keine
Kosten zum Unterhalt bei.
6 Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 28. Januar 2014 die Abzweigung des Kindergeldes für das Kind
A.X. bei der nunmehr zuständigen Familienkasse, der Beklagten.
7 Diese hob mit Bescheid vom 30.10.2014 die Kindergeldfestsetzung für das Kind A.X. ab dem 1.1.2010 auf.
Sie begründete dies im Wesentlichen damit, dass das behinderte Kind in der Lage sei, sich selbst zu
unterhalten. Die Conterganrente des Kindes sei als Leistung Dritter zu berücksichtigen. Daher bestehe kein
Kindergeldanspruch. Ein Erstattungsanspruch bestehe nicht, da eine Zahlung von Kindergeld in diesem
Zeitraum nicht erfolgt sei.
8 Mit Schreiben vom 30.10.2014 lehnte die Beklagte die Abzweigung an den Kläger ab. Sie führte aus, infolge
des Abzweigungsantrags sei der Anspruch auf Kindergeld für das Kind A.X. zu überprüfen gewesen. Infolge
der Höhe der Einkünfte des Kinds sei die Kindergeldfestsetzung aufzuheben gewesen. Da nur festgesetztes
Kindergeld abgezweigt werden könne, scheide eine Abzweigung aus.
9 Der Kläger legte Einspruch ein und beantragte Kindergeld für das Kind A.X.. Er machte im Wesentlichen
geltend, die Berechnung der Beklagten sei fehlerhaft. Im Übrigen sei die Conterganrente nicht
einzubeziehen.
10 Mit seiner nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage macht der Kläger im Wesentlichen
geltend, dem Kind A.X. stehe Kindergeld zu und dieses sei an ihn anteilig im Wege der Abzweigung
auszuzahlen. Aufgrund der Behinderung war und sei das Kind nicht in der Lage, ein selbständiges Leben zu
führen. Es bedürfe der Betreuung in einer beschützenden Einrichtung. Die Kosten der Unterbringung und
Betreuung beliefen sich im Zeitraum Januar 2010 bis Dezember 2014 auf durchschnittlich ca. 5.000 EUR
monatlich, seit Januar 2015 aufgrund von Zusatzpersonal auf durchschnittlich ca. 9.000 EUR monatlich. In
Kindergeldfällen, in denen es um volljährige Kinder in vollstationären Einrichtungen gehe, gebe es
Besonderheiten. Nach § 63 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG sei ein Kind bei der Bewilligung des
Kindergeldes zu berücksichtigen, wenn es aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Diese Voraussetzung sei dann erfüllt, wenn die kindeseigenen
Mittel, verfügbares Einkommen und Leistungen Dritter, behinderungsbedingt nicht ausreiche, den gesamten
existenziellen Lebensbedarf zu sichern. So sei es im Streitfall. Denn Frau X. erhalte Leistungen nach dem
ContStifG, und zwar eine monatliche Conterganrente sowie Sonderzahlungen, die nicht anzurechnen seien.
Die von ihm, dem Kläger, gewährte Eingliederungshilfe erfolge ohne Anrechnung dieser Leistungen als
Einkommen. Bei den Leistungen nach dem ContStifG handle es sich um Bezüge des Kindes. In der
Dienstanweisung zum Familienlastenausgleich DA sei unter Punkt 63.4.2.3.1 Abs. 3 Ziffer 6 ausdrücklich
geregelt, dass die Leistungen nach dem ContStifG für behinderte Menschen nicht zu den Bezügen zählen.
Darüber hinaus würde eine wie von der Beklagten vorgenommene Anrechnung dieser Leistungen als
Einkünfte des behinderten Kindes bzw. als Leistungen Dritter, auch dem Wortlaut und der Ratio des
Stiftungsgesetzes widersprechen. Die Leistungen nach dem ContStifG seien den contergangeschädigten
Menschen als echte Zusatzleistungen zu gewähren, die nicht durch steuerliche Lasten verkürzt werden
dürfen und ihnen ohne Rücksicht auf Unterstützungsleistungen Dritter als zusätzliche Leistungen zufließen.
Dies normiere § 18 Abs. 1 ContStifG. Danach blieben Leistungen bei der Ermittlung oder Anrechnung von
Einkommen, sonstigen Einnahmen und Vermögen nach anderen Gesetzen, insbesondere dem
Sozialgesetzbuch -SGB- II, III, V und XII und dem Bürgerlichen Gesetzbuch -BGB- außer Betracht. Die
Aufzählung dieser Gesetze sei, wie die Formulierung „insbesondere“ verdeutliche, nicht abschließend und
schließe deshalb auch das EStG nicht aus. Die Leistungen nach dem ContStifG seien damit nicht zu
berücksichtigen. Der existenziellen Lebensbedarf der neben dem Grundbedarf auch die anfallenden Kosten
der Eingliederungshilfe als behinderungsbedingten Mehrbedarf umfasse, übersteige damit die Einkünfte des
Kinds. Die Voraussetzungen der Kindergeldberechtigung seien gegeben. § 74 Abs. 1 S. 4 EStG bestimme,
dass die Auszahlung des für ein Kind festgesetzten Kindergeldes auch an die Person oder Stelle erfolgen
könne, die dem Kind Unterhalt gewährt. Hierdurch solle sichergestellt werden, dass öffentliche oder private
Einrichtungen, die dem Kind tatsächlich Unterhalt gewähren, einen gewissen finanziellen Ausgleich
erhalten. Dementsprechend sei es für das Abzweigungsbegehren nach dem Gesetzeswortlaut
ausschlaggebend, ob der Abzweigungsempfänger den Unterhalt für das Kind trage oder nicht. Dies sei der
Fall. Die Entscheidung, ob das Kindergeld an eine Unterhalt gewährende Stelle abgezweigt werde, erfolge
nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 S. 4 EStG in Form einer Ermessensentscheidung. Der
kindergeldberechtigte Vater leiste einen nach § 94 SGB XII begrenzten Unterhaltsbeitrag in Höhe von
monatlich 54,96 EUR an den Kläger. Der Kindergeldberechtigte komme damit seiner gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht nach, da er die zum Lebensbedarf gehörenden laufenden Kosten der stationären
Betreuung seines Kindes nicht übernehme. Die Voraussetzungen für eine Abzweigung seien nach dem Urteil
des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 23.2.2006 III R 65/04, Bundessteuerblatt -BStBl.- II 2008, 753 auch dann
erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte in geringem Umfang Unterhaltsleistungen erbringe. Diese
Unterhaltsleistungen seien lediglich im Rahmen der Ermessensentscheidung bei der Höhe des
Abzweigungsantrags zu berücksichtigen. Dies habe er, der Kläger, in seinem Klageantrag bereits getan.
Daher sei es geboten, das Kindergeld in der beantragten Höhe an ihn abzuzweigen. Schließlich werde das
Ziel des Familienlastenausgleichs, wirtschaftliche Belastungen der Sorgeberechtigten, die durch die
Erziehung von Kindern entstehen, auszugleichen, durch eine Abzweigung an ihn nicht berührt. Es sei der
Zweck des Kindergelds, Eltern wegen ihrer Unterhaltsaufwendungen für ihre Kinder zu entlasten. Seien die
Eltern jedoch mangels Leistungsfähigkeit nicht in der Lage, Kosten zu tragen oder zahlten daher nur geringe
Kosten, sei eine derartige Entlastung gar nicht oder nur in entsprechend niedrigem Umfang erforderlich.
11 Der Kläger beantragt,
die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 30.10.2014 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 11.2.2015 aufzuheben und das Kindergeld für das Kind A.X. in Höhe von
monatlich 129,04 EUR seit dem 1.1.2013 bis zum 31.12.2014 an ihn abzuzweigen.
12 Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
13 Die Beklagte macht im Wesentlichen unter Bezugnahme auf ihre Einspruchsentscheidung vom 11.2.2015
geltend, es sei unstreitig, dass der Kläger zur Beantragung des Kindergelds im berechtigten Interesse nach §
67 S. 2 EStG befugt sei. Unstreitig sei auch, dass es sich um ein behindertes Kind handle, für das der Kläger
eine anteilige Abzweigung des Kindergelds beanspruchen könne. Eine mögliche anteilige Abzweigung von
129,04 EUR an den Kläger ergebe sich aus der Unterhaltszahlung des Kindergeldberechtigten an den Kläger
von monatlich 54,96 EUR. Das Kind sei jedoch nicht aufgrund seiner Behinderung außerstande, sich selbst
zu unterhalten. Die Conterganrente sei neben der Ermittlung des verfügbaren Nettoeinkommens des Kindes
zwar nicht als Einkünfte oder Bezüge, wohl aber als steuerfreie Einnahme zu berücksichtigen. In der
Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG sei geregelt, wann ein Kind außerstande sei, sich selbst zu
unterhalten. Beim verfügbaren Nettoeinkommen seien auch steuerfreie Einnahmen, Renten und
Versorgungsbezüge anzusetzen. Daher sei auch eine nach § 18 ContStifG steuerfreie Einnahme des Kindes
zu berücksichtigen. Nach DA-KG A 18.6 seien die nicht nach A 18.5 bei der Ermittlung des verfügbaren
Nettoeinkommens erfassten finanziellen Mittel des behinderten Kindes als Leistungen Dritter anzusetzen,
mit Ausnahme von Unterhaltsleistungen der Personen, bei denen das Kind berücksichtigt werden könne. Als
Leistungen Dritter seien die tatsächlich gezahlten Beträge zu erfassen. Das Kind erhalte den Höchstsatz an
Conterganrente und sei danach schon augenscheinlich und ohne konkrete Berechnung in der Lage, sich
selbst zu unterhalten. Füge der Kläger seiner Berechnung die Conterganrente des Kindes hinzu, so gelange
er zum selben Ergebnis. Für die Zeit ab 1.1.2010 sei die Kindergeldfestsetzung daher im Rahmen der
Festsetzungsverjährung aufzuheben gewesen.
14 Auf alle noch offenen Fälle sei die derzeit gültige DA-KG Stand 2014 anzuwenden. Danach sei die Ablehnung
der Kindergeldfestsetzung zu Recht erfolgt.
15 Mit Schreiben vom 31.7.2015 ergänzte der Kläger, die Beklagte habe die Vorschrift des § 18 Abs. ContStifG
zu beachten. Diese gesetzliche Wertung würde ansonsten ausgehöhlt. Der Gesetzgeber habe ausweislich
der Begründung des Gesetzesentwurfs klargestellt, dass die Leistungen nach dem ContStifG als echte
Zusatzleistungen erhalten bleiben sollen (Bundestag -BT- Drucksache -Drs.- 15/5654, 13). Aufgrund dieses
Gesetzeszweckes habe der Bundesgerichtshof -BGH- in seinem Beschluss vom 16.7.2014 XII ZB 164/14
(Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - FamRZ- 2014, 1619) die Anrechenbarkeit für den
Versorgungsausgleich ausgeschlossen und entschieden, dass es trotz der mittlerweile nicht unerheblichen
Leistungen nach dem ContStifG nicht möglich sei, von der Durchführung des Versorgungsausgleichs mit der
Begründung abzusehen, dass die ausgleichsberechtigte Person bereits mit ihrer Conterganrente ausreichend
versorgt sei. Es seien keine Gründe erkennbar, wodurch sich für die Anrechenbarkeit der Conterganrente im
Rahmen des Einkommensteuerrechts etwas anderes ergeben sollte.
16 Die Beklagte antwortete, der Kläger habe nunmehr zweifelsfrei nachgewiesen, dass eine anteilige
Abzweigung des Kindergeldes an ihn ab Januar 2010 begründet sei. Entgegen seiner Auffassung sei jedoch
die DA-KG 2015 auf alle noch nicht bestandskräftigen und damit offenen Fälle anwendbar. Somit seien alle
alten Regelungen nicht mehr relevant. Die Beklagte verwies ferner auf das beim BFH anhängige
Revisionsverfahren, worin geklärt werde, ob eine Schmerzensgeldrente zu den verfügbaren finanziellen
Mitteln bei einem behinderten Kind gehöre. Da diese Rente vergleichbar mit der im vorliegenden Fall
gezahlten Conterganrente an das Kind sei, bitte sie um ein Ruhen des Verfahrens.
17 Mit Beschluss vom 21.10.2015 wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
18 Im Juni 2016 teilte die Beklagte dem Gericht mit, dass zwischenzeitlich der BFH mit Urteil vom 13. April
2016 entschieden habe, dass eine Schmerzensgeldrente bei den finanziellen Mitteln eines volljährigen
behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen sei. Im vorliegenden Fall erhalte jedoch das behinderte Kind
eine Conterganrente. Diese sei indes vergleichbar mit einer Erwerbsminderungsrente und zähle zu dem
verfügbaren Einkommen eines Kindes.
19 Sodann bat die Berichterstatterin die Beklagte ihre Rechtsauffassung zu überdenken.
20 Der Kläger teilte ergänzend mit, der Vater von Frau X. zahle laufend nach § 94 SGB XII einen begrenzten
Unterhaltsbeitrag von 54,96 EUR monatlich. Dieser Betrag habe sich ab Januar 2016 durch die
Kindergelderhöhung auf 56,76 EUR monatlich erhöht. Für ihn, den Kläger, sei es nicht nachvollziehbar,
warum die Beklagte zunächst ein Ruhen des Verfahrens mit Verweis auf das Revisionsverfahren beim BFH
und der Vergleichbarkeit der dort zu klärenden Frage, ob eine Schmerzensgeldrente zu den verfügbaren
finanziellen Mitteln eines behinderten Kindes zähle, beantrage, und jetzt nach erfolgter Entscheidung des
BFH zu dieser Frage eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall ablehne. Entgegen
den Ausführungen der Beklagten sei die Conterganrente nicht mit einer Erwerbsminderungsrente
vergleichbar. Die Leistungen nach dem ContStifG hätten als besondere Leistungen der sozialen
Entschädigung nicht die Funktion, den notwendigen Lebensunterhalt für Personen sicherzustellen, die
hierzu nicht aus eigenen Kräften und Mitteln in der Lage seien und gewähre insoweit echte
Zusatzleistungen. Insoweit seien die Leistungen nach dem ContStifG mit Schmerzensgeldzahlungen
vergleichbar, da in beiden Fällen der soziale Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund stehe
und nicht die materielle Existenzsicherung der Betroffenen.
21 Mit Beschluss vom 12.9.2016 wurde das Verfahren wieder aufgenommen.
22 Die Beklagte machte mit Schriftsatz vom 11.10.2016 geltend, § 18 ContStifG beziehe sich auf Leistungen,
die dem Kind als contergangeschädigte Person zustehe. Beim steuerlichen Kindergeld handele sich hingegen
nicht um eine Leistung des Kindes, sondern um eine steuerliche Entlastung der Eltern, die mit Unterhalt für
ein Kind belastet seien. Dies sei bei behinderten Kinder nur der Fall, wenn diese wegen körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung außerstande seien, sich selbst zu unterhalten, was bei Bezug einer
Conterganrente ggf. nicht der Fall sei, da das behinderte Kind im Stande sei, sich selbst zu unterhalten.
23 Am 9.11.2016 fand die mündliche Verhandlung statt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift vom
9.11.2016 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
24 Die Klage ist begründet.
25 Die Beklagte hat zu Unrecht die Kindergeldfestsetzung für das Kind A.X. aufgehoben. Für das Kind A.X. ist
von Januar 2013 bis Dezember 2014 Kindergeld zu gewähren und in Höhe von 129,04 EUR monatlich an
den Kläger abzuzweigen.
26 Der Kläger ist nach § 67 Abs. 2 EStG berechtigt, einen Antrag auf Kindergeld zu stellen, Denn er hat ein
berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergelds. Aus der Antragsbefugnis folgt zugleich die
Klagebefugnis in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem die Rechtmäßigkeit eines
Kindergeldablehnungsbescheids (vgl. BFH vom 5.5.2015 III R 31/13, Sammlung der Entscheidungen des BFH
-BFH/NV- 2015, 1005 -- Hinweis Dokumentar: Entscheidungsdatum: 5.2.2015 III R 31/13, BFHE 249, 144--)
bzw. einer Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung und Abzweigung streitig ist.
27 Ein Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges, behindertes Kind besteht nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 i.V.m.
32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres (alte
Fassung) eingetreten ist. Nach dem Wortlaut der Norm kommt es auch nach der Neufassung des § 32 EStG
darauf an, ob sich das Kind selbst unterhalten kann. Dem steht nicht entgegen, dass es im Übrigen nicht
mehr auf die Höhe der Einnahmen und Bezüge des Kinds ankommt (vgl. BFH vom 16.3.2015 XI B 109/14,
BFH/NV 2015, 1005; BFH vom 13.4.2016 III R 28/15, BStBl. II 2016, 648).
28 Das Kind A.X. ist zum einen zu 100 vom Hundert behindert. Die Behinderung ist vor Vollendung des 27.
Lebensjahres eingetreten. Zum anderen ist sie im Streitzeitraum Januar 2013 bis Dezember 2014 in jedem
Monat außerstande, sich selbst zu unterhalten. Die Prüfung ist für jeden einzelnen Monat durchzuführen
(BFH vom 4.11.2003 VIII R 43/02, BStBl. II 2010, 1046). Der Lebensbedarf eines behinderten Kinds besteht
aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des Existenzminimums eines Erwachsenen und
dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf (BFH vom 15.10.1999 VI R 183/97, BStBl. II 2000,
72). Erreichen die Einkünfte und Bezüge des Kindes die Summe aus Grundbedarf und
behinderungsbedingtem Mehrbedarf nicht, so kann sich das Kind nicht selbst unterhalten, so im Streitfall.
29 Der Lebensbedarf des Kinds A.X. besteht aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des
Grundfreibetrags nach § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG (BFH vom 13.4.2016 III R 28/15, BStBl. II 2016, 648)
von 8.130 EUR jährlich, also 677,50 EUR monatlich (2013), und 8.354 EUR jährlich, also 696,17 EUR
monatlich (2014), sowie dem behinderungsbedingten Mehrbedarf. Im Streitfall dient nicht der Behinderten-
Pauschbetrag nach § 33b EStG als Anhalt für den Mehrbedarf, da die behinderungsbedingten
Mehraufwendungen im Einzelnen dargelegt worden sind. Sie bestehen jedenfalls in Höhe des monatlichen
Pflegegelds zuzüglich der Eingliederungshilfe abzüglich der Tagesverpflegung zuzüglich des Kostenbeitrags
aus der Rente und des Pflegegelds und damit exemplarisch für November 2014 in Höhe von (696,17 EUR
anteiliger Grundfreibetrag + 256 EUR Pflegegeld + 5.836,29 EUR Eingliederungshilfe - 29 EUR
Tagesverpflegung =) 6.559,46 EUR. Diesem Betrag sind die kindseigenen Mittel gegenüberzustellen und
zwar in Höhe von (805,81 EUR Erwerbsunfähigkeitsrente - 66,07 EUR Beitrag Krankenversicherung - 18,53
EUR Beitrag Pflegeversicherung + 256 EUR Pflegegeld + 5.836,29 EUR Eingliederungshilfe - 733,24 EUR
Kostenbeitrag aus Rente - 256 EUR Kostenbeitrag aus Pflegegeld + Wohngeld 98 EUR - 8,50 EUR anteiliger
Pauschbetrag =) 5.913,76 EUR. Infolgedessen ist das Kind A.X. ohne Berücksichtigung der Leistungen der
Conterganstiftung -zwischen den Beteiligten unstreitig- außerstande, sich selbst zu unterhalten. Dies gilt
für alle Monate im Streitzeitraum Januar 2013 bis Dezember 2014.
30 Entgegen der Auffassung der Beklagten sind bei der Berechnung der Einkünfte und Bezüge des Kinds die
Leistungen der Conterganstiftung, monatliche Leistungen sowie Sonderzahlungen, nicht zu berücksichtigen.
Zum einen ergibt sich dies aus § 18 ContStifG. Danach bleiben bei der Ermittlung oder Anrechnung von
Einkommen, sonstigen Einnahmen und Vermögen nach anderen Gesetzen, insbesondere dem II., III., V. und
XII. SGB und dem BGB, Leistungen nach diesem Gesetz außer Betracht. Der Wortlaut der Norm
„insbesondere“ macht deutlich, dass § 18 ContStifG auch für andere als die genannten Gesetze zur
Anwendung kommen kann und damit auch für das EStG und im Kindergeldrecht.
31 Dem steht nicht entgegen, dass das Kindergeld grundsätzlich dem kindergeldberechtigten Elternteil, im
Streitfall dem Vater des Kinds, zusteht. Das Kindergeld dient dazu, die wirtschaftliche Belastung
auszugleichen, die Eltern durch die Sorge für ihre Kinder entsteht. Infolgedessen entfällt ein
Kindergeldanspruch, wenn das behinderte Kind auf elterliche Unterstützung nicht mehr angewiesen ist (BFH
vom 16.3.2015 XI B 109/14, BFH/NV 2015, 1005). Im Streitfall leistet jedoch der Vater einen
Unterhaltsbeitrag, wenn auch in geringer Höhe. Diese Zahlungen mindern die Leistungsfähigkeit des
Kindsvaters. Infolgedessen sprechen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz -GG- und Art. 6 GG für eine Auslegung des §
18 ContStifG dahin gehend, dass diese Norm auch bei der Festsetzung von Kindergeld angewandt wird. Dies
gilt auch für den Kläger, der für den Unterhalt des Kinds im Wesentlichen aufkommt.
32 Für solch eine Auslegung spricht auch § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Bundeskindergeldgesetz -BKGG-. Danach erhält
Kindergeld für sich selbst, wer Vollwaise und ein Kind i.S.d. § 2 BKGG ist. Danach könnte das Kind A.X. nach
dem Tod ihres Vaters einen Antrag auf Kindergeld für sich selbst stellen mit der Folge, dass dann unter
Beachtung von § 18 ContStifG Kindergeld festzusetzen wäre. Denn das Kind A.X. wäre nach § 2 Abs. 2 S. 1
Nr. 3 BKGG kindergeldberechtigt. Danach ist ein Kind zu berücksichtigen, das wegen körperlicher, geistiger
oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung
des 27. Lebensjahres (alte Fassung) eingetreten ist. Insoweit decken sich § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BKGG und §
32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG. Infolgedessen sollte das Tatbestandsmerkmal „außerstande, sich selbst zu
unterhalten“ aus Gründen einer gleichmäßigen Festsetzung einheitlich ausgelegt werden.
33 Zum anderen handelt es sich bei der Conterganrente sowie der Sonderzahlung um Schmerzensgeld mit der
Folge, dass die Leistungen nicht zu berücksichtigen sind, da sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts
des Kinds bestimmt oder geeignet sind (vgl. BFH vom 13.4.2016 III R 28/15, BStBl. II 2016, 648). Das
Schmerzensgeld nimmt, unabhängig davon, ob es in einem Einmalbetrag oder in Rentenform gezahlt wird,
eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten ein (vgl.
Bundesverfassungsgericht -BVerfG- vom 11.7.2006 1 BvR 293/05, Sammlung der Entscheidungen des
BVerfG -BVerfGE- 116, 229). Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG
vereinbar, dass in bestimmten Fällen Schmerzensgeld für den Lebensunterhalt eingesetzt werden soll, bevor
staatliche Leistungen gezahlt werden. Nach einer Grundsatzentscheidung des BGH hat das Schmerzensgeld
(BGH vom 6.7.1955 GSZ 1/55, Entscheidungssammlung des BGH in Zivilsachen -BGHZ- 18, 149) rechtlich
eine doppelte Funktion. Es soll einerseits dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für solche
Schäden und Lebenshemmungen bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind. Es soll aber andererseits
zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm
angetan hat, Genugtuung schuldet. Dabei steht der Entschädigung- oder Ausgleichsgedanke im
Vordergrund. Der Zweck des Anspruchs ist der Ausgleich für die erlittene Beeinträchtigung. Der BGH hat
den zugrundeliegenden Gedanken dahin formuliert, dass der Schädiger, der dem Geschädigten über den
Vermögensschaden hinaus das Leben schwer gemacht hat, nun durch seine Leistung dazu helfen soll, es ihm
im Rahmen des Möglichen wieder leichter zu machen. Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei
der Conterganrente um eine Sozialleistung zum Ausgleich von Körper- und Gesundheitsschäden. Die
Conterganrente wird „aus Entschädigungsgründen gezahlt“ (BGH vom 16.7.2014 XII ZB 164/14, FamRZ
2014, 1619).
34 Insbesondere aus der o.g. Grundsatzentscheidung des BGH leitet der BFH ab, dass Schmerzensgeld bei der
Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen ist (BFH vom
13.4.2016 III R 28/15, BStBl. II 2016, 648). Denn eine Berücksichtigung stünde in Widerspruch zur
Sonderfunktion des Schmerzensgelds, immaterielle Schäden abzumildern. Entsprechendes gilt nach Ansicht
des BFH für die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes. Denn dieses hat insoweit gerade nicht die
Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen. In diesem Sinne wird der Sonderstellung des
Schmerzensgelds auch in anderen Bereichen Rechnung getragen. So wird z.B. im Sozialrecht die
Schmerzensgeldrente nicht bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und
auch nicht im Rahmen der Sozialhilfe berücksichtigt mit der Folge, dass im Streitfall der Kläger Leistungen
an das Kind A.X. zu leisten hat.
35 Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der Senat davon überzeugt, dass es sich bei den Leistungen nach
dem ContStifG um Schmerzensgeld handelt. Denn diese Leistungen sind nicht zur Bestreitung des
Unterhalts bestimmt oder geeignet und dienen vorrangig dem Ausgleich des immateriellen Schadens (Rätke
in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 3 Nr. 68 Rn. 5; Pfirrmann in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 33a
Rn. 96).
36 Dies belegt zum einen die Historie des ContStifG. Mit diesem wurde der Schadensausgleich für die
contergangeschädigten Kinder von dem individualrechtlichen zum sozialrechtlichen Bereich hin verlagert.
Mit der Errichtung der Conterganstiftung hat der Gesetzgeber die Verpflichtung übernommen, den
Contergangeschädigten wirksame und dauerhafte Hilfen zu gewährleisten. Das Stiftungsgesetz ist dadurch
gekennzeichnet, dass es eine Gruppe von Schadensfällen dem allgemeinen privatrechtlichen
Ordnungssystem entzieht und einer gesetzlichen Sonderregelung unterstellt.Darüber hinaus soll das Gesetz
Behinderten durch Förderung anderer Maßnahmen Hilfe gewähren, um ihre Eingliederung in die Gesellschaft
zu erleichtern (so BVerfG vom 8.7.1976 1 BvL 19/75, 1 BvL 20/75 und 1 BvL 148/75, BVerfGE 42, 263).
Nach der Gesetzesbegründung handelt es sich um eine echte Zusatzleistung, die bei den Betroffenen
ankommen und zum Ausgleich der Aufwendungen für Ursprungs-, Spät- und Folgeschäden dienen soll und
daher bei der Bemessung von Unterhaltsleistungen nicht berücksichtigt werden dürfen (BT-Drs. 16/8743, 4
f.; BT-Drs. 15/5654, 13). Die Höhe der Beträge orientiert sich an den voraussichtlichen Aufwendungen. Dies
belegt die Gesetzesbegründung anlässlich der Erhöhung der Beiträge nach dem ContStifG. Denn diese
wurden „angesichts der Folge- und Spätschäden der Betroffenen“ erhöht (BT-Drs. 16/8743, 1). Der
Gesetzgeber führte u.a. aus, „erschwerend für die persönliche Situation der Betroffenen kommt hinzu, dass
sie mit zunehmendem Alter immer stärker auf kostenpflichtige außerhäusliche Hilfe angewiesen sind, da
älter werdende Familienangehörige die alltäglich erforderliche Hilfe und Unterstützung in der bisherigen Art
und Weise nicht mehr leisten können“ (BT-Drs. 16/8743, 4).
37 Zum anderen lässt der Zweck des Gesetzes den Schluss zu, dass es sich bei den Leistungen nach dem
ContStifG um Schmerzensgeld handelt. Zweck ist es u.a., Leistungen an behinderte Menschen zu erbringen
und ihnen durch die Förderung oder Durchführung von Forschungs- und Erprobungsvorhaben Hilfe zu
gewähren, um ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu unterstützen und die durch Spätfolgen
hervorgerufenen Beeinträchtigungen zu mildern (§ 2 Nr. 1 und Nr. 2 ContStifG). Als besondere Leistungen
der sozialen Entschädigung haben diese Leistungen nicht die Funktion, den notwendigen Lebensunterhalt
für Personen sicherzustellen, die hierzu nicht aus eigenen Kräften und Mitteln in der Lage sind. Sie haben
nicht in erster Linie Versorgungscharakter. Sie gewähren insoweit Zusatzleistungen
(Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- vom 19.6.2014 10 C 1/14, Sammlung der Entscheidungen des
BVerwG -BVerwGE- 150, 44). Zuwendungen nach dem ContStifG dienen der Linderung einer besonderen
Notlage, so wie das Blindengeld und andere Sozialleistungen, die für Aufwendungen infolge eines Körper-
oder Gesundheitsschadens erbracht werden (MüKoZPO/Wache, § 115 Rn. 16).
38 Für Schmerzensgeld spricht auch, dass sich die Höhe der Rente nach § 13 Abs. 2 S. 1 ContStifG nach der
Schwere des Körperschadens und den hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen richtet. Im
Streitfall erhält das Kind aufgrund der Schwere ihres Körperschadens den Höchstbetrag.
39 Sind die Leistungen nach dem ContStifG nicht zu berücksichtigen, kommt es nicht darauf an, wann die
Sonderzahlung geleistet worden ist und ob diese überhaupt als Bezug zu berücksichtigen oder als Vermögen
nicht anzusetzen ist (vgl. BFH vom 19.8.2002 VIII R 17/02, BStBl. II 2003, 88; BFH vom 19.8.2002 VIII R
51/01, BStBl. II 2003, 91).
40 Es kann infolgedessen auch dahin gestellt bleiben, ob in Höhe der monatlichen Conterganrente ein
behinderungsbedingter Mehrbedarf besteht. So deckt z.B. nach der Rechtsprechung des BFH das Blindengeld
den durch die Blindheit verursachten Mehrbedarf ab (BFH vom 5.2.2015 III R 31/13, BStBl. II 2015, 1017).
Auch die Conterganrente sowie die Sonderzahlung können (pauschalierend und typisierend) den durch die
Schädigungen durch Contergan verursachten Mehrbedarf abdecken. Nach der Gesetzesbegründung ist die
Conterganrente als Leistung iSd § 1610a BGB anzusehen und § 1610a BGB enthält die Vermutung, dass die
Person, die diese Leistungen bezieht, mindestens in deren Höhe einen entsprechenden, durch ihren Körper-
und Gesundheitsschaden bedingten Mehrbedarf hat (BT-Drs. 15/5654, 13). Die Conterganrente gehört
(nach der zivilrechtlichen Rechtsprechung) zu den Sozialleistungen, die für Aufwendungen infolge eines
Körper- oder Gesundheitsschadens gewährt werden und bei denen gemäß § 1610a BGB bei der Feststellung
eines Unterhaltsanspruches vermutet wird, dass die Kosten der Aufwendungen nicht geringer sind als die
Höhe dieser Sozialleistungen (BGH vom 16.7.2014 XII ZB 164/14, FamRZ 2014, 1619 mit Verweis auf die
zivilrechtliche Kommentierung wie z.B. Palandt/Brudermüller, BGB, § 1610a Rn. 3).
41 Mit der Aufhebung des (Aufhebungs-)Bescheids vom 30.10.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom
11.2.2015 vom 1.1.2013 bis 31.12.2014 lebt die ursprüngliche Kindergeldfestsetzung wieder auf.
42 Das für das Kind A.X. festgesetzte Kindergeld ist sodann in Höhe von 129,04 EUR an den Kläger
abzuzweigen. Nach § 74 Abs. 1 EStG hat die Beklagte bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nach
pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, ob und in welcher Höhe eine Abzweigung des Kindergelds an eine
andere Person als den Kindergeldberechtigten tatsächlich erfolgt. Nach § 74 Abs. 1 S. 4 i.V.m. S. 1 und 3
EStG kann eine Abzweigung des Kindergelds an den Kläger erfolgen, wenn der Kindsvater als
Kindergeldberechtigter seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit
nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als
das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Im Streitfall zahlt der Kindsvater als
kindergeldberechtigte Person monatlich 54,96 EUR Unterhalt. Auch geringe Unterhaltsleistungen der Eltern
sind zu berücksichtigen (Finanzgericht -FG- München vom 29.6.2015 7 K 2184/13, Juris). Der
Unterhaltsbetrag ist indes geringer als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Die
Differenz in Höhe von 129,04 EUR kann an den Kläger abgezweigt werden. Lediglich dann, wenn die
Leistungen mindestens so hoch sind wie das Kindergeld, wird eine Abzweigung nicht als ermessensgerecht
angesehen (BFH vom 23.2.2006 III R 65/04, BStBl. II 2008, 753).
43 Die Abzweigung ist zwar eine Ermessensentscheidung. Dennoch kann der Senat entscheiden. Denn zum
einen geht es der Beklagten um die Frage, ob eine gezahlte Contergan-Rente bei der Ermittlung des
verfügbaren Einkommens eines behinderten Kinds zu berücksichtigen oder als behinderungsbedingter
Mehrbedarf anzusehen ist. Hieraus schließt der Senat, dass die Beklagte grundsätzlich eine Abzweigung
vornimmt und sein Entschließungsermessen zugunsten des Klägers ausgeübt hat. Dies belegt auch die
Zusage des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 9.11.2016, für den Zeitraum 1.1.2010 bis
31.12.2012 und für Januar 2015 und Februar 2015 nach einer Neuberechnung und unter Berücksichtigung
der früheren Verwaltungsvorschriften Kindergeld an den Kläger abzuzweigen. Zum anderen ist das
Ermessen der Beklagten auf Null reduziert. Erscheint nur eine Entscheidung ermessensgerecht, so ist das
Gericht befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Beklagten zu setzen (BFH
vom 3.7.2014 III R 41/12, BFH/NV 2015, 85). Die Beklagte hat als Teil der Verwaltung das ihr zustehende
Ermessen unter Berücksichtigung ihrer Verwaltungsanweisungen auszuüben, sog. Selbstbindung der
Verwaltung nach Art. 3 GG. Unterhaltsleistungen, die nicht die Höhe des Kindergelds erreichen, sind danach
bei der Ermessensausübung zu beachten (BFH vom 23.2.2006 - III R 65/04, BStBl. II 2008, 753). Dies gilt
auch bei geringen Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten (BFH vom 3.7.2014 - III R 41/12). Der
Zweck der Regelung des § 74 Abs. 1 S. 4 EStG besteht darin, das Kindergeld an die Person oder Einrichtung
auszuzahlen, die anstelle des Kindergeldberechtigten die Kosten des Unterhaltsrechts. Trägt der Vater der
Klägerin nur einen geringen Anteil an den Kosten für den Unterhalt seiner Tochter, ist ein
Ermessensspielraum derart eingeengt, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt,
nämlich die Abzweigung des Kindergeldes anteilig an den Kläger.
44 Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte, da sie unterlegen ist (§ 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung -
FGO-).
45 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr.
11, 711 Zivilprozessordnung -ZPO-.